Lange Bärte, Wollröcke, Latzhosen: Als die ersten Grünen 1983 in den Bundestag einzogen, war es, als kämen sie von einem anderen Stern. Die Bürgerschrecks wollten die Welt retten, es gab keine Hierarchien - aber durchaus Größenwahn. Die damalige Fraktionschefin Marieluise Beck erinnert sich.
Am 6. März 1983 gaben mehr als zwei Millionen Menschen der neuen Partei Die Grünen ihre Stimme und lösten damit im politischen Bonn helles Entsetzen aus. Man hatte sich im Dreiparteiensystem von CDU/SPD/FDP gut eingerichtet. Die eingespielte Behäbigkeit der Bonner Republik wurde durch den Wahlausgang empfindlich gestört.
Die Vertreter der "Antiparteienpartei", die sich als Repräsentanten unterschiedlichster Bewegungen begriffen, waren ein wildes Völkchen, zumindest in den Augen der Parlamentarier in den grauen Anzügen. Mit dem Einzug der ersten Fraktion aus 27 Mitgliedern trafen Welten aufeinander. Dies war der erste "clash of civilizations" in der zum Plenarsaal umgewidmeten Pädagogischen Akademie in Bonn. Bärtige Männer mit langen Haaren und dicken Pullovern, wollberockte Frauen im Alternativ-Look, Bürgerschrecks allesamt - jede und jeder für sich eine grobe Verletzung der ungeschriebenen Parlamentsregularien. Und das sollte das Parlament nun vier Jahre aushalten!
Der Kampf gegen die Prüderie der Eltern, der Aufbruch der Frauen, das neue Selbstbewusstsein der Schwulen und Lesben, der Widerstand gegen Atomenergie und atomare Aufrüstung, das Gefühl von der Verletzlichkeit der Natur hatten eine kritische Masse erzeugt. Was bisher außen vor geblieben war, betrat nun mit den Grünen die politische Bühne. Und eine Bühne war es in der Tat - die Grünen hatten sich der Transparenz verschrieben. Nichts sollte verborgen bleiben, alles sollte öffentlich sein.
Und so wurde die geneigte Republik Zeuge eines mehr oder weniger produktiven Chaos - eine Bewegung wurde zur Fraktion. Im sogenannten HT 12 - einem eilig umgebauten Raum im Verwaltungstrakt des deutschen Bundestags - tagten wir ad infinitum. Da gab es keine Steuerung, die konkurrierende Ansprüche austarierte, keine Hierarchie, die Disziplin herstellte. Die Konstituierung der Fraktion zog sich über Wochen hin, von 14 Uhr bis in die Nacht hinein. Zäh wurde um heiß begehrte Ausschusssitze gekämpft, vor allem um Verteidigung und Umwelt - es ging um nichts weniger als die Welt zu retten. Zögerlich nur die Bereitschaft, sich mit Haushalt und Finanzen abzugeben.
In den wenigen Büros, die eilig mit Telefon und Schreibtisch ausgestattet worden waren, stapelte sich die Post. Merke: Wir befanden uns in computerlosen Zeiten! Joschka Fischer hatte einen Frankfurter Sponti mitgebracht, der bediente mit rauem Charme das Telefon. Hunderte von Bewerbungen trudelten ein. Bürger trugen ihre Anliegen vor, von konkreten Problemen bis zu den skurrilsten Vorschlägen, wie die Republik neu zu ordnen sei. Dazu Glückwünsche aus aller Welt. Die "Basis" meldete ihre Ansprüche an. Man erwartete sichtbare "Widerstandsaktionen". Es war der ganz normale Wahnsinn. Wie dieses Chaos geordnet wurde, ich weiß es nicht mehr. Einige wenige Erfahrene stießen zu uns - eine Mitarbeiterin aus einem CSU-Büro, ein Angestellter aus der Verwaltung, der sich als Grüner outete.
Der frisch gewählte Fraktionsvorstand, Petra Kelly, Otto Schily und ich selbst, ergänzt um Joschka Fischer als Parlamentarischem Geschäftsführer, besiedelte die fünfte Etage. Das waren keine feinen Vorstandszimmer - kein "Fräulein Müller, zum Diktat". Der einzige, der je ein Vorzimmer besessen hatte, war vermutlich der Anwalt Otto Schily. Die Pressestelle bewältigte den Ansturm der Medienanfragen mit grandioser Umtriebigkeit. Es fanden sich kluge Köpfe, die das Knäuel des parlamentarischen Systems zu entwirren vermochten. Die Geschäftsordnung des Bundestags wurde auf Sollbruchstellen abgeklopft, wie eine kleine Fraktion von Newcomern neue Aktionsmöglichkeiten finden könnte. Eine Vizepräsidentin wurde aufgestellt, obwohl es keinerlei Chance auf eine grüne Vertretung im Präsidium gab. Emsigkeit, Fleiß, Neugier, helle Köpfe und immer eine kleine Portion Größenwahn - es war eine geniale Mischung, die da zusammengekommen war und sich auf den Weg in das Parlament machte.
Cool blieben nur die, die aus den kommunistischen Gruppen kamen, wie etwa Jürgen Reents. Ihnen war der emotionale Überschwang fremd, sie konnten mit den aufgeregten Weltrettern nicht viel anfangen. Einer aus der bunten Reihe kam sogar mit einem speziellen Auftrag: IM Dirk Schneider sollte das grüne Projekt im Sinne der DDR steuern. Mancher ausgebuffte Linke hatte das früh gemutmaßt - die ganze Wahrheit offenbarte sich erst nach dem Fall der Mauer.
Der Einzug in das Plenum des Bundestags war ein symbolträchtiges Spektakel. Petra Kelly, mit der ihr eigenen Beharrlichkeit, hatte für globale Vernetzung gesorgt. Gäste aus aller Welt wurden eingeflogen. Indigene aus Nordamerika, Friedensaktivisten aus den USA und Großbritannien, Anti-Atom-Kämpferinnen aus dem Elsass. Die Abgeordneten rollten eine große Weltkugel vor sicher her. Dahinter marschierten die Küchenbrigade von der Startbahn West, Baumschützer, Daimler-Benz-Teststreckengegner, Gorleben-Aktivisten - das war das andere Deutschland, das war eine Gesellschaft im Umbruch. Über allem lag ein gewisser Überschuss: Überschuss an Selbstgewissheit, an historischer Mission, an Weltrettung. Aber dieser Überschuss erzeugte Energie. Die Fraktion war Brennspiegel und Kraftzentrum eines Aufbruchs, der aus der Gesellschaft kam. 30 Jahre später hat die Republik ihr Gesicht verändert.
Heute laboriert eine bürgerlich-konservative Regierung an der grünen Energiewende. Der Atomausstieg ist beschlossene Sache. Das Bundesverfassungsgericht mahnt zur Gleichstellung von schwul-lesbischen Partnerschaften. Die Regierung wird von einer Kanzlerin geführt. Die CDU leistet sich schwule Bürgermeister. Der Außenminister zeigt sich auf offiziellen Empfängen mit seinem Lebenspartner. Der Kampf um die Abtreibung ist befriedet - junge Frauen kennen den Paragrafen 218 nicht mehr. Die allgemeine Wehrpflicht ist abgeschafft. Eine konservative Integrationsstaatsministerin versucht sich an der Einwanderungsgesellschaft. Trotz aller Irrungen und Wirrungen: eine famose Bilanz. Dieser Gastbeitrag von Marieluise Beck ist am 06. März 2013 bei Spiegel Online erschienen und hier abrufbar.