Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Rundbrief an die Bremer Grünen zu Afghanistan

Liebe grüne Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

ich komme zurück von einer atemberaubenden Reise nach Afghanistan, die ich angetreten habe, um nach bestem Wissen und Gewissen am kommenden Freitag im Bundestag über das ISAF- und das Tornadomandat abstimmen zu können.

Zwei Tage reichen nicht, um ein Land kennenzulernen, aber zwei Tage haben gereicht, um mir zu vermitteln, dass dieses Afghanistan so komplex, die Geschichte der Kriege so lang, die innere Zerstörung der zivilen Gesellschaft so groß, das Schicksal als Spielball anderer Mächte so wirkungsmächtig ist, dass alle, die sich dort engagieren, einen sehr langen Weg vor sich haben.

Und das gilt sowohl für die internationale Gemeinschaft in all ihrer Unvollkommenheit, mit ihren Fehlern und dennoch letztlich als willkommene Schutzmächte gewünscht, als auch für die Menschen, die versuchen, ihr geschundenes Land von innen wieder aufzubauen.

Wie in allen Kriegsländern ist auch in Afghanistan die Elite gegangen - die einen wegen der Besatzung durch die Sowjets, die anderen wegen der dann folgenden Mullahs und die letzten wegen der Taliban. Nur wenige kommen zurück. Das Risiko des Misslingens ist allen wohl bewusst. Umso bewundernswerter sind der Mut und die Hingabe derjenigen, die zurückgekehrt sind, um ihren Teil zum Aufbau des Landes beizutragen. Dazu gehört auch der afghanische Außenminister Dr. Rangeen Spanta, der sehr wohl - als deutscher Staatsbürger und Professor - in Aachen hätte bleiben können, aber zurückgegangen ist, weil er an die Zukunft des Landes glaubt. Er ist derjenige in der Regierung Karzai, der am meisten angegriffen wird. Weil er der liberalste Kopf von allen Kabinettsmitgliedern ist; weil er am schärfsten in den Konflikt mit den alten Warlords und den Stammesführern gegangen ist und auch, weil er ein Grüner ist, also Mitglied einer Partei, die für die Rechte der Homosexuellen und auch die Rechte der Frauen eintritt – in diesem konservativen muslimischen Land kaum vorstellbar.

Und es gibt noch einen Grünen, der in verantwortungsvoller Weise beim Aufbau des Landes mithilft: Tom Koenigs, der in einem scheußlichen ehemaligen KGB-Gebäude lebt und wegen der hohen Gefährdung von zwölf! rumänischen Sicherheitsleuten bewacht wird, tief davon überzeugt, dass wir als internationale Gemeinschaft die Pflicht haben, die Menschen in diesem Land vor der Rückkehr der dunkelsten Zeiten zu schützen und von innen denen Raum zu geben, die eine Gesellschaft aufbauen wollen, in der die Menschenrechte gelten.

Die Afghanen selber haben das Gefühl, dass sie seit Jahrzehnten Spielball anderer Interessen gewesen sind: der britischen Kolonialherren, der russischen Besatzer, der Amerikaner, die ihren kalten Krieg gegen die Russen durch die Stärkung der religiösen Extremisten geführt haben. Und die Menschen haben erlebt, dass sie schon einmal alleine gelassen worden sind: nämlich als die Sowjetunion sich auflöste, der kalte Krieg zu Ende war, die Großmächte das Interesse verloren und dann die Extremisten kamen.

Auch die Zunahme der Selbstmordattentate nach irakischem Muster kommt im Übrigen von außen. Es sind in der Regel nicht Afghanen, sondern Araber, Pakistani, Usbeken oder Tschetschenen, die diese Attentate ausführen.

Die Sorge, die Menschen könnten noch einmal allein gelassen und der Rückkehr der Extremisten ausgeliefert werden, prägt das ganze Denken und Tun. Jede Lehrerin, die an dem Aufbau an einer Schule mitwirkt, ist sich bewusst, dass im Falle der Rückkehr der Taliban sie die erste sein wird, die verfolgt wird. Das Gleiche gilt für jede Ärztin, Musikerin, Frauenrechtlerin, ja sogar für die Mütter, die ihre Töchter in die Schule schicken und die Burka abgelegt haben.

Ja, es gibt viele Probleme, es ist auch vieles falsch gemacht worden. Die afghanische Regierung ist schwach, es gibt korrupte Minister, die Warlords sitzen zum Teil im Parlament. Das allerdings ist auch eine Folge davon, dass die internationalen Kräfte, die im Jahr 2001 als Folge eines UNO-Beschlusses in das Land gegangen sind, nicht wirklich stark genug waren, um mit allen Verbrechern aufzuräumen. Und – dass man sich auch nicht zu Besatzern sondern zu Helfern im Sinne des Empowerments machen wollte. Unzulänglichkeiten gibt es überall. Die Koordination der unterschiedlichsten Mandate und der Nationen untereinander lässt zu wünschen übrig. Zivile Opfer sind oft die Folge von Bombardierungen, weil keine Bodentruppen geschickt werden oder Soldaten aus purer Angst heraus agieren. Aber auch die Taliban wissen die berechtigte Empörung über zivile Opfer geschickt zu nutzen. Sie nehmen die Menschen als menschliche Schutzschilde und beklagen dann die Opfer. Daraus wird dann die moralische Kraft der Opfer – ein Mittel, das Terroristen gerne gebrauchen.

Das Nachbarland Pakistan ist zwischenzeitlich der eigentliche Hort der Taliban und von Al Qaida geworden. Wenn es nicht gelingt, auf dieses Land Druck auszuüben, wird der Extremismus wie eine Hydra sein, der sieben Köpfe nachwachsen, wenn ein Kopf abgeschlagen wurde. Und auch der Iran treibt durch Afghanistan sein Spiel mit den USA. Eine Niederlage des Westens in Afghanistan käme dem Iran, der an seiner atomaren Macht bastelt, gerade recht. Es gibt viele, zu viele ‚hidden agendas’ in Afghanistan.

Ich konnte diese Woche die afghanische Frauenministerin treffen, die fünf Jahre im Keller ihrer Eltern verborgen gelebt hat. Inzwischen gibt es in jeder Provinz ein Frauenbüro, eine Anlaufstelle gegen Gewalt und Diskriminierung. Das treibt der zutiefst patriarchalischen Gesellschaft, die Männerherrschaft und die Gewaltbereitschaft über Frauen und Kinder nicht aus - aber Frauen beginnen, sich zu artikulieren.

Die unabhängige Menschenrechtskommission der Regierung hat 570 Mitglieder, die in allen Provinzen arbeiten. Es wird nach wie vor gefoltert im Land, der Weg zu einer vertrauenswürdigen Justiz und einer gerechten Polizei ist noch sehr weit, aber man beginnt, über die Menschenrechtsverletzungen zu sprechen. Diese Menschenrechtskommission war es auch, die 12.000 Menschen auf dem Land – und nicht in der Stadt – nach der Präsenz der internationalen Truppen befragte und mehr als dreiviertel der Menschen wünschen die Internationalen im Land.

Heute Vormittag habe ich mit einer großen Gruppe von Frauen in der Böll-Stiftung Kabul zusammengesessen. Die Frauen sind sehr verunsichert. Sie haben große Angst, dass die Internationalen wieder gehen könnten. Sie befürchten, die ersten zu sein, die von rückkehrenden Taliban verfolgt werden. Sie nennen drei Notwendigkeiten: Sicherheit, damit sie überhaupt arbeiten können, zivilen Aufbau, damit die Menschen merken, dass es vorangeht, und Gerechtigkeit und Gleichheit. Diese Frauen arbeiten in der Menschenrechtskommission, im Parlament, als Journalistinnen und in der Mediation mit den Stammesältesten. Ich fragte sehr dezidiert nach den Tornados. Dieses Thema war ihnen fremd. Die Tornados sind nicht Gegenstand ihrer Debatten. Sie fragten mich, ob wir bleiben, oder ob uns der Atem ausgehen wird. Sie sagten mir, dass die Taliban sehr genau beobachten, ob die internationale Gemeinschaft anfängt zu wackeln und ob es gelingt, einen nach dem anderen aus dem Engagement in Afghanistan herauszubrechen.

Ich versuchte den Frauen zu vermitteln, dass wir in demokratischen Gesellschaften sehr gute Gründe brauchen, wenn wir das Militär in ein anderes Land schicken. Sie sagten, wenn das Zeichen käme, dass Deutschland nicht verlässlich sei, würde sofort die Furcht derjenigen wachsen, die nicht wissen, wer letztlich siegen wird. Und schon das schwächt die Gruppe derer, die am zivilen Aufbau des Landes arbeiten.

Liebe grüne Freundinnen und Freunde, diese Frauen wissen um die Fehler und die Unzulänglichkeiten der Mission in Afghanistan. Aber sie vertrauen den Deutschen, weil unser Auftreten zivil und zugewandt ist. Sie bitten uns, ihnen Schutz zu geben.

Winfried Nachtwei schreibt in seiner letzten Bewertung der Tornadoeinsätze vom 13. September, die Tornados seien dazu angetan, den Schutz der ISAF-Truppen zu erhöhen. Bisher gebe es keine Belege, dass die gewonnenen Bilder für Bombardierungen durch OEF genutzt worden sind, allerdings sei die Bundesregierung genaue Angaben schuldig geblieben.

Nur eine kleine Minderheit der Delegierten in Göttingen hat für den sofortigen Abzug aus Afghanistan gestimmt. Die anderen haben bekräftigt, dass die ISAF-Mission weitergehen soll. Die Frauen von heute Vormittag verstehen nicht, dass die Tornados so wichtig sein sollen, dass wir der Fortsetzung der ISAF-Mission unsere Stimme verweigern.

Als ich mich verabschiedete, fühlte ich mich wie bei manchem Abschied in Bosnien. Dort sagten die Menschen immer „Ihr könnt gehen, aber wir müssen bleiben“.

Ich glaube an die Verpflichtung, den Menschen Schutz zu geben, die an der Beendigung der grausamen Talibanherrschaft in Afghanistan mitwirken.

Ich fühle mich diesen Frauen verbunden und verpflichtet. Und ich werde deswegen am Freitag der Verlängerung des ISAF-Mandates zustimmen.

Nach dem Versagen der UNO in Srebrenica haben die Vereinten Nationen angefangen, neben dem Recht auf Souveränität die Pflicht zum Schutz der Menschenrechte zu stellen. Der UN-Summit von 2005 hat die “responsibility to protect” zum Programm erklärt. Diese Verpflichtung ist ein Programm für die Menschenrechtspartei, also für uns Grüne.

Und wer noch etwas über dieses eigentlich so wunderbare Land lesen möchte, dem empfehle ich zwei Bücher von Khaled Hosseini, einen afghanischen Arzt, der vor den Mujaheddin geflohen ist und nun für den UNHCR arbeitet: ‚Der Drachenläufer’ und sein neu erschienener Roman ‚Tausend strahlende Sonnen’.

Es grüßt Euch herzlich aus Kabul,

Eure Marieluise Beck

Einen umfangreichen Reisebericht finden Sie hier .

Thema: