Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Interview mit Marielusie Beck zur Lage in Belarus "Die EU verhält sich aberwitzig"

Bremer Grünen-Abgeordnete Beck fordert scharfes Vorgehen gegen polizeistaatliche Entwicklung in Weißrussland

In Weißrussland wächst die Unterdrückung demokratischer Kräfte: Nach den Protesten gegen seine umstrittene dritte Wiederwahl ließ Präsident Alexander Lukaschenko fast 600 Oppositionelle verhaften, darunter fast alle seiner Gegenkandidaten. Die Bremer Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck (Grüne) bereist das Land regelmäßig als Mitglied des Auswärtigen Ausschusses und Sprecherin ihrer Fraktion für Osteuropa-Politik. Mit ihr sprach Joerg Helge Wagner.

Frau Beck, Sie sprechen von den schärfsten Menschenrechtsverletzungen in Weißrussland seit zehn Jahren. Wann sind Sie zuletzt vor Ort gewesen?

Marieluise Beck: Ich war im November in Minsk auf einem Treffen der weißrussischen Zivilgesellschaft. In der deutschen Botschaft habe ich zudem sämtliche Oppositionskandidaten für die Präsidentschaftswahl getroffen - also auch diejenigen, die jetzt verhaftet worden sind.

Mit wem stehen Sie jetzt dort in Kontakt?

Heute Morgen haben sich unsere Grünen-Parteifreunde bei mir gemeldet, deren Büro natürlich auch gestürmt und versiegelt worden ist. Es gibt zudem junge Kulturschaffende, mit denen wir uns noch über SMS verständigen können. Schließlich habe ich einen guten Bekannten bei einer Stiftung, der sehr früh berichtet hat, dass von den 40 Projektpartnern 37 verhaftet worden sind. Die übrigen drei sind nur deshalb noch auf freiem Fuß, weil sie sich versteckt halten.

Wie riskant ist es für Ihre Gesprächspartner, Sie mit Informationen zu versorgen?

Man kann schwer einschätzen, ob Kontakt mit dem Westen eher schützt oder schadet. Das Unvermögen der weißrussischen Opposition, sich wie vor vier Jahren auf einen Kandidaten zu einigen, hat sicher den Schutz vermindert. Der Kandidat Alexander Milinkiewitsch, der 2006 weite Teile der Opposition vertreten konnte, ist nicht angetastet worden. Der weniger prominente Kandidat Alexander Kosulin ist hingegen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden, weil er Proteste gegen die Wahlfälschung organisiert hatte.

Sitzt Kosulin noch in Haft?

Er wurde entlassen, spielt aber keine Rolle mehr. Erfahrungen in weißrussischen Haftanstalten sind oft so dramatisch, dass die meisten Menschen schon rein physisch gar nicht mehr in der Lage sind, in ein normales Leben zurückzukehren.

Von welchen Menschenrechtsverletzungen wird konkret berichtet?

Was mich am tiefsten beunruhigt, ist das Verschwindenlassen von Menschen. Es gibt ja schon seit 1999 die Fälle von vier verschwundenen Regimegegnern, deren letzte Spur direkt in den Präsidentenpalast von Alexander Lukaschenko führte. Auch die jetzt verhafteten Oppositionskandidaten sind nicht von der Polizei, sondern vom Geheimdienst aus Krankenhäusern, Autos und Wohnungen entführt worden.

Gibt es Erkenntnisse über den Aufenthaltsort der verhafteten Oppositionellen und deren gesundheitlichen Zustand?

Es gibt überhaupt keine Erkenntnisse, weil niemand Zugang bekommt. Wir haben nur gesehen, wie der einzige nicht inhaftierte Kandidat Jaroslaw Romantschuk im Fernsehen mit zitternden Händen eine Art Selbstkritik und Anschuldigung gegen die Kollegen verlesen hat. Wir wissen jetzt, dass die Geheimpolizei einen Verwandten abgeholt und Romantschuk damit erpresst hat, dass diesem Verwandten etwas zustoßen werde, falls er nicht kooperiert.

Die OSZE hat die dritte Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko als undemokratisch verurteilt, aber der pfeift offenbar auf sein Ansehen. Wieso kann er sich das nach dem Zerwürfnis mit seinem einzigen Verbündeten Moskau leisten?

Es gab dieses Zerwürfnis und eine unbeschreibliche Schmutzkampagne Moskauer Medien gegen Lukaschenko, denn der hatte Premier Wladimir Putin im Mai nicht in Minsk empfangen. Vor Kurzem gab es aber zwei Gipfeltreffen bei denen mehrere Verträge unterschrieben worden sind. Offensichtlich braucht Lukaschenko den Westen nicht mehr, weil ihm wirtschaftliche Zusagen gemacht worden sind. Eigentlich ist sein Regime ökonomisch am Ende. Es lebt davon, billiges Gas und Erdöl von Russ- land zu beziehen, es zu raffinieren und dann zu Marktpreisen in den Westen zu verkaufen.

Sie forderten, dass Italien die Einladung an Weißrusslands Außenminister Sergej Martynow zurückziehen sollte. Muss man jetzt nicht erst recht im Gespräch mit dem Regime bleiben?

Wenn Herr Martynow in Italien auf diplomatische Eiseskälte und härteste Konfrontation stoßen würde, wäre ein Besuch in Ordnung. Doch gerade Italien hat leider im Rahmen der 27 EU-Staaten verhindert, dass sich die Union gegenüber der polizeistaatlichen Entwicklung in Weißrussland klar und eindeutig verhält. Das ist ein Skandal, denn es zeigt, dass die EU nicht wirklich handlungsfähig ist.

Das Auswärtige Amt hat am Dienstag den weißrussischen Botschafter einbestellt und die unverzügliche Freilassung aller Verhafteten gefordert. Reicht das?

Mir reicht das nicht. Es hat eine gemeinsame Initiative des polnischen Außenministers Sikorsky und des Bundesaußenministers Westerwelle gegeben: Für Lukaschenko würden rund 3,5 Milliarden Aufbauhilfe bereitstehen, wenn die Wahlen demokratisch verlaufen. Beide hätten jetzt unverzüglich in Minsk aufschlagen müssen, um sehr deutlich zu machen, dass einem Polizeistaat in unserer Nähe nicht bloß mit einer Presseerklärung begegnet wird.

Wie kann die Union dennoch die demokratischen Kräfte in Belarus unterstützen?

Wir müssen Schluss machen mit einer Visumspraxis, die den jungen Leuten in Weißrussland den Zugang zum Westen faktisch versperrt. Gerade die zukünftigen Eliten brauchen den Kontakt zum Westen, damit sie sehen, dass es sich lohnt, für demokratische Gesellschaften zu streiten.

Dürften die denn überhaupt ausreisen?

Bisher hat das Regime Ausreisen zumeist nicht behindert. Die EU hat dem Diktator jedoch dabei geholfen, sein Volk einzusperren: mit der aberwitzigen Begründung, man könne die Visumspolitik gegenüber Weißrussland nicht liberalisieren, weil dort ein autoritäres Regime herrsche.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Verdener Nachrichten Seite: 6 Datum: 23.12.2010