Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Sommerbrief 2012: Blick von Außen – Blick von Innen

mailto:

Liebe Grüne, liebe Bremerinnen und Bremer,

die Ferien gehen zu Ende und ich möchte Euch wieder zwei Schlaglichter unserer Arbeit zukommen lassen:

Einmal hat sich dankenswerter Weise der Deutsche Bundestag bemüht, auf seiner Homepage die Wahlkreisarbeit einiger Abgeordneten zu beschreiben, darunter sind auch wir Bremer. Wie Ihr ja wisst, gehören die Treffen an meinem Esstisch, das sogenannte Beck@Home, zu einem meiner Schwerpunkte in Bremen. Auch darüber berichtet Eckhard Stengel in seinem Artikel "Nehmt noch Erdbeeren mit – ich bin morgen weg ".

Zum anderen war ich Mitte August wieder in Moskau – diesmal nicht bei Michail Chodorkowski, sondern bei der Urteilsverkündung gegen die russische Punkband Pussy Riot. Die Musikerinnen haben im Februar in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale mit einem "Punkgebet" gegen das Bündnis der russischen orthodoxen Kirche mit Präsident Putin demonstriert. Zugegeben: Ihr Auftritt in der Kirche war eine Grenzüberschreitung, eine künstlerische Provokation. Dennoch: Kunst lebt von Provokation.

Die drei jungen Frauen – zwei davon Mütter kleiner Kinder - wurden am 17. August wegen "Rowdytums aus religiösem Hass" zu zwei Jahren Straflager verurteilt. Das Urteil hat weltweit für Empörung gesorgt. Zahlreiche PolitikerInnen und KünstlerInnen rufen zu Solidarität mit den Musikerinnen auf. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr meine Eindrücke aus dem Gerichtssaal nachlesen.

Viel Spaß beim Lesen und einen guten Start nach der Sommerpause wünscht Euch

Marie

aus: www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2012/39804876_kw28_wk_ml_beck/inde...

"Nehmt noch Erdbeeren mit - ich bin morgen weg"

Ein Altbremer Reihenhaus von 1906, etwas Stuck an der Fassade, rundum besonders viele Grünen-Wähler: So lässt es sich leben, wenn man jemand ist wie Marieluise Beck. Die Bundestagsabgeordnete wohnt in Bremen-Peterswerder mitten in ihrem Lieblingsmilieu aus gebildeten Menschen mit Gespür für soziale Verantwortung. An diesem Abend steht sie leger in Jeans und Pullover, aber mit kräftig geschminkten Lippen und lackierten Fingernägeln an der offenen Haustür und wartet auf Besucher aus dem multikulturellen Stadtteil Huchting. Im Vorflur ein Korb voller Pantoffeln — ein Zeichen dafür, dass die 60-Jährige regelmäßig Gruppen empfängt.
In den letzten zehn Jahren hat Beck weit über 2.000 Menschen in ihrem langgezogenen Esszimmer begrüßt, zwischen Vitrinenschrank, Kachelofen und fast wandhohen Bücherregalen.

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Pussy Riot – der rachsüchtige Präsident

Moskau, den 17. August 2012 – Chamowniki-Gericht. Das unscheinbare Amtsgericht in der Nähe des Kiewer Bahnhofs steht wieder einmal im Zentrum der Weltöffentlichkeit.

Heute geht es nicht um den unbeugsamen Michael Chodorkowskij und seinen Partner Platon Lebedew, die sich seit Jahren in den Fängen der russischen Justiz befinden. Heute geht es um drei Frauen, die bis zum Februar dieses Jahres bestenfalls in der Punkszene Russlands bekannt waren: Nadjeschda Tolokonnikowa, Jekaterina Samuzewitsch und Maria Aljochina – besser bekannt als Pussy Riot.

Ich kenne das Gericht gut. Viele Male habe ich mich durch die Sperren gezwängt, auf der Treppe gewartet, über Monate hinweg die ritualisierten Verhandlungen besucht. Aber der Auftrieb heute stellt alles in den Schatten. Der Staat tritt bewaffnet auf. Schwarz gekleidete Sonderpolizisten sperren das Gericht weiträumig ab. Sie tragen schusssichere Westen und schwere Waffen. Ein zentnerschwerer Rottweiler und ein bellender Schäferhund halten die friedlichen Besucher in Schach, nein, schüchtern sie ein.

Das Regime der Absperrungen ist rigide und chaotisch zugleich. Medien, sofern angemeldet, dürfen die ersten Ringe passieren. Wir schaffen es bis zum letzten Ring vor die Tür des Gerichts – und müssen dann aus unerfindlichen Gründen über Stunden warten. Wir stehen auf der Treppe zum zweiten Stock vor dem Flur zum Gerichtssaal. Uniformierte haben mit einem Tisch den Weg verbarrikadiert, Anwälte und Familienangehörige müssen sich durch die Wartenden nach oben durcharbeiten. Nun das bekannte Ritual: Aus dem dritten Stock werden die Angeklagten die Treppe hinunter in den Gerichtssaal geführt. Sie sind mit Handschellen an die Wärter gefesselt und werden in den Glaskäfig gesperrt, bevor ein Besucher den Gerichtssaal betreten darf.

Doch heute sind es nicht die hafterfahrenen Chordorkowskijs und Lebedews - heute werden drei junge Frauen präsentiert, als seien sie hochgefährliche Wesen. Aus der Sicht der Staatsmacht sind sie das offenbar.

Allen voran Nadja – die Schöne. Ihre stolze Haltung gleicht einer Königin, das Gesicht fast engels-gleich, um ihren Mund der Trotz aller Welt. Die Botschaft: mich bekommt ihr nicht. Katja und Masha erregen weniger Aufsehen; klein und eher unscheinbar die eine, weicher und reifer wirkend die andere. Zwei von ihnen sind Mütter kleiner Kinder. Nadja hat eine vierjährige Tochter, Masha einen fünfjährigen Sohn.

Nachdem die Frauen im Käfig eingeschlossen sind und fünf Wächterinnen sich vor dem Käfig aufge-baut haben, dürfen wir den Gerichtssaal betreten. Man hat sich etwas Neues einfallen lassen: Keine Bänke mehr - Zuhörer, Angeklagte und das Gericht haben zu stehen. Marina Syrowa, von der Natur nicht so wohlwollend bedacht wie die jungen Frauen, betritt den Gerichtssaal zur Urteilsverlesung. Darf Frau den Gedanken zulassen, dass sie mit ihrer spitzen Nase, den rosa lackierten Fingernägeln und dem unvorteilhaft gefärbten Haar zu ihrer Rolle passt? Die Richterin, die schon im Prozessverlauf die Angeklagten fast mit Lust maßregelte, steht mit ihrer ganzen Person für etwas ganz anderes als diese drei jungen Frauen im Käfig. Darf man die Polizistinnen in den schlechtsitzenden Uniformen, mit den zu kurzen Röcken über den stämmigen Knien als Vertreterinnen des alten Systems begreifen? Tun sie nur ihre Pflicht? Oder hätten sie eine Wahl? Mich beschleichen durch und durch unkorrekte sexistische Phantasien: Hier die Elfen im Käfig – dort die Staatsmacht im ZK-Mieder. Die füllige Staatsanwältin tupft sich den Schweiß aus dem Dekolleté. In diesem Gericht stehen sich das schöne, moderne und das muffige, alte orthodox-sowjetische Russland gegenüber.

Welcher Irrwitz reitet die Macht, die das kleine Amtsgericht in eine martialische Festung verwan-delt, als stünden hier nicht drei junge Sängerinnen und Aktivistinnen vor Gericht, sondern zu allem fähige Terroristinnen? Wird hier ein Staatsstreich verhandelt oder eine – zugegeben umstrittene - Grenzüberschreitung in einem Kirchenraum?

Richterin Syrowa beginnt die Verlesung des Urteils. Ungerührt und ohne Blick auf einen Menschen verliest sie die Urteilsbegründung. Das Manuskript widmet sich über volle drei Stunden einem Auf-tritt, der 40 Sekunden dauerte. Das geht nicht ohne ständige Wiederholungen. In der Substanz bleiben zwei Vorwürfe: Es gibt eine kirchliche Hausordnung, die für alle einsehbar aushängt und von den Frauen missachtet wurde. Außerdem wählten sie eine Aufmachung, die gegen die Kleiderordnung der Kirche verstößt. Man könnte versucht sein, den rhetorischen Aufwand, mit dem diese Grenzüberschreitung beleuchtet wird, zu bewundern. Immerhin ist es eine Leistung, aus zwei Tatvorwürfen minderer Schwere ein dreistündiges Plädoyer zu zimmern.

Alles hat mit einem Auftritt in der Christ-Erlöser-Kathedrale begonnen. Das Original wurde auf Anordnung Stalins im Dezember 1931 mit sieben Tonnen Ammonal und 1500 Zündern in die Luft gesprengt. 1990 wurde sie mit Geldern "der Macht" wieder erstellt. Sie ist die Kirche des Patriarchen Kyrill, sie ist auch die Kirche von Wladimir Putin, ein Symbol für die Allianz von Orthodoxie und Staat, der zweiköpfigen Macht des neuen Russlands. Pussy Riot hat sie nicht zufällig ausgewählt. Der Patriarch lebt auf großem Fuße – bemerkenswert für einen Mann Gottes, der sich dem Dienst am Glauben verschrieben hat. Wann der KGB-Mann Wladimir Putin seine religiöse Bindung entdeckte, ist bisher nicht überliefert.

Nicht der politische Akt der Frauen, die an die Jungfrau Maria appellierten, das Land von Putin zu befreien, wird von Richterin Syrowa bewertet. Es soll der Anschein erweckt werden, als ginge es allein um Religion und religiösen Anstand. Nicht der so offenkundig gekränkte Präsident, sondern sieben handverlesene Nebenkläger traten im Verlauf des Prozesses auf, um die Tiefe ihrer verletzten Gefühle vor dem Gericht auszubreiten und damit Gehör bei Richterin Syrowa zu finden. Kein Wort zu dem Frontalangriff auf den immer imperialer agierenden Präsidenten. Kein Wort zu der politischen Grenzüberschreitung, die diese jungen Frauen sich erlaubt haben: sie haben dem Präsidenten die Stirn geboten und mit einem Happening von 40 Sekunden Millionen erreicht. Das ist der Grund der Anklage, das ist der Kern des Prozesses – und das exemplarisch zu ahnden, wird der Sinn des Urteils sein.
Richterin Syrowa tut einen schweren Dienst. Kein Schluck Wasser und ein dreistündiger Vortrag – das Urteil muss lang sein. Das Ergebnis darf nicht vor Redaktionsschluss bekannt werden. Dann in die große Langeweile hinein der Paukenschlag: Nadjeschda Tolokonnikowa, die Stolze, die Trotzige, wurde einer psychologischen Untersuchung unterzogen. Diagnose: die Delinquentin leide unter einer "vielfachen Persönlichkeitsstörung, die sich in einem aktiven Sendungsbewusstsein äußere". Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Unter Stalin und Breschnew meinte das die Zwangseinweisung in die Psychiatrie. Viele Menschen wurden dort systematisch zerstört. Noch, so wird konstatiert, sei keine medizinische Behandlung notwendig. Das Straflager sei vermutlich der erfolgversprechende Ort zur Therapierung dieser "Abnormalität". 

Putin, das wissen wir aus Biographien, war ein Straßenkämpfer. Der kleine Wladimir im Nachkriegs St. Petersburg gebrauchte die Fäuste gegen die, die sich ihm entgegenstellten. Michael Chodorkowskij hat erfahren, dass Widerspruch im Straflager endet. Andere konnten noch rechtzeitig das Land verlassen. Dieser Präsident ist nicht nur ein Mann des KGB und mit dessen Denken durch und durch verbunden, er ist auch ein Mann der Rachsucht. Im Mittelalter wurden die unbotmäßigen Schönen als Hexen verfolgt. Im Russland des 21. Jahrhundert sind es die Kreativen, die Modernen, die Widerspenstigen – dazu noch Frauen, die sich der Macht entgegenstellten und nicht auf dem Scheiterhaufen, aber im Straflager enden. Der Präsident hatte in London huldvoll Milde versprochen. In der Tat, nun sind es keine sieben, sondern "nur" zwei Jahre Lager, die Richterin Syrowa verhängt. 

Noch lächeln die drei Frauen im Käfig, wirken selbstbewusst und unbeugsam. Mir zieht sich das Herz zusammen. Wenn die Scheinwerfer aus sind, wenn neue Ereignisse die Welt beschäftigen, erst dann wird die ganze Härte dieses Urteils durchschlagen. Der Alltag im Lager ist hart und einsam. Ein Winter in Tschita oder in Karelien ist lang. Die Trennung von den Kindern wird grausam sein. Es wird keinen Magier Woland geben, der mit den Frauen auf schwarzen Rössern das garstige Moskau verlässt und in die Freiheit fliegt, wie der Meister und Margarita in Bulgakows Roman.

Mein Wunsch: es möge Putin nicht gelingen, die Frauen zu brechen. Pussy Riot hat in 40 Sekunden das System Putin erschüttert, nicht zuletzt, weil sie die Gesetze der Medien erkannt haben. Medien und Öffentlichkeit sind flüchtig. Die Unterstützer der Frauen dürfen es nicht sein.

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