Am 27. April 2017 debattierte der Deutsche Bundestag in zweiter und dritter Lesung einen Anrag der Fraktion DIE LINKE für eine "Neue Ostpolitik". Im Anschluss an die Debatte wurde der Antrag der Linken mit den Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt.
Sehen Sie hier das Video von der Rede von Marieluise Beck in der Debatte:
Lesen Sie hier den Redetext nach:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dem, was der Kollege Erler zur Ehrenrettung der neuen Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr gesagt hat, ist nur wenig hinzuzufügen. Ich möchte nur eines noch einmal betonen: Narrative sind das eine. Es gibt aber auch Tatsachenwahrheiten, wie uns Hannah Arendt immer wieder gesagt hat. Es geht hier auch um Tatsachenwahrheiten, und diese sind klar zu benennen, gerade wenn wir in den schwierigen Dialog mit dem russischen Gegenüber treten.
Dazu gehört, zu sagen, dass die europäische Friedensordnung durch die russische Annexion der Krim sowie die Aggression Russlands im Donbass und die tätige Unterstützung der Rebellen dort in der Tat infrage gestellt, wenn nicht sogar zerstört worden ist; das wissen wir noch nicht genau. Ich sage den Kollegen von der Linken noch einmal: Diese europäische Friedensordnung ist sogar von dem ZK-Generalsekretär Breschnew mitgestaltet worden. Damals war die Situation also in dieser Hinsicht besser als das, was wir heute erleben.
Insofern handelt es sich um eine Propagandafigur, Herr Gehrcke, wenn Sie von Sprachlosigkeit reden. Das ist ein Mythos. Es gibt Städtepartnerschaften, den Petersburger Dialog sowie Zusammentreffen auf kultureller Ebene und in der Wissenschaft. Es gibt also einen ständigen Austausch. Das Problem ist aber die Weigerung Russlands – auch vonseiten der Duma-Kollegen –, in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit uns zu treten. Das erleben wir – ich sage das noch einmal – auch in der parlamentarischen Arbeit des Europarats, obwohl dort alle unsere russischen Kollegen Zugangsrechte haben und nicht durch irgendwelche Reisebeschränkungen gehindert werden. Aber sie stellen sich dieser Auseinandersetzung schlichtweg nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Aber das Stimmrecht ist ihnen genommen worden!)
Ich möchte eine, wie ich finde, sehr ehrliche Aussage eines hohen Beamten des Auswärtigen Amts zu Beginn der Ukraine-Krise zitieren: Wir haben verstanden, dass sich mit dieser Aggression die Ausgangslage für jede Politik gegenüber Russland dramatisch verändert hat. Wir wissen nur noch nicht, wie wir auf diese Veränderung strategisch und klug antworten sollen. Die Modernisierungspartnerschaft, die in diesem Haus gewollt war, ist ja von russischer Seite aufgekündigt worden. Eines ist aber jedenfalls klar: Rezepte aus den 80er-Jahren werden keine Antworten auf heutige Herausforderungen liefern. Wer nach neuen Strategien sucht, Herr Gehrcke, der muss auch einen klaren Blick auf die Realitäten im heutigen Russland zulassen.
Nicht nur die Annexion der Krim überschreitet die rote Linie der europäischen Friedensordnung, auch die innere Verfasstheit von Russland nach 17 Jahren Putin hat sich dramatisch verändert. Sie haben eben eine Wertedebatte eingeklagt. Ich will Ihnen konkrete Beispiele nennen. In Tschetschenien werden seit Wochen Homosexuelle brutal verfolgt. Mehr als 100 Menschen wurden festgenommen und offenbar in Geheimgefängnissen gefoltert. Mindestens drei Menschen sollen ermordet worden sein. Die Journalistinnen Elena Milaschina und Irina Gordijenko von Nowaja Gaseta werden nach ihrer Berichterstattung über diese Ereignisse mit massiven Drohungen durch die politische und religiöse Führung von Tschetschenien überzogen. Sie mussten aus Moskau fliehen. Ich denke mit Sorge an die Ermordung von Anna Politkowskaja, deren Spuren in eben dieses Tschetschenien führen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])
Es ist Präsident Putin, der Ramzan Kadyrow als seinen Statthalter eingesetzt hat und damit auch für dessen Taten die politische Verantwortung trägt. Ich sage an die Adresse der Bundesregierung: Diese Zustandsbeschreibung aus Tschetschenien muss die Bundesregierung bei Auslieferungsgesuchen aus der Russischen Föderation berücksichtigen. Die staatlich gelenkten russischen Medien schaffen seit Jahren ein Klima des Hasses gegen Schwule, Lesben und all jene, die dem Geschlechterbild der orthodoxen Kirche nicht entsprechen. Das passt nicht zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Nicht nur in der Ukraine führt Russlands Politik zur Destabilisierung. Mit seinem Veto zu acht Resolutionen zu Syrien hat Russland diplomatischen Lösungen der internationalen Gemeinschaft den Weg verstellt.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Frau Beck, lassen Sie noch eine Zwischenfrage zu?
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Herr Neu.
Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Kollegin Beck, als Obmann der Linksfraktion im Verteidigungsausschuss habe ich schon zu Anfang der Legislaturperiode in der Obleuterunde darum gebeten, dass der Verteidigungsausschuss doch eine Delegationsreise nach Russland machen möge, um die dortigen Duma-Kollegen zu treffen. Das wurde mit einem Lächeln abgelehnt: Wir fahren nicht nach Russland. – Das war noch vor der Krise. Wie viele Anfragen haben Sie eigentlich in der Obleuterunde gemacht, ob der Auswärtige Ausschuss sich mit den russischen Kollegen des Auswärtigen Ausschusses in Moskau treffen möge?
Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es hat bei uns keine Debatte gegeben, keine Reise nach Russland zu unternehmen.
(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie oft sind wir gefahren?) Herr Kollege, erinnere ich mich richtig?
(Zuruf des Abg. Jürgen Hardt [CDU/CSU])
Ich möchte nichts Falsches sagen. Ich nehme seit vier Jahren am Obleutegespräch teil, aber ich kann mich daran nicht erinnern. Ich würde darum bitten, dass das von den Kollegen klar und in der Sache richtig – darauf haben Sie ein Recht – beantwortet wird. – Ich höre, dass das gleich von den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion geklärt werden wird. Ich habe über die Reise des EU-Ausschusses gesprochen. Da bin ich in der Tat nicht mitgefahren, weil letztlich keine politischen Termine mit den Kollegen in der Duma zustande gekommen sind. Das zu dieser Frage.
Noch einmal kurz zu Syrien: Auch die unabhängige Untersuchung des Giftgasangriffs bei Idlib wurde durch Russland verhindert. Noch schlimmer: Man muss davon ausgehen, dass die Giftgasangriffe, die Fassbomben und der gezielte Krieg gegen die Zivilbevölkerung durch Assad nur möglich waren, weil Russland dessen politisches und militärisches Überleben gesichert hat. Der Kreml kann der russischen Bevölkerung keine Perspektiven bieten. Stattdessen sichert sich Putin die Macht durch überschwänglichen Nationalismus und imperiale Fantasien. Aber offenbar lässt die Korruptheit in der Führung die jungen Menschen in Russland nicht mehr unberührt, wie die jüngsten Demonstrationen gezeigt haben.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wer wie Sie, Herr Gehrcke und Herr Hunko – beide sind da –, über dieses Moskau in den besetzen Donbass fährt, gerät in gefährliche Nähe zu Marine Le Pen und Frauke Petry.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
Das wird in der Tat hier im Hause mit Sicherheit nicht der Maßstab für eine neue Ostpolitik sein. Schönen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn: Jetzt hat der Kollege Hardt noch die Möglichkeit zu einer Kurzintervention, um die Frage von eben zu klären und den Sachverhalt darzustellen.
Jürgen Hardt (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als außenpolitischer Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion feststellen, dass wir im letzten Jahr über Monate versucht haben, eine Reise der Obleute des Auswärtigen Ausschusses nach Moskau zu organisieren.
(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!)
Wir haben leider keine positiven Antworten aus Moskau bezüglich eines Termins bekommen. Das ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass wir geplant hatten, diese Reise mit einer Reise nach Kiew zu verbinden. Wir hatten ein wenig das Gefühl, dass das vielleicht der Grund sein könnte, warum unsere russischen Kollegen keine Lust hatten, uns zu sehen.