Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Plenarrede zur historischen Verantwortung für die Ukraine

Am 19. Mai 2017 debattierte der Deutsche Bundestag in erster Lesung den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen "Historische Verantwortung Deutschlands für die Ukraine". Trotz monatelanger Verhandlungen konnten sich die Koalitionsfraktionen bislang nicht zu einer gleichlautenden interfraktionellen Intitiative durchringen. In der Debatte wurde gleichwohl deutlich, dass die weit überwiegende Anzahl der Redner in der Debatte das Anliegen des grünen Antrags inhaltlich unterstützt und die historische Verantwortung Deutschlands ernst nehmen wollen. Nun bleiben es, die Ausschussberatungen zum Antrag abzuwarten, um noch mögliche interfraktionelle Einigungen zu erreichen.

Sehen Sie hier das Video des Redebeitrags von Marieluise Beck.

Lesen Sie hier den Redetext nach:

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich freut, dass so viele mittel- und osteuropäische Vertretungen an dieser Debatte teilnehmen; denn wir führen hier eine europäische Debatte.

In diesem März wurde die deutsch-ukrainische Schriftstellerin Natascha Wodin mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Natascha Wodins Eltern wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt. Ihre Mutter beging Selbstmord. Die Mutter kam, wie Natascha Wodin heute weiß, aus Mariupol. Auch wer in Yad Vashem in das Kindermausoleum geht, begegnet der Ukraine. Von den unzähligen jüdischen Kindern, deren Namen dort verlesen werden, stammt ein großer Teil aus der Ukraine.

Der Angriff auf Polen am 1. September 1939 und der deutsche Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion gehören zum politischen Gedächtnis Deutschlands. Doch es war nicht nur das heutige Russland, das diesen Vernichtungskrieg erlitten hat. Die Territorien, auf denen sich dieser Vernichtungskrieg abgespielt hat, heißen heute Polen, Litauen, Lettland, Estland, Belarus, Russland und eben auch Ukraine. In diesen Gebieten fanden die Ausmerzung der jüdischen Bevölkerung und der gnadenlose Krieg gegen die slawische Zivilbevölkerung statt.

Timothy Snyder zeigt uns in seinem Bloodlands, dass es diese Territorien zwischen Berlin und Moskau waren, die unter dem totalitären Wahn des 20. Jahrhunderts besonders zu leiden hatten. Seit 1941 wüteten Wehrmacht und SS unter der jüdischen und slawischen Bevölkerung, die zuvor schon den Bürgerkrieg, den Holodomor und Stalins Terror erlitten hatte. In der Roten Armee kämpften unter anderem Millionen ukrainische Soldaten. Sie spielten eine maßgebliche Rolle bei der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz.

Die Kreml-Propaganda erweckt heute systematisch den Eindruck, der deutsche Angriffskrieg sei allein gegen Russland geführt worden. Mehr noch: Die Ukraine wird in dieser Lesart vom Opfer des Vernichtungskrieges pauschal zum Nazikollaborateur umgedeutet. Als vor drei Jahren Millionen von Ukrainern für Unabhängigkeit und Freiheit auf die Straße gingen, wurde insinuiert, diese Proteste seien stark getrieben von Bandera-Faschisten und Antisemiten. Leider traf das auch bei uns in Deutschland auf fruchtbaren Boden.

Der Respekt vor den Millionen Opfern in den Zwischenländern verlangt von uns einen neuen Blick auf diesen Teil der Geschichte. Dazu gehört auch die Tatsache, dass mit dem Hitler-Stalin-Pakt die beiden totalitären Systeme für lange Zeit halbe-halbe machten, ganz in der Tradition der monarchischen Imperien in Jahrhunderten zuvor; wir alle haben in der Schule etwas von den polnischen Teilungen gehört. Diese Erfahrung ist tief im kollektiven Gedächtnis Polens und der baltischen Republiken verankert. Deshalb reagieren sie bis heute allergisch auf jede Neuauflage einer Achse Berlin–Moskau.

Historische Verantwortung ist nicht gleichzusetzen mit Schuld. Aber Scham über das, was der deutsche Stiefel auf ukrainischem Boden angerichtet hat, sollten wir empfinden.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Wenn Geschichte etwas bedeutet, dann die Verpflichtung, der Ukraine heute in ihrem Streben nach Freiheit und Würde zur Seite zu stehen. Ja, wir haben auch eine historische Bürde gegenüber Russland abzutragen. Es kann hier nicht darum gehen, das eine gegen das andere auszuspielen. Dennoch dürfen die Zwischenländer nicht erneut zur Verhandlungsmasse mit dem Kreml gemacht werden, schon gar nicht aus Berlin.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)

In Jalta wurde Europa gegen den Willen der Osteuropäer geteilt. Europa endet aber nicht an den Grenzen des Baltikums und Polens. Die Mittel-Osteuropäer zahlten für diesen Weltkrieg mit ihrer Freiheit. Sie zählen zu Recht auf unsere Unterstützung, wenn sie dem freiheitlichen Europa angehören wollen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)

Noch ein Wort zur Ukraine, weil ich weiß, dass hier die Frage aufgeworfen wird: Warum dieser Schwerpunkt auf die Ukraine? Wenn ich die Ukraine so hervorhebe, dann weil es das einzige Land in diesen Bloodlands ist, in dem gegenwärtig Krieg geführt wird. Auf der Tribüne sitzen Frauen und Mütter von Soldaten, die im Donbass verschwunden sind.

Nicht nur der Vernichtungskrieg tobte auf dem Boden der Zwischenländer; es gab auch die systematische Verschleppung von Menschen als Zwangsarbeiter. Das traf besonders die Ukraine. Historiker gehen davon aus, dass zwei Drittel der sogenannten Ostarbeiter aus der Ukraine stammten. Sie haben bei unseren Großeltern und Eltern auf Bauernhöfen, in Familienbetrieben, in Fabriken gearbeitet, oft unter entsetzlichen Bedingungen. Es ist an der Zeit, auch diesen Teil der Geschichte in den Blick zu nehmen. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag diese Debatte weiter verfolgen wird, dass es nicht die erste und letzte war.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)

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