Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Interessierte,
Karen und ich haben diesen Sommer genutzt, um Bremisches zu erledigen. Dazu gehörte der Besuch der Kanzlei Engel & Partner, die in sehr verdienstvoller Weise viele Migranten und Flüchtlinge auf ihrem schwierigen Weg durch die nicht immer wohlwollende deutsche Bürokratie begleitet. Dabei adoptierten wir einen schier unglaublichen Fall einer yezidisch irakischen Familie, denen es seit vier Jahren nicht gelingt, ihre drei Kinder aus dem Irak nach Deutschland nachzuholen.
Ich möchte Euch diesen und einen zweiten Fall schildern. Wer von diesem organisierten Wahnsinn liest, der weiß, weshalb wir Grüne gebraucht werden.
Der ganz normale Wahnsinn im Auswärtigen Amt
Die Familie M . Seit 2004 lebt in Bremen ein yezidisches Ehepaar mit einem schwer behinderten Kind. Sie sind als politische Flüchtlinge anerkannt. Dementsprechend greift Art. 25 der Genfer Flüchtlingskonvention und damit das Recht auf Familienzusammenführung. Drei (damals) noch minderjährige Kinder waren bei Verwandten in Bagdad geblieben. Die konsularische Abwicklung des Nachzugs musste zunächst in Syrien, später dann in Jordanien vonstatten gehen.
Obwohl die Anforderungen an die Ausweis- und Herkunftspapiere wegen der politischen Verfolgung laut Völkerrecht und Genfer Flüchtlingskonvention nicht so hoch angesiedelt werden wie bei regulärem Familiennachzug, reichte die Papierlage dem Konsulat nicht aus. Und so wurden die Kinder im Laufe von vier Jahren viermal zurück in den Irak - und damit in ein Kriegsgebiet - geschickt. Die Mutter befand sich zwischenzeitlich in Bremen in stationärer psychiatrischer Behandlung.
Im April dieses Jahres sprachen die Kinder wieder in Amman vor. Eine Vorabzustimmung des Landes Bremen für die Aufnahme lag vor, die Papiere der Kinder waren vollständig. Ohne Begründung wurde den Kindern jedoch das Visum nach Deutschland abermals verweigert und damit auch die Einreise. Zwischenzeitlich hat Jordanien eine Visumspflicht eingeführt und auf diese Weise sind neue Hindernisse entstanden.
Nach vier (!) Jahren des Nachdenkens kam die deutsche Botschaft in Amman nunmehr auf den Gedanken, dass die Kinder nicht die leiblichen der Flüchtlingseltern in Bremen seien und deklarierten die Papiere der Kinder als gefälscht. Über Jahre hinweg kamen weder die konsularischen Behörden noch die Visumsabteilung des Auswärtigen Amtes auf die Idee, durch einen schlichten Speicheltest die Verwandtschaftsbeziehungen dieser Kindern zu den Eltern zu klären - offenbar hatte dort niemand ein Interesse daran.
Die überzogene und restriktive, an Willkür grenzende Haltung der Visumsabteilung ist offenbar eine Folge von Ignoranz und Angst vor Fehlentscheidungen. Deswegen verschwinden solch dramatisch menschliche Schicksale in den Akten. Überforderte oder sich machtvoll fühlende Sachbearbeiter berufen sich auf ihre Handbücher zum Asylrecht und verlangen nochmalige und nochmalige Sicherungen; der Geist der völkerrechtlich bindenden Vorschrift der Genfer Flüchtlingskonvention hingegen zählt wenig.
Noch immer sind die Kinder nicht hier. Es braucht einiges, um den Glauben an die Rechtsstaatlichkeit und die Geltung der Menschenrechte in unserem Land nicht in Zweifel zu ziehen.
Die Familie B . In einer bremisch-türkischen Familie kommt es zur Scheidung. Der Vater bleibt mit zwei kleinen Töchtern zurück. Nach einiger Zeit steht eine zweite Eheschließung mit einer Frau aus der Türkei an. Stiefmutter und Kinder sind durch einen Besuch miteinander bekannt gemacht worden.
Der Vater stockt seine bis dahin angenommene Teilzeitstelle auf eine volle auf, denn nur so kann er den Familienunterhalt nachweisen, den der Nachzug der zweiten Ehefrau erfordert. Das AA verweigert allerdings diesen Nachzug, denn der Unterhalt liegt um 50 (!) Euro unter dem Tabellenwert. Der Fall geht vor das Bremer Amtsgericht, das das Auswärtige Amt anweist, die Einreise zuzulassen, da dem Mann Unterhalt - gezahlt von der ersten Ehefrau - zusteht.
Da der Vater wegen der vollen Berufstätigkeit die beiden Mädchen nicht mehr versorgen kann, werden sie in ein Bremer Heim überwiesen. Zahlmeister ist das Bremer Jugendamt. Sowohl das Innenministerium wie auch das Auswärtige Amt können an diesem Skandal nichts Ungewöhnliches erkennen. Das Auswärtige Amt hat angekündigt, gegen die Verfügung des Gerichts, ein Einreisevisum für die Stiefmutter zu erteilen, in Revision zu gehen. Was schert es den Bund, wenn zwei Kinder wegen der Idiotie seiner Visumsabteilung ins Heim wandern und das klamme Land Bremen dafür aufkommen muss?
Der Sommerkampf gegen das Auswärtige Amt wurde nahtlos abgelöst durch den Krieg in Georgien. Aus einer bereits geplanten Obleutereise des Auswärtigen Ausschusses nach Moskau und Waldiwostok wurde eine Reise nach Moskau und Kiev. Ich selber reiste dann noch nach Tiflis und in die Grenzregionen Georgiens weiter.
Russland/Moskau
In unseren Gesprächen mit Vertretern der Duma, des russischen Förderationsrates und dem Außenministerium wurden offensichtlich abgestimmte Haltungen zur Intervention der russischen Armee in Georgien vertreten:
1. Russland habe die Verpflichtung zum Eingreifen gehabt, denn es habe ein Genozid in Südossetien und Abchasien stattgefunden und deshalb seien die Friedenstruppen zum Handeln gezwungen gewesen. Außerdem seien russische Staatsbürger bedroht gewesen.
2. Der Kaukasus sei unbestreitbar Teil der russischen Einflusssphäre.
3. Die Anerkennung von Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten sei unumkehrbar.
4. Die russische Außenpolitik werde den fünf außenpolitischen Prinzipien folgen, die Präsident Medwedjew am 31.09.08 formuliert habe.
5. Diese Auseinandersetzung sei weniger eine zwischen Russland und Georgien, sondern mehr eine mit den USA.
6. Das Vorgehen Russlands entspreche exakt dem der Westmächte in Bezug auf Belgrad und das Kosovo.
7. Eine Osterweiterung der Nato werde als unfreundlicher Akt gegen Russland angesehen und von Moskau nicht akzeptiert.
Diese Kernaussagen wurden in einer seltsamen Mischung von gedemütigtem Nationalstolz und der triumphalen Rückkehr von Größe vorgetragen. Es ist schwer auszumachen, inwieweit es sich bei dieser Mischung um echt empfundene Gefühle oder um zynisch eingesetzte Rechtfertigungen handelt. Unstreitbar ist jedoch, dass aus der Propaganda der staatlich gelenkten Medien deutlich hervorgeht, dass das Projekt der Rückkehr zur imperialen Macht einen großen Schritt vorangekommen ist. Und es gibt weiterhin Grund zur Besorgnis: Medwedjew reklamiert das Fortbestehen russischer Einflusssphären und die Absicht, weiterhin russische Bürger auch außerhalb des Staatsgebietes zu schützen. Damit öffnet er die Tür zu einer Politik, die aggressiv über die jetzigen Grenzen Russlands hinausführen.
Ein Treffen mit den bürgerrechtlich engagierten NGOs führte sehr eindrücklich vor Augen, dass der Krieg in Georgien ihre ohnehin schwierige Situation dramatisch verschlechtert hat. Es ist davon auszugehen, dass im Zuge der Konsolidierung der Macht des Kreml die Spielräume für freie und kritische Stimmen noch einmal enger gezogen werden. Die Stimmung unter den NGOs ist demgemäß düster.
Es bleibt in diesem Zusammenhang anzumerken, dass zeitgleich in Inguschetien ein kritischer Journalist in einem Polizeiauto erschossen wurde; anders als bei Anna Politkowskaja also nicht einmal mehr eine Camouflage für die Exekution für nötig befunden wurde.
Das Regime Putin/Medwedjew findet bei großen Teilen der Bevölkerung für sein Vorgehen Zustimmung. Diese selbst empfundene Stärke wird Russland für Verhandlungen und Kompromisse eher unzugänglich machen. Zwar mag dieser Krieg als Wiedergeburt einer großen Nation gesehen werden, objektiv aber begleitet ihn ein großer Schritt zurück in die Isolation und damit wird der dringend notwendigen Modernisierung des Landes zunächst einmal der Boden entzogen.
Den Machthabern im Kreml werden vermutlich erst in der kommenden Zeit die Konsequenzen ihres Handelns klar werden. Wenn den Abchasen und Osseten so umstandslos das Recht auf Sezession zugestanden worden ist und das Völkerrecht in dieser Weise geöffnet wird, wird in anderen Gebieten Russlands diese Frage möglicherweise schneller auf die Tagesordnung gesetzt werden, als dem Kreml lieb sein kann. In Inguschetien und Dagestan grummelt es schon. Und weshalb zwei Kriege gegen Tschetschenien geführt wurden, obwohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker der russischen Administration im Falle Abchasiens und Südossetiens so am Herzen lag, das wird sich der Kreml vermutlich öfter fragen lassen müssen als ihm lieb ist.
Ukraine/Kiev
Kurz vor unserer Ankunft war die ukrainische Regierung über die Frage zerbrochen, wie das russische Vorgehen in Georgien zu bewerten sei. Hinter diesem Machtkampf verbirgt sich die Vorschau auf die Präsidentschaftswahlen 2010, zu denen Julia Timoschenko antreten wird.
Den Einladungen zu den Treffen mit uns Abgeordneten folgten interessanterweise fast nur Befürworter einer Westbindung und des Nato-Beitritts. Politiker des Blocks Janokowitsch suchen wenig Kontakt mit westlichen Politikern. Die Befürworter suchen Schutz vor einem imperial agierenden Russland. Mit großer Sorge registrieren sie, dass - ähnlich wie in Südossetien und Abchasien - Russland in großem Stil russische Pässe austeilt und befürchten darin die Vorbereitung einer russischen Intervention.
Hinsichtlich der Frage des Nato-Beitritts ist die Bevölkerung gespalten: Der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung sieht sich zwar als der ukrainischen Nation zugehörig, kann sich aber eine Nato-Zugehörigkeit nicht vorstellen. Unumstritten ist allerdings der breit getragene Wunsch der (auch russischstämmigen) Bevölkerung, zur EU-Zone dazuzugehören und ihr eines Tages beizutreten. Insofern sei die zögerliche bis abweisende Haltung der EU für eine Beitrittsperspektive sehr frustrierend für die Bevölkerung. Es gebe nach Georgien die Sorge um einen Dominoeffekt mit den Regionen Transnistrien und Nagorny Karabach.
Zentral ist in der Ukraine auch der Poker um Pipelines, deren Verlauf zentral für die russische Steuerung der Lieferungen ist. Vorgeschlagen wird deswegen ein einheitlicher europäischer Energieraum unter Einbeziehung der EU. Motto gegenüber Russland müsse sein: Ohne Energie keine Sicherheit. Ohne Sicherheit keine Energie.
Und zum Schluss: Das restriktive Visumsregime führt zu großer Bitterkeit und Frustration unter den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine. Eine deutliche Erleichterung des Visumsregimes könnte wenigstens einen Teil des Zugehörigkeitsgefühls ersetzen, das durch die Verweigerung des Beitritts sonst nicht entstehen konnte.
Georgien/Tiflis
Georgien war die letzte Station meiner Reise. Die Darstellungen der Moskauer Politiker im Ohr, wollte ich in Tiflis die Sicht der georgischen Verantwortlichen hören. Ergänzt wurde der Eindruck durch Gespräche mit Aktivistinnen und Aktivisten aus der Zivilgesellschaft, Vertretern von UNHCR und OSZE und nicht zuletzt durch die Erzählungen geflohener und vertriebener Menschen aus Südossetien und der russisch besetzten Pufferzone außerhalb dieses Gebietes.
Fast alle Politiker wiederholten die bekannte offizielle Lesart der georgischen Propaganda: Eine russische Aggression mit folgender Besatzung. Kein Zweifel an der eindeutigen Schuld Russlands an der Situation. Der Westen verstehe nicht, was vorgegangen sei, und habe georgische Warnungen vor dem drohenden Krieg überhört. Zwar wurde das Ergebnis des EU-Sondergipfels einhellig begrüßt, zugleich wurden Vorwürfe gegen den Westen laut, wegen seiner zu wenig russland-kritischen Sicht. Auch die USA und Israel hätten die Hände in den Schoß gelegt. Das nächste Ziel Russlands sei nun die Ukraine.
Mitarbeiter der OSZE-Mission in Georgien bemühten sich um eine möglichst objektive Darstellung der Ereignisse und ihrer Vorgeschichte. Nach ihren Darstellungen hätten wechselseitige Provokationen zur Eskalation geführt. Doch manches blieb auch ihnen unklar. Dazu gehört die Frage, ob zum Zeitpunkt des Beginns der georgischen Offensive in der Nacht zum 8. August bereits russische Truppen in Südossetien eingerückt waren. Letztlich können diese und andere Fragen allenfalls durch eine unabhängige internationale Kommission geklärt werden.
Flüchtlinge und Vertriebene
Über die Zahl der Flüchtlinge gibt es bislang nur Schätzungen. Bei meinem Besuch in einem erst neun Tage alten, unter der Leitung der italienischen Nothilfe-Koordinatorin Alessandra Morelli vorbildlich organisierten UNHCR-Lager in Gori erfuhr ich einiges über die Lage in der Pufferzone. Die Zahl der Bewohner im Lager war in der kurzen Zeit seines Bestehens seit dem 28. August bis zum 6. September auf 1800 Menschen angewachsen, täglich kamen noch immer etwa 100 hinzu. Viele von ihnen hatten versucht, nach Hause zurückzukehren, waren aber von den russischen Truppen mit der Begründung abgewiesen worden, man könne ihre Sicherheit nicht garantieren. Sie gehörten zu jenen, die während der Kriegstage vor den anrückenden Truppen geflohen waren. Andere waren jedoch erst nach Ende des Krieges aus der russisch besetzten Pufferzone vertrieben worden. Sie berichteten von marodierenden Paramilitärs südossetischer oder russischer Herkunft.
In einem Flüchtlingslager in Gori, Georgien
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass große Teile der etwa 40.000 Menschen aus den Dörfern der Pufferzone nach wie vor nicht zurückkehren können. Manche der wenigen dort Verbliebenen werden offenbar bis heute von dort vertrieben. Das gleiche gilt für die georgischen Einwohner Südossetiens, etwa einem Drittel der dort lebenden Menschen. Die meisten sind geflohen oder vertrieben worden, und auch ihnen wird die Rückkehr verweigert. Zwar bedürfen diese Vorgänge noch genauerer Untersuchung, zumal internationalen Beobachtern bislang der Zugang nach Südossetien verweigert wird. Nach allem Anschein jedoch muss das russische Vorgehen als ethnische Säuberung betrachtet werden.
Politische Lage in Georgien
Meine Gesprächspartner aus zivilgesellschaftlichen Projekten beklagen übereinstimmend die demokratischen Defizite in Georgien, die durch den Krieg und die damit verbundene gespannte Stimmung noch verstärkt würden. Schon seit Amtsantritt Saakaschwilis habe sich in mancher Hinsicht die Situation sichtlich verschlechtert, berichtet der Vorsitzende der Vereinigung junger Rechtsanwälte, Giorgi Chkeidse. Der frühere Spielraum der Medien sei verringert und auch die Verfassungsänderungen seit 2004 hätten die demokratischen Institutionen geschwächt. Zurück bleibt ein vermutlich auf lange Jahre geteiltes Land mit vielen Flüchtlingen und Vertriebenen.
Russland weigert sich, mehr OSZE Beobachter in die abtrünnigen Republiken zu lassen. Das spricht nicht für den Willen, jenseits von Fragen der Anerkennung der Sezessionsstaaten das Recht auf Rückkehr so weit wie möglich umzusetzen und Minderheitenrechte zu verhandeln.
Der Kaukasus ist ein Gebiet mit mehr als hundert Völkern. Es ergibt sich von selbst, dass nur eine demokratische, rechtsstaatliche und multiethnische Verfasstheit ein irrwitziges Blutbad und menschenverachtende Völkerverschiebungen verhindert können. Dazu brauchen wir ein belastbares Völkerrecht und Staaten, die dieses Recht als notwendige Voraussetzung für Konfliktregelungen begreifen.
Die letzten acht Jahre unter Präsident George Bush haben uns den Verweis auf das Völkerrecht erschwert. Ich wünsche mir, dass die Novemberwahlen in den USA uns einen neuen Anlauf ermöglichen. Russland ist ein schwieriger Partner. Aber in eine faire und harte Auseinandersetzung kann nur der gehen, der sich keine double standards vorhalten lassen muss. Das gilt für eine amerikanische Regierung wie für eine Europäische Union - und das gilt ebenso für den Kreml.