Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Grünes Russlandforum in Moskau: Lebendiger Dialog mit Russland in Zeiten der Repression und des Unfriedens

Vom 7.-8. Dezember 2015 traf sich in Moskau in den Räumen der Menschenrechts­organisation Memorial das Grüne Russlandforum. Der Kreis, in dem PolitikerInnen, ExpertInnen und AktivistInnen der Zivilgesellschaft aus Deutschland, der EU und Russland vertreten sind, kam auf Initiative der Heinrich-Böll-Stiftung,  der Grünen Bundestagsfraktion und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und bereits zum zehnten Mal zusammen, um über deutsche und europäische Russlandpolitik und die gemeinsamen Beziehungen zu beraten.

Das Jubiläumstreffen fand in sehr schwierigen Zeiten nicht nur für Russland, sondern auch für die EU statt. Die Wirtschaftslage in Russland hat sich dramatisch verschlechtert; gleichzeitig nehmen innenpolitische Repressionen zu. Zudem fand das Treffen unter dem Eindruck des polarisierten europäischen Diskurses über Flucht und Asyl, dem militärischen Eingreifen Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands in den Syrien-Krieg und des Erfolgs des „Front National“ bei der ersten Runde der Regionalwahlen in Frankreich statt.

Russische Gesellschaft: Zwischen Wirtschaftskrise und Propaganda

Ein wesentlicher Schwerpunkt der Diskussionen galt der beispiellosen antiwestlichen Desinformationskampagne in Russland, dem Einbrechen der russischen Wirtschaft und der repressiven Innenpolitik des Kremls. Es zeigte sich, dass alle drei Punkte auf das Engste miteinander verknüpft sind.

Seit dem Ölpreisverfall und der Verhängung internationaler Sanktionen als Reaktion auf das militärische Vorgehen Russlands in der Ukraine ist die russische Wirtschaft dramatisch abgestürzt.Hauptursache für die wirtschaftliche Talfahrt ist der Verfall des Ölpreises. Die Finanzsanktionen erzielen zwar eine große Wirkung, in Anbetracht der unverändert großen Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport sind die Preise an den internationalen Märkten aber entscheidender für die Wirtschaftsentwicklung. 

Im Unterschied zur Wirtschaftskrise 2009 ist der staatliche Stabilisierungsfonds kaum noch belastbar und wird voraussichtlich bald aufgezehrt sein. Der Staat muss Kosten reduzieren und denkt daher darüber nach, das Rentenalter zu erhöhen und die Renten- und Sozialausgaben insgesamt zu kürzen (derzeit beträgt das Renteneintrittsalter für Männer 60 Jahre, bei einer Lebenserwartung von 63 Jahren; für Frauen 55 Jahre, bei einer Lebenserwartung von 74 Jahren). Im Vorfeld der Wahlen, die 2016 (Duma) und 2018 (Präsidentschaft) anstehen, sind derartige Schritte jedoch besonders unpopulär.

Bisher versuchte Putin, die wirtschaftliche Schwäche seines Regimes zu kaschieren, indem er öffentlich das Bild Russlands als wiederauferstandene Großmacht beschwor. Das wird aber zunehmend schwieriger. Denn immer offensichtlicher wird, dass das russische Wirtschaftsmodell, welches sich auf die Rohstoff-Renten stützt, auf Sand gebaut und anachronistisch ist. Immer wieder ist diesbezüglich die Rede davon, wie lange wohl noch „der Fernseher“ (die Propaganda) stärker als „der Kühlschrank“ (die Wirtschaftslage und die ökonomische Situation der Bürgerinnen und Bürger) sein wird.

Unter der Oberfläche beispiellos hoher Zuspruchswerte für Putin und seine (Außen-)Politik wird in Umfragen, wie schon seit eh und je, ein großes Misstrauen und eine tiefe Skepsis der Menschen gegenüber der Regierung erkennbar. Der Bevölkerung ist klar, dass das Regime Putins zutiefst korrupt ist und die wirtschaftlichen Aussichten des Landes negativ sind. Mit Hilfe einer massiven Desinformationskampagne versucht der Kreml aber geschickt, die alltäglichen Probleme der Bevölkerung zunehmend in einen Systemkonflikt zwischen Russland und dem Westen umzudeuten. Dabei werden gezielt tief sitzende kollektive Denkmuster aus der sowjetischen Zeit (der Westen wolle Russland kolonisieren, die Bevölkerung vernichten, in die Knie zwingen usw.) angesprochen.

Die Anti-US-Stimmung nahm in Russland in der Vergangenheit immer wieder wellenartig zu und ab, befindet sich jetzt aber seit längerem stabil auf einem historischen Hoch. Zunehmend bezieht sich die staatliche Rhetorik auch auf die EU und ihre Werte, schürt Ängste und betont angebliche Gegensätze. Insbesondere die baltischen Staaten, aber auch Polen, Großbritannien und Deutschland werden zunehmend zum Ziel. Infolge dessen gilt Deutschland, das jahrelang als beliebtester europäischer Staat in Russland gesehen wurde, nunmehr 18 Prozent der Bevölkerung als feindlich gegenüber Russland (2012 sahen dies nur 3 Prozent so). Die Anti-EU Stimmung ist ausgeprägt, allerdings nicht so deutlich wie der Antiamerikanismus.

Die Propaganda zielt darauf, die Gesellschaft mental in einen Kriegszustand zu versetzen. Dieses Vorgehen des Kremls ist dabei aber zum Großteil nicht außenpolitisch, sondern innenpolitisch motiviert: Die Prioritäten der Bevölkerung sollen verlagert (weg von Wirtschafts- und Sozialreformen, hin zum Militär und Sicherheitsapparat, dessen VertreterInnen die deutliche Mehrheit der gegenwärtigen politischen Elite stellen), Kritik am Regime nieder gehalten und eine weitere Systemkonsolidierung herbeigeführt werden. Liberale Ideen werden in den staatlich kontrollierten Medien schlecht geredet und diejenigen, die in Opposition dazu gehen, öffentlich diskreditiert.

Zivilgesellschaftliches Engagement in immer weiter schrumpfenden Freiräumen

Begleitet von der anti-westlichen Propaganda und der staatlichen Diffamation  gegen liberale Akteure schränkt der Kreml die Freiräume der unabhängigen Bürgergesellschaft immer stärker ein.

Die Versammlungsgesetze werden seit einiger Zeit Jahr für Jahr verschärft. Verstöße gegen die regelmäßig von den Behörden ausgesprochenen Demonstrationsverbote gelten nunmehr nicht nur als Ordnungswidrigkeit, sondern im Wiederholungsfall als Straftat. Insgesamt gab es in Moskau seit Beginn der dritten Amtszeit Putins  10.000 Verhaftungen in Zusammenhang mit Verstößen gegen das Demonstrationsrecht. Viele der Verhafteten wurden zu hohen Geldstrafen verurteilt, in Einzelfällen droht Aktivistinnen und Aktivisten in laufenden Gerichtsverfahren bis zu fünf Jahren Haft oder Hausarrest. 

Die Meinungsfreiheit, die, von einigen wenig gelesenen Tageszeitungen abgesehen, hauptsächlich noch im Internet existiert, wird durch eine zunehmende Kontrolle und Blockade von Internetseiten, Durchsuchung von Redaktionen, Anklageerhebungen wegen Facebook-Posts und Verfolgung von BloggerInnen eingeschränkt. Diese Form der Zensur und die staatliche Gängelung führt immer häufiger auch zu Selbstzensur unter den Autorinnen und Autoren.

Die Verschärfungen der NGO-Gesetzgebung – u. a. die sogenannten Gesetze über „ausländische Agenten“ und „unerwünschte ausländische Organisationen“– stellen schwere Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit dar. Unliebsame NGOs, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten, werden als „ausländische Agenten“ und „5. Kolonne“ des Westens diffamiert. Bereits mehr als 100 russische Organisationen sind als „ausländische Agenten“ eingestuft und mit Strafen in Höhe von insgesamt 20 Millionen Rubel (umgerechnet ca. 260.000 Euro) belegt worden. 25 Organisationen sahen keinen anderen Ausweg und haben sich aufgelöst.

Die Gesetzgebung zu den sogenannten „nicht erwünschten Organisationen“ hat vor allem die internationalen NGOs und Geberorganisationen im Visier. Organisationen, die von den Behörden als „unerwünscht“ erklärt werden, werden geschlossen. Bei Zusammenarbeit mit ihnen droht bis zu sechs Jahren Haft. Bislang wurden vier Organisationen, darunter die  Soros-Stiftungen, die seit 1987 in Russland tätig waren, als „unerwünscht“ eingestuft und geschlossen. Die Arbeit gerade von kleineren NGOs, die sich über Mittel dieser Stiftungen finanziert hatten, wird dadurch immer schwieriger.

Nichtsdestoweniger wurde in den Diskussionen deutlich, dass die russische Zivilgesellschaft bunt und lebendig bleibt. Trotz schrumpfender Freiräume engagieren sich die Menschen weiter. Die Themen der Zivilgesellschaft wandeln und diversifizieren sich, Feminismus und LGBT gewinnen an Relevanz, aber auch ein Trend in Richtung Engagement in weniger vom Staat drangsalierten Bereichen, wie Tierschutz oder Nachbarschaftshilfe, ist zu beobachten. Auf Zensur und Schließung von Medien wird teilweise mit der Gründung neuer, unabhängiger Onlineprojekte reagiert. Die internationale Finanzierung wird abgeschnitten, aber Crowdfunding nimmt zu. All das zeigt: Das zivilgesellschaftliche Engagement sucht sich seinen Weg und spürt dabei grundsätzlich Rückhalt aus der Bevölkerung.

 

Die EU aus der Perspektive von russischen Partnerinnen und Partnern

Die aktuellen politischen Entwicklungen in Europa und der Stand der EU-Russland-Beziehungen bildeten einen weiteren thematischen Schwerpunkt des Forums.

Die aktuellen Krisen, die die europäische Politik zu bewältigen hat, werden auch von den proeuropäischen Kräften in Russland mit großer Sorge gesehen. Sie empfinden die Diskussionen über Flucht und Asyl als eine Krise europäischer Werte. Angesichts des Zulaufs, den europaskeptische Kräfte in den EU-Staaten zu verzeichnen haben, und Tendenzen zu einer nationalistischen Abschottung der Mitgliedsstaaten, triumphieren in Russland die anti-europäischen Kräfte. Sie verweisen offen darauf, dass Europa gescheitert sei. Der Erfolg des Front National in Frankreich ist dabei auch ein direkter Erfolg des Regime Putins, das die Partei hofiert und mit Millionenbeträgen finanziell unterstützt hat.

Die russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Forum betonten, dass sie es nicht angemessen fänden, die gegenwärtige Entfremdung zwischen Russland und dem Westen und die wachsenden Spannungen auf angebliche Fehler des Westens in der Vergangenheit zurückzuführen. Es habe sicherlich Mängel in der Kommunikation und Missverständnisse gegeben, aber diese seien nicht ursächlich für das heutige Agieren Putins. Dieser sei viel mehr vom Wunsch nach Machtsicherung, als von außenpolitischen Entwicklungen angetrieben. Auch habe sich der Westen im Gegenteil jahrelang um ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland bemüht und damit de facto eine Art Appeasement-Politik betrieben, die die negativen Entwicklungen unter Putin nicht zur Kenntnis habe nehmen wollen.

Der Westen solle dem moralischen Relativismus Putins, der auf das Recht des Stärkeren setze, universelle Werte und moralische Klarheit entgegensetzen und seine eigene Position beharrlich verdeutlichen.

Die im Zusammenhang mit der russischen Ukraine-Politik verhängten Sanktionen seien richtig. Doch die Perspektive eines gemeinsamen europäischen Weges müsse grundsätzlich offen bleiben. Deshalb solle die EU an den Sanktionen festhalten, gleichzeitig aber Offenheit gegenüber der russischen Bevölkerung signalisieren. Der Westen solle auf den „neuen Kalten Krieg“ eine asymmetrische Antwort geben und Visaerleichterungen für Russland auf den Weg bringen.

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