Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Rundbrief März 2012: Hingerichtet mitten in Europa

Liebe Freundinnen und Freunde,

liebe Interessierte - erst vor wenigen Wochen waren in Russland Wahlen. Das Ergebnis überraschte niemanden, es ist wieder Wladimir Putin, der das Land regiert. Ich war wieder als Wahlbeobachterin in Moskau und hatte ursprünglich vor, Euch in diesem Brief über meine Erlebnisse und Gespräche vor Ort und meine Einschätzungen für die Zukunft des Landes und unsere Beziehungen zu Russland zu berichten. Ich hatte auch vor, Euch über meine Reise als Berichterstatterin des Europarates in die Ukraine zu informieren. Denn dort finden ebenfalls dramatische Veränderungen statt: Die politische Justiz vernichtet all jene, die dem System Janukowitsch gefährlich werden könnten. Auch dort wird von den Herrschenden die Vertikale der Macht aufgebaut. Keine guten Nachrichten aus dem Osten also.

Doch dann erfuhr ich letztes Wochenende von der Hinrichtung von Dmitrij Konowalow und Wladisalw Kowaljow in Belarus. Per Genickschuss. Wladislaws Mutter hatte ich erst kürzlich kennengelernt. Für eine Begnadigung hatten der Kreisverband MöV und ich gemeinsam gekämpft. Ich habe noch nie einer Mutter schreiben müssen, deren Sohn in einem vollkommen willkürlichen Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Ich durfte in der heutigen Ausgabe von DIE ZEIT darüber berichten und möchte diesen Text gern mit Euch teilen:

Seit elf Monaten lebt Wladislaws Mutter Ljubow Kowaljowa, Telefonistin aus der Provinzstadt Witebsk, Weißrussland, in einem Albtraum: Ihr Sohn, Elektriker in Minsk, war von einer nächtlichen Party wegen Ruhestörung von Nachbarn angezeigt und auf die Polizeiwache gebracht worden. Nach einer Verhörnacht, bei der Wladislaw offenbar gefoltert wurde, hatte ihn Diktator Alexander Lukaschenko im Fernsehen als geständigen Mittäter des Attentats auf die Minsker U-Bahn präsentiert: Er sollte mit seinem Kumpel Dmitrij am 11. April 2011 durch einen Spreng-stoffanschlag 15 Menschen getötet und über hundert verletzt haben. Wladislaw und Dmitrij wurden zu Tode verurteilt. Am vergangenen Freitag fand Ljubow Kowaljowa einen knappen Vermerk der Staatsanwaltschaft in ihrem Briefkasten, der sie über die Hinrichtung ihres Sohnes unterrichtete. Das genaue Todesdatum und der Begräbnisort werden der Familie nicht bekannt gegeben. Nicht nur der Hingerichtete soll Opfer sein. Dieses System hält auch Strafen für die Angehörigen bereit. Sie sollen keinen Ort für würdiges Gedenken und Trauer haben.
 
Es war ein ungewöhnlich schneller Vollzug der Hinrichtung nach einem Verfahren ohne  Revision. Offenbar wollte Lukaschenko die wahren Hintergründe des Attentats verschleiern – denn nichts an dieser Geschichte ergibt Sinn. Weder war Kowaljowas Sohn je auffällig geworden, noch bewegte er sich in dunklen Kreisen. Er sollte Komplize des Elektrikers Dmitrij Konowalow sein, einem einfachen Mann aus dem Traktorenwerk in Witebsk. Dieser hatte durch das Internet eine junge Frau kennengelernt, mit der er sich in Minsk treffen wollte. Die beiden Freunde mieteten für drei Tage eine Wohnung und begannen eine große Sause. Das sollte ihnen zum Verhängnis werden.
Die Mutter von Wladislaw, Ljubow Kowaljowa, suchte trotz Drohungen durch den KGB Hilfe im Ausland. Ich traf sie im Januar in Straßburg. Eine schmale Frau, für die der Weg aus der Provinzstadt Witebsk eine Weltreise gewesen sein muss. Der ganze Körper gezeichnet von dem Schrecken, der durch Zufall in ihr Leben getreten war. Wie mancher, der sich in seiner letzten Not an den Europarat wendet, hatte sie das Gefühl, nichts mehr verlieren zu können. Als ich mich traute, sie in den Arm zu nehmen, gestattete sie sich endlich zu weinen.
Das Regime, das der Mutter über Monate hinweg nur ab und an für zehn Minuten Zugang zu ihrem Sohn gewährt hatte, bot ihr just für den Besuchstag im Europarat einen perfiden Deal an: Keine Reise nach Straßburg und du darfst deinen Sohn für drei Stunden treffen.
Ihren Sohn beschrieb sie als schon gebrochen: die Gelenke schmerzend von den ständig zu tragenden Handschellen, auch in Haft. Als sie protestieren wollte, winkte er müde ab. Es war die Geste dessen, der schon zu zermürbt ist, um sich aufzubäumen.
Der Prozess gegen die beiden jungen Männer zeigte alle Züge eines Schauprozesses. Lange Zeit fand sich kein Anwalt, der den Mut hatte, den Angeklagten zur Seite zu stehen. Die Staatsanwaltschaft präsentierte manipulierte Videos von Überwachungskameras aus der U-Bahn. Diese zeigten eine dunkle Gestalt samt Aktenkoffer mit der mutmaßlichen Bombe. Nur: Ein beim Anschlag schwer verletztes Opfer bezeugte, er habe weder den Angeklagten noch die Aktentasche am Tatort gesehen. Entlastungszeugen wurden zum Schweigen gebracht. Das gefällte Urteil stützte sich auf die Geständnisse von Angeklagten, die unter Folter erpresst worden waren. Noch im Prozess widerrief Wladislaw Kowaljow dieses Geständnis, obwohl ihm für diesen Fall vom KGB mit Erschießung gedroht worden war. Er sei geschlagen worden und die Schreie seines Freundes Dmitrij aus dem Nachbarraum hatten ihn mit Schrecken erfüllt. Der war offensichtlich während des Verhörs schwer misshandelt worden.
Als Tatmotiv präsentierte die Staatsanwaltschaft die »Destabilisierung des Landes«. Die Fabrikarbeiter Dmitrij Konowalow und Wladislaw Kowaljow waren aber während des Prozesses nicht in der Lage, zu erklären, was »Destabilisierung« überhaupt bedeutet. Die Staatsanwaltschaft nutzte die Gunst der Stunde und bereinigte gleich noch zwei unaufgeklärte Anschläge von 2005 und 2008, die den beiden zugeordnet wurden. Damit waren diese Fälle abgeschlossen. Direkt nach dem Prozessende wurden alle Beweismaterialien vernichtet.
Damit nicht genug. Frau Kowaljowa hat das »Verbrechen« begangen, die Welt von dem Justizmord an ihrem Sohn wissen zu lassen. Nun stehen Spezialeinheiten der weißrussischen Sicherheitskräfte demonstrativ und drohend vor ihrer Tür, damit sie schweigt.
Wladislaw Kowaljow und Dmitrij Konowalow sind aller Wahrscheinlichkeit nach unschuldige Opfer eines barbarischen Systems, das nach den Anschlägen auf die Minsker U-Bahn in Zeiten abnehmender Zustimmung für Lukaschenko Härte demonstrieren wollte.
Diese Härte bekommt seit Monaten vor allem die Opposition und die unabhängige Zivilgesellschaft zu spüren. Seit der Niederschlagung der Proteste gegen Wahlfälschungen am 19. Dezember 2010 werden Regimekritiker verfolgt. In Schauprozessen wurden die wichtigsten Oppositionellen zu langen Haftstrafen verurteilt. Dissidenten und kritische Journalisten dürfen nicht mehr ausreisen. Im gesamten Land hat sich eine Atmosphäre der Angst breit gemacht. Über den Gesundheitszustand der Inhaftierten dringen nur spärliche Angaben nach außen. Es muss befürchtet werden, dass hinter den Mauern der Lager an ihrer physischen und psychischen Zerstörung gearbeitet wird. Sie versuchten, einen demokratischen Frühling in Belarus herbeizuführen, und verdrängten offenbar eine bittere Tatsache.
Im Jahr 1999 und 2000 verschwanden vier Opponenten von Lukaschenko. Ihr Verschwinden ist bis zum heutige Tag nicht aufgeklärt. Der Europarat hält in einem Bericht fest, dass von der Exekution dieser vier Personen auszugehen ist. Er hält außerdem fest, dass die Spuren des Verbrechens in die höchsten Ebenen des Staatsapparats führen. Der Präsident war auch schon zu dieser Zeit Lukaschenko.
Der Westen hat derzeit keinen Zugang zum weißrussischen Regime. Seit Monaten sind die diplomatischen Kontakte eingefroren. Die EU reagierte auf die Unterdrückung der Menschenrechte mit gezielten Einreiseverboten und Kontosperrungen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarats forderte im Januar dieses Jahres die Regierungen seiner Mitgliedsstaaten auf, Sanktionen der EU gegenüber Weißrussland mitzutragen. Auch Russland ist Mitglied im Europarat. Doch die russische Regierung lehnte die Sanktionsempfehlungen mit der Begründung ab, sie würden die Einflussmöglichkeiten auf Weißrussland verschließen. Diese Argumentation könnte überzeugen, wenn Russland etwas unternommen hätte, um die Hinrichtungen dieser beiden Männer zu verhindern. Lukaschenko ist abhängig von Russland. Ein Anruf aus dem Kreml hätte die Hinrichtungen verhindern können.
Stattdessen unterläuft die russische Regierung die westlichen Sanktionen gegen das Minsker Regime und zieht – wie mit dem Erwerb der Gaspipeline – aus Lukaschenkos Schwäche wirtschaftlichen Nutzen.

Es ist schwer, politische Ohnmacht zu ertragen. Manches Mal muss es genügen, zunächst nur die Wahrheit zu benennen und damit die Würde der Opfer wieder herzustellen. Für Ljubow Kowaljowa haben wir derzeit nur einen Trost: Wir werden nicht zulassen, dass das Verbrechen an ihrem Sohn in Vergessenheit gerät.

Eure
Marie

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