Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Brief afghanischer Frauen zum ISAF-Mandat der Bundeswehr

Anlässlich der Abstimmung des Bundestags am 3. Dezember 2009 über die Verlängerung des Einsatzmandats der Bundewehr in Afghanistan verfassten neun prominente afghanische Frauen einen offenen Brief an die Mitglieder des Bundestags. Hierin kritisieren sie die bisher gemachten Fehler beim Aufbau des Landes und geben ihrer Sorge über vermehrte Forderungen in Deutschland nach einem schnellen Abzug deutscher Truppen aus Afghanistan Ausdruck. Lesen Sie hier den offenen Brief der afghanischen Frauen:

Kabul, den 24. November 2009

An die Abgeordneten des Deutschen Bundestages

Sehr geehrte Abgeordnete,

wir sind eine Gruppe afghanischer Aktivistinnen aus Politik, Medien und Zivilgesellschaft Afghanistans. Wie wir wissen, werden Sie in diesen Tagen darüber diskutieren, ob und wie die Stationierung deutscher Truppen im Rahmen des ISAF-Mandats in Afghanistan fortgesetzt wird. Dies ist, wie wir annehmen, eine wichtige und schwierige Entscheidung, insbesondere da viele von Ihnen sicher nicht die Gelegenheit hatten, die Entwicklungen in Afghanistan mit eigenen Augen zu sehen. Aus diesem Grund haben wir uns im Afghanistan-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (HBS) in Kabul zusammengefunden, um die aktuelle Situation in Afghanistan zu bewerten – speziell die Lage der Frauen – sowie die Rolle, die eine Fortsetzung des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft spielt, insbesondere die Fortsetzung des Mandats der deutschen Truppen. Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten haben wir nach bestem Wissen gefasst, und wir sind fest von der Richtigkeit der gegebenen Empfehlungen überzeugt. Wir hoffen, dass unsere Erklärungen Ihnen bei der Entscheidungsfindung helfen werden.

In Anbetracht der langen Geschichte der Freundschaft, die Deutschland und die Afghanen verbindet, und des Umstandes, dass Deutschland Afghanistan in schweren Zeiten durch die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen, Bildung, Wasser, Energie, den Aufbau von Kapazitäten sowie durch Unterstützung in vielen anderen Bereichen geholfen hat, möchten wir die im Folgenden aufgeführten Aspekte ansprechen. Nach dem Sturz der Taliban berief Deutschland 2001 mit der Konferenz in Bonn zum ersten Mal eine internationale Konferenz zur Zukunft Afghanistans ein. Diese stellte das Fundament eines neuen demokratischen Afghanistans dar.

Nach Betrachtung der derzeitigen Lage in unserem Land und des Engagements der internationalen Staatengemeinschaft möchten wir vorschlagen, die folgenden Punkte im Hinblick auf künftige Afghanistan betreffende politische Maßnahmen mit zu berücksichtigen:

1. Eines der größten Probleme Afghanistans ist die Armut, die weitere Probleme zur Folge hat. Frauen sind von Armut innerhalb wie außerhalb ihres Zuhauses besonders stark betroffen.

2. Das Potential der Öl- und Gasförderung und des Bergbaus (Mineralien, Metalle, Edelsteine und Halbedelsteine), kleiner und großer Staudämme, von Solarenergie und vielen anderen Bereichen ist nicht ausreichend bewertet worden. Es sind dringend Investitionen in die einheimischen Märkte erforderlich, durch die automatisch Arbeitsmöglichkeiten entstehen werden. Derzeit können nur knapp zwanzig Prozent der jungen, gut ausgebildeten Menschen eine Arbeitsstelle finden, während der Rest der Generation junger Afghanen von militanten Kräften angelockt werden kann. Hier wird Potenzial vergeudet. Statt den Schwerpunkt allein auf Hilfen zu legen, sollten mehr einkommensschaffende Projekte erwogen werden. Gäbe es Produktionseinheiten, die Waren des täglichen Bedarfs herstellen, Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Sektor sowie Investitionen für sich selbst tragende Strukturen, würden die Menschen auch die staatlichen Institutionen stärker unterstützen.

3. Die Erfolge im Bereich Frauenrechte haben sowohl mit den Bemühungen der internationalen Staatengemeinschaft als auch mit den Anstrengungen der mutigen afghanischen Frauen zu tun. Die internationale Staatengemeinschaft hat Möglichkeiten zur Stärkung der Position der Frauen in der Gesellschaft geschaffen. Die afghanischen Frauen selbst haben dann diese Möglichkeiten genutzt und sich aktiv für die Stärkung ihrer Position eingesetzt. Frauen haben die Redefreiheit erlangt, und die Gleichberechtigung wurde gefördert. Afghanische Frauen waren an Parlaments-, Provinz- und Präsidentschaftswahlen beteiligt, Mädchen gehen zur Schule, und Mädchen wie Frauen können sich immer stärker am gesellschaftlichen Leben beteiligen – zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans.

4. Mehrere Gesetze, die als Meilensteine gelten können, wurden vom afghanischen Parlament verabschiedet. Einer der Hauptgründe dafür, dass die Frauenrechte nicht verwirklicht werden konnten, besteht allerdings in der fehlenden Umsetzung von Gesetzen. Insgesamt ist die Anwendung des Rechts mangelhaft, worunter Frauen im Vergleich zu Männern stärker gelitten haben.

5. Im Hinblick auf die Aufwertung der Position der Frauen spielt die internationale Gemeinschaft eine positive Rolle, aber gewisse Opportunisten haben die Frauenfrage vereinnahmt, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. So wurden für die Stärkung der Frauen bestimmte Geldmittel nicht zweckgemäß verwendet. Die hierfür Verantwortlichen sollten ausgemacht und entsprechend strafrechtlich verfolgt werden.

6. Leider gibt die internationale Staatengemeinschaft bestimmten Personen den Vorzug, die sich sehr viel Gehör verschaffen können, während andere ignoriert werden. Eine solche Vorgehensweise wirkt sich negativ aus, da nur einseitige Sichtweisen zu Gehör kommen, die nicht alle Afghanen repräsentieren. Beim Thema Frauenrechte werden häufig Parolen proklamiert, während die praktische Umsetzung unterminiert wird. Unter dem Vorwand, Rechte und Entwicklung der Frauen zu fördern, ist in großem Umfang Geld veruntreut worden. Gleichzeitig hat sich im Hinblick auf die Wahrnehmung von Frauen bei Extremisten und im Hinblick auf den allgemeinen Umgang der afghanischen Gesellschaft mit Frauen in den letzten acht Jahren nicht viel geändert, und hier wird es auch in naher Zukunft keine Veränderung geben. Die Möglichkeit dafür wird nur ein langfristiges Engagement schaffen können.

7. Das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft fand häufig in Form von Projekten statt – in der Regel Projekte mit einer Dauer von sechs bis neun Monaten – und nicht prozessbasiert. Aus diesem Grund mangelt es an nachhaltiger Wirkung. Es wäre ratsam, die Schwächen beim Engagement der internationalen Gemeinschaft auszumachen und entsprechende konsequente Maßnahmen zu ergreifen. Ebenso wäre es aber auch ratsam, bereits Erreichtes anzuerkennen und denjenigen Aktivisten Gehör zu schenken, die mit ihrem Einsatz gezeigt haben, dass man Ziele erreichen kann.

8. Die Sicherheitslage ist ein weiteres Hauptproblem Afghanistans, durch das die Rolle der Frauen in der Gesellschaft eingeschränkt wird. Einige der Frauen, die sich direkt nach dem Sturz der Taliban aktiv für eine stärkere Position der Frauen in der Gesellschaft eingesetzt haben, können nun ihr Zuhause nicht verlassen, in erster Linie aufgrund der unsicheren Lage. Es sollten Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung und Kapazitätsaufbau bei der Afghanischen Nationalpolizei (ANP) und der Afghanischen Nationalarmee (ANA) durchgeführt werden. Die Menschen sind mit der afghanischen Polizei in ihrer derzeitigen Verfassung nicht zufrieden, weil sie schwach ist und häufig Personen eingestellt werden, die selbst einen kriminellen Hintergrund haben. Die Polizei sollte über mehrere Jahre und nicht nur über Monate angemessen ausgebildet werden, und dann sollte ihr die Kompetenz übertragen werden.

9. Angesichts der langjährigen Freundschaft mit Deutschland waren die Deutschen den Afghanen immer willkommen – viel mehr als die US-amerikanischen Soldaten, die bei den Menschen ein größtenteils negatives Image haben. Deutschland ist nie wegen irgendeiner seiner Handlungen kritisiert worden. Das deutsche Militär hat einen guten Ruf im Hinblick auf die Bewahrung der Sicherheit im nördlichen Teil Afghanistans. Dies trifft auch auf die nichtmilitärischen Maßnahmen und das zivile Engagement Deutschlands zu. Hier profitieren immer mehr Menschen von den Projekten. Die Truppen sollten an Grenzen und in entlegenen Gebieten stationiert werden. In den Bereichen Sicherheit, Wirtschaft und Politik muss die internationale Staatengemeinschaft präsent sein und unterstützen.

10. Der Abzug der deutschen Truppen würde einen herben Rückschlag in Bezug auf sämtliche Entwicklungen bedeuten, die stattgefunden haben. Es wird dann sehr schwer sein, die auf Entwicklung abzielenden Aktivitäten Deutschlands erfolgreich umzusetzen. In jedem Teil Afghanistans würden durch einen Rückzug der internationalen Staatengemeinschaft Lücken entstehen, die umgehend von den Taliban gefüllt würden. Die Nachrichten und die öffentliche Diskussion über einen schnellen Rückzug der internationalen Gemeinschaft wirken sich negativ in Afghanistan aus, weil sie Zweifel daran aufkommen lassen, dass die internationale Gemeinschaft der Freiheit und der Demokratie in Afghanistan wirklich verpflichtet ist. Denn ein sofortiger Rückzug ist für das Land keine Lösung: Im Falle eines Rückzugs ohne angemessene Machtübergabe an neue, verlässliche Strukturen in Afghanistan könnte das Land zu einer Bedrohung für die Region und in der Folge für die ganze Welt werden.

Wir, die afghanischen Frauen, haben viele Male erlebt, dass Rechte verletzt wurden. Wir wollen auf keinen Fall, dass die kommende Generation unter denselben Missständen leiden muss – unter Gewalt, Unsicherheit, Unterdrückung oder Exil. Deshalb möchten wir die internationale Gemeinschaft und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland ermuntern und um ein langfristiges Engagement in unserem Land bitten. Auf Ihren Beitrag – militärisch wie zivil – kommt es an, damit wir die Chance auf eine friedliche, demokratische Zukunft erhalten.

Wir verbleiben mit den besten Grüßen und den besten Wünschen für alle Deutschen und für Sie als deren Vertreter.

Wir, die gesamten Mitglieder der genannten Gruppe, bekräftigen mit unserer Unterschrift die obigen Ausführungen:

1. Shah Gul Rezai, Abgeordnete im Parlament der Islamischen Republik Afghanistan,

2. Sediqa Nawrozian, Gender-Training-Beauftragte der „Afghan Civil Society Forum Organization“ (ACSFo),

3. Fahima Kakar, Leiterin der „Women Assistance Association“ (WAA),

4. Jamila Mujahed, Leiterin des Radiosenders „Voice of Afghan Women“,

5. Neelofar Qadiri, Programmleiterin der Stiftung „Women and Children Legal Research Foundation“ (WCLRF),

6. Jamila Omar, Leiterin des „Human Rights Research and Advocacy Consortium“ (HRRAC),

7. Gulalai Habib, Chefredakteurin der Dunya-E-Zan,

8.Shafiqa Habibi, Leiterin der „New Afghanistan Women Association“,

9. Suraya Parlika, Leiterin der „All Afghan Women Union“ (AAWU),

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