Rede von Marieluise Beck anlässlich der Verleihung des AJC Ramer Award am 12. April 2016 in Berlin:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mit großem Respekt und Dankbarkeit nehme ich diesen Preis entgegen.
Respekt, weil Lawrence und Lee Ramer sich als kulturelle Brückenbauer so verdient gemacht haben um die deutsch-jüdischen Beziehungen. Lawrence Ramer war überzeugt, dass sich Deutschland nach dem Fall der Berliner Mauer zu einem weltoffenen und friedliebenden Staat entwickeln würde. Für einen solch optimistischen Blick auf Deutschland sollten wir dankbar sein. Vielen Dank, Frau Ramer.
Das AJC-Büro in Berlin spielt eine unverzichtbare Rolle in den Bemühungen, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Für die Bewahrung unserer offenen und demokratischen Gesellschaft ist es wesentlich, das Bewusstsein für alte und neue Formen des Antisemitismus zu schärfen, junge Menschen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen zusammenzubringen und die deutsch-israelische Aussöhnung voranzubringen. Deidre Berger spielt eine herausragende Rolle in diesen Bemühungen nicht zuletzt wegen ihres feinen Gespürs dafür, die richtigen Leute zusammen bringen zu können. Der Konferenzraum im Mosse-Palais ist ein wunderbarer Ort für lebhafte Debatten und intellektuellen Austausch.
Respekt und Dankbarkeit, weil dieser Preis viele Facetten meines politischen Lebens einfängt. 35 Jahre in der Politik ohne Irrungen und Wirrungen kann es wohl kaum geben. Über diese Irrungen und Wirrungen, über dieses Lernen durch die Konfrontation mit der Realität möchte ich sprechen.
Ich stamme aus einer typisch deutschen Familie. Meine Eltern waren protestantisch, bildungsbürgerlich und Mitläufer im Nationalsozialismus. Ich wurde erst nach dem Krieg als siebtes Kind geboren – da hatte sich bereits das große Schweigen über die Zeit des Nationalsozialismus ausgebreitet. Aber selbst das Unausgesprochene wirkt in den Familien fort. Und so verstehe ich mein Leben auch als den Versuch einer generationenübergreifenden Wiedergutmachung. Deshalb ist es sicherlich auch kein Zufall, dass mich die Freundschaft mit einem Überlebenden der Shoah in die Politik führte.
Irrungen und Wirrungen
Die Grünen wurden Anfang der '80er Jahre stark durch die Losung „Nie wieder Krieg“. Der Pazifismus schien die ethisch einzig mögliche Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus zu sein. Dass die Anti-Pershing-Kampagne, in der sich dieser Glaube manifestierte, nur in Teilen pazifistisch und in anderen Teilen eine durchaus zwiespältige Protestbewegung gegen die USA und die NATO war, habe ich zu jener Zeit nicht durchschaut.
Erst die Kriege im zerfallenden Jugoslawien stießen mich mit Wucht auf die Erkenntnis, dass der Pazifismus mitnichten die einzig legitime Antwort auf die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus sein kann. Denn neben das „Nie wieder Krieg“ muss das „Nie wieder Völkermord“ gestellt werden. Und letzteres fordert uns auf, die Perspektive der Opfer einzunehmen und uns aktiv gegen die Täter zu stellen.
Es waren die Menschen in den eingeschlossenen Städten Bosniens, die mich fragten, wann wir ihnen, den Unbewaffneten, endlich Schutz gewähren würden. Sie stellten zurecht die Frage, welcher Ethik der Westen folgte, wenn er zwar Blauhelme schickte, diesen aber nicht das Mandat erteilte, die Verfolgten zu schützen. Mehr als drei Jahre sah die Welt dem Morden zu. Die Staatengemeinschaft entschloss sich erst zum Handeln, als in Srebrenica 8.000 Männer aus den Händen von UNO-Soldaten entführt und ermordet wurden.
Der Schriftsteller Peter Schneider war es, der in diesem Zusammenhang an die deutsche Linke eine unangenehme Frage richtete: Wie kommt Ihr dazu, jeglichen Einsatz von Waffen als illegitim zu bezeichnen, wo doch die Polen, die Franzosen, die Briten, die Belgier, die Amerikaner und die Sowjets sich nur mit Waffengewalt gegen die deutsche Aggression wehren konnten? Peter Schneider wies darauf hin, dass sich damit mancher Linke an der Seite seines nationalsozialistischen (Täter-)Vaters wiederfand, wenn er die militärische Gegenwehr der antifaschistischen Koalition auf eine Stufe mit der Gewalt des NS setzte.
Es ist kein Zufall, dass der polnische Jude Marek Edelman laut und deutlich nach dem militärischen Schutz der bedrängten Bosniaken rief. Tadeusz Mazowiecki legte aus Protest gegen das ignorante Wegsehen des Westens sein Mandat als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen nieder.
Das Drama von Bosnien lehrte mich, dass eine gewaltsame Aggression anders zu werten ist, als der Einsatz von Gewalt zur Abwehr einer Aggression. Wenn, wie in Bosnien, die Staatengemeinschaft einem bedrängten Volk etwa durch ein Waffenembargo das Recht auf Selbstverteidigung abspricht, dann hat sie die Verpflichtung, dessen Schutz zu gewähren. Der Grundsatz des „responsibility to protect“ gehört zu einer ethisch geleiteten Politik. Auch wenn das den Einsatz von militärischer Gewalt erfordert. Es gibt eine Verpflichtung, genozidaler Gewalt in den Arm zu fallen, notfalls auch mit Waffen. Auch das ist eine Konsequenz aus dem mörderischen 20. Jahrhundert.
Empathie für die Ukraine
Ein anderer großer Lernprozess war für mich die Revolution auf dem Majdan. Solange der Majdan bunte und fröhliche Bilder lieferte, gab es viel Sympathie für die, die von sich sagten „Wir wollen nach Europa“ - und damit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit einforderten.
Doch der Blick auf die Ukraine trübte sich schnell. Die aus Moskau gesteuerte Kampagne, der Majdan sei von rechts unterwandert, antisemitisch und durchsetzt von „Faschisten“, traf in Deutschland auf viel Resonanz. Und so gelang es der russischen Propaganda, Schritt für Schritt eine klare Haltung zum ukrainischen Freiheitskampf zu verwischen.
Nicht einmal ganz offensichtliche Unwahrheiten wurden vom Westen deutlich zurückgewiesen. Lange konnte der Kreml behaupten, es gäbe keine russischen Soldaten auf ukrainischem Boden – bis der russische Präsident selbst sich der Heldentaten seiner Soldaten bei der Übernahme der Krim brüstete. Bis heute wird lieber von der „Krise“ im Donbass gesprochen, als von einem unerklärten Krieg gegen die Ukraine. Und die Aufforderung, dass beide Seiten an den Verhandlungstisch zurückkehren müssten, insinuiert eine gleichermaßen verteilte Verantwortung für diesen Konflikt.
Hannah Arendt hätte uns darauf hingewiesen, dass man zwar politisch unterschiedlicher Meinung sein kann, es aber unbestreitbare Tatsachenwahrheiten gibt. Nicht die Ukraine hat Russland angegriffen, sondern Russland die Ukraine. Diese Tatsache geht im öffentlichen Raum zunehmend verloren.
Deutschland spielt in dieser Frage eine zentrale Rolle. Die Akteure in Moskau scheinen die deutsche Befindlichkeit besser zu kennen, als wir uns selber. So war es zunächst die Linke, die die russische Propaganda in den politischen und öffentlichen Raum in Deutschland getragen hat. Heute tut das wie in anderen Ländern Europas mit Front National, Ukip und Jobbik auch in Deutschland die politische Rechte, namentlich die AfD. Das ist nur verständlich, wenn man die tiefsitzenden Unterströmungen in namhaften Teilen der deutschen Gesellschaft identifiziert: Antikapitalismus (dazu gehören die Ressentiments gegen die USA und Israel), Antiparlamentarismus und Antiliberalismus. Alle drei Strömungen werden von Rechts und Links geteilt. Damit wird die Politik des Kremls auch bei uns anschlussfähig. Die antiliberale Haltung von Präsident Putin, die Homophobie, der heroische Nationalismus, das konservative Familienbild, das Zusammengehen mit der orthodoxen Kirche bergen Angebote an die antimodernen Kräfte, deren Resonanzboden in Deutschland offenbar stärker ist, als wir gedacht haben.
Haltung für Europa und den Westen
Im Zusammenhang mit den antimodernen Kräften müssen wir auch über den weiterhin in Deutschland vorhandenen Antisemitismus sprechen. Jenseits des religiös grundierten Antijudaismus – wir stehen vor dem Lutherjahr und wissen um dessen Wüten gegen die Juden – spielt der Antikapitalismus eine bedeutende Rolle als geistiger Nährboden für den Antisemitismus. Der Kapitalismus steht für das Transnationale und Kosmopolitische, mit dem die jüdische Kultur der Diaspora identifiziert wurde. Das gilt auch für die Gleichsetzung von Geldherrschaft und Judentum. Dazu kam die Verdammung Israels als Speerspitze des sogenannten „westlichen Imperialismus“. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die den Antifaschismus reklamierende DDR Israel niemals anerkannte. Das weit verbreitete Gefühl in der Linken, sie sei, weil antifaschistisch, damit quasi genetisch vor dem Antisemitismus geschützt, ist ein Irrtum. Deshalb müssen wir uns bewusst machen, dass Antisemitismus nicht nur ein Problem von rechten Parteien sondern häufig auch in linken Parteien und Gruppierungen ist.
Wenn wir den tiefen Wunsch nach deutsch-russischer Verbundenheit verstehen wollen, sind die Gründe hierfür im Bereich von Kultur und Identität zu suchen. Deutschland und Russland – das ist die vermeintliche Seelenverwandtschaft von deutscher Innerlichkeit und tiefer russischer Seele – Goethe und Dostojewski – als Gegenpol zum vermeintlich oberflächlichen amerikanischen Materialismus.
Die Auseinandersetzung um die Ukraine hält uns in Deutschland einen Spiegel vor, in dem wir alle diese Momente entdecken können, wenn wir bereit sind, hinzuschauen. Doch wir beginnen sehr zögerlich zu begreifen, wie stark die langen Linien des antiwestlichen Denkens in Deutschland nach wie vor fortwirken. Richard Herzinger hat all dies beeindruckender Weise bereits vor 20 Jahren erkannt und analysiert.
Es war der große jüdisch-amerikanische Historiker Timothy Snyder, der uns aufgetragen hat, sich endlich der Tatsache zu stellen, dass die deutsche Vernichtung im Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen in den Zwischenländern, also in den Ländern zwischen Berlin und Moskau stattgefunden hat. Er hat auf die Verwüstungen hingewiesen, die beide totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts mit dem Hitler-Stalin-Pakt in diesen Zwischenländern angerichtet haben, namentlich auf dem Territorium Polens, der Ukraine und Weißrusslands. Das relativiert nicht die deutsche Verantwortung für das Grauen des Zweiten Weltkriegs. Es relativiert auch nicht die Verantwortung für die Shoah. Aber es sollte gerade uns in Deutschland bewusst machen, dass wir gegenüber der Ukraine, dem Land, das jetzt für seine Freiheit und eine europäische Zukunft kämpft, eine große historische Verantwortung haben.
Die fehlende Empathie gegenüber der Ukraine, der tief sitzende Wunsch nach Bruderschaft mit Russland, hat bei mir das Gefühl wachsen lassen, dass Deutschland in eine nächste Runde der historischen Aufarbeitung gehen muss.
Das gilt im Übrigen auch für die Europäische Union. Wer eine Neuaufteilung Europas in eine westliche und eine östliche, von Russland dominierte Sphäre akzeptiert, schreibt die in Jalta verhandelte Teilung Europas fort. Nicht das postimperiale Deutschland und das neoimperiale Russland sind die geborenen Partner in Europa. Europa bedeutet auch den Osten in seiner gesamten Vielfalt, zu der maßgeblich das beinahe ausgemerzte jüdische Leben gehörte. Wir werden erst dann von „Europa“ sprechen können, wenn wir verstehen, dass gerade die kleineren Nationen, denen in vielen historischen Verirrungen und Schicksalsschlägen ihre Eigenständigkeit abgesprochen wurde, als Teil der europäischen Vielfalt von uns respektiert werden.
Kategorie: