Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Europa verändert sein Gesicht - die junge Generation verändert Europa.

Teil 1 - Heute: Zu den Ausschreitungen bei Protesten in Tuzla und anderen Städten Bosnien und Herzegowinas

Teil 2 – Kommende Woche: Wohin steuert die Ukraine?

 

Liebe Interessierte,

ich bin Anfang dieser Woche in die Stadt zurückgekehrt, die wir Bremer und Bremerinnen gut kennen, weil unsere Hilfstransporte während des Krieges dorthin gingen: Tuzla.

Tuzla, die Stadt, die stolz darauf war, eine "antifaschistische" Tradition zu haben und deren mutiger Bürgermeister Selim Beslagic versuchte, alle Volksgruppen in der Stadt zu halten.

Traurige Tradition hat der Besuch auf dem Friedhof der Stadt. Dort finden sich die die Gräber von über 70 jungen Menschen, die am 25. Mai 1995 - dem jugoslawischen Tag der Jugend - durch eine Granate der Tschetniks getötet wurden. Auf den Grabsteinen stehen kroatische, serbische und bosniakische Namen.

Dann traf ich junge Männer und Frauen, die die aktuellen Proteste in der Stadt losgetreten haben. Sie kommunizieren über facebook, sie informieren sich über das Internet, sie sprechen englisch, sie kleiden sich wie unsere Kinder, sie sind basisdemokratisch, feministisch, schwul, bunt eben - und sie stehen für offene Gesellschaften. Sie haben Korruption, Verantwortungslosigkeit, Selbstbereicherung und die Einfallslosigkeit der politischen Eliten satt. Sie wollen eine Zukunft.

Sie treffen sich nun jeden Abend in Volksversammlungen, den Plenen. Darauf sind sie stolz. Vieles, was sie mir erzählten, war idealistisch. Eine Grüne weiß, dass sich hinter der Camouflage von vermeintlicher Basisdemokratie unlegitimierte Machtstrukturen aufbauen können. Auch gehen sie recht großzügig mit den Begriffen 'totalitär' und 'faschistisch' um. Da ist noch viel politisches Reifen angesagt.

Die Protestierenden wollen keine Gewalt. Dennoch ist ihnen einen Moment die Szene entglitten. Wer über Jahre nicht gehört wird, bei dem wächst die Wut.

Ich habe versprochen wiederzukommen.

So auch bei den Protestlern in Sarajewo. Das Böll-Büro hatte in seine Räume eingeladen. Manche Gesichter kannte ich aus der Bewegung "K 143". Schon das war ein Zusammenschluss bosnischer Bürgerinitiativen, die sich aus der Starre der nationalistischen Umklammerung lösen und endlich die realen Probleme des Landes angehen wollte: Arbeitslosigkeit, kleine Renten, schlechte Versorgung der Invaliden ...

Die Initiativler aus Sarajevo sind erfahrener als die aus Tuzla: junge Journalisten, Professorinnen, Softwareentwickler. Sie kamen von einer Bürgerversammlung von über tausend Menschen. Auch in anderen bosnischen Städten wird protestiert. Arbeitslose und Pensionäre machen den Mammutanteil der Protestierenden aus.

Es geht ihnen um korrupte Politiker, nutzlose Kantonsstrukturen mit über 600 bezahlten Parlamentariern und 150 Ministern. Merke: Bosnien hat mit 3,8 Millionen BürgerInnen die Größe von Berlin. Dazu EU, OSZE, UN mit 1.300 Diplomaten - und dennoch seit Jahren Stagnation, wohin man schaut. Die Wut gilt auch den Privatisierungen, denen zumeist die sofortige Ausschlachtung der Betriebe um die noch wertvollen Assets folgte.

Im Herbst wird es in Bosnien Wahlen geben. Es ist offen, ob es den ethnisch orientierten Parteien noch einmal gelingt, den "Schutz vor den anderen" so aufzublasen, dass ihre Untätigkeit betreffend die Entwicklung des Landes überdeckt wird.

Ich traf bewusst keine Parteiführer. Sie sind nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Statt dessen traf ich im Parlament den Verfassungsausschuss, darunter viele mir bekannte Gesichter. Sie hatten bis in die Nacht hinein mit EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle getagt, um einen winzigen Schritt in Richtung "Ent-ethnisierung" der Daytoner Verfassung zu gehen, wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof es aufgetragen hat. Fehlanzeige. Wieder haben Parteiführer der serbischen, kroatischen und bosniakischen Parteien sich blockiert. Der Staat soll ihre Beute bleiben.

Was haben mir die jungen Menschen aufgetragen? Sie fordern das Ende der Verantwortungslosigkeit der politischen Klasse. Sie fordern Verantwortung für die Gestaltung ihrer Zukunft. Bosnien soll kein schwarzes Loch mitten in Europa bleiben.

Das ist die Gemeinsamkeit der jungen Internetgeneration von Bosnien und der Ukraine. Heute schreibe ich Euch und Ihnen aus einem Hotelzimmer in Kiew. Die Unruhe auf dem Maidan ist bis hierher zu spüren. Doch der Maidan ist eine andere Geschichte. Darüber berichte ich nach meiner morgigen Abreise und informiere Sie und Euch kommende Woche.

Wer bis dahin nicht warten möchte, findet auf meiner Homepage und vor allem auf Facebook aktuelle Informationen: www.facebook.com/marieluise.beck

Mit herzlichen Grüßen

Ihre und Eure

Marieluise Beck

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