Marieluise Beck über den Ukraine-Konflikt
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Wer sich in den Osten der Ukraine an die russische Grenze begibt, sieht ein anderes Land als im schicken Kiew. Die besetzten Gebiete sind derzeit nicht zugänglich. Was sich „drinnen“ abspielt, dringt nur über Anrufe von Verwandten oder wenige Grenzgänger nach außen. Kriminelle und Warlords terrorisieren die Bevölkerung. Verwaltungsstrukturen gibt es nur rudimentär, rechtsstaatliche Strukturen fehlen. Die anti-ukrainische Propaganda ist allgegenwärtig. Familien bleiben getrennt, weil die Zurückgebliebenen oft glauben, auf der anderen Seite herrschten Faschisten. Und so sagen uns fast alle, die wir treffen: Die Waffen müssen schweigen, wir wollen Versöhnung, wir wollen endlich Frieden.
Ein großes Hindernis für die Begegnung der Menschen diesseits und jenseits der „Kontaktlinie“ ist der beschwerliche Weg über diese Grenze. Ihm geht voraus ein langwieriger Papierkrieg. Die Busreise durch 23 Kilometer Niemandsland dauert zehn Stunden und ist teuer, Schmiergelder inbegriffen. Für Rentner, die ihre Rente von 40 Euro nur jenseits der Kontaktlinie abholen können, ist das eine kaum zu überwindende Hürde. Wer sich an die menschliche Härte der deutschen Teilung erinnert, könnte angesichts dieser von beiden Seiten betriebenen Spaltung verzweifeln.
Jenseits aller großen politischen Fragen muss vor allem jede Form von Begegnung der Menschen, also Mobilität herbeigeführt werden. Zuallererst ist ein funktionierender Waffenstillstand notwendig, wie er in Minsk vereinbart wurde. Die Bundesregierung muss darauf drängen, dass Minsk auch umgesetzt wird. Die OSZE braucht endlich freien Zugang, um kontrollieren zu können, ob Waffen und Kämpfer tatsächlich abgezogen werden. Am Abend sind plötzlich Schüsse aus Richtung Osten zu hören. Ein Anruf setzt uns in Kenntnis, dass nahe Lugansk neue russische Truppen in Zelten stationiert worden sind. Ist das ein Vorzeichen für eine neue Offensive?
Wo sind ukrainischen Autoritäten, die die politische Fürsorge für diese Menschen in den Randgebieten übernehmen? Es wäre ein Drama, wenn dieses geschundene Land nicht nur von außen bedrängt, sondern von innen achtlos regiert würde. Die Regierung Poroschenko droht, die Menschen im Donbass zu verlieren. Nach wie vor gehen die Reformen langsam voran. Die Menschen erleben vor Ort selber im Kleinen die Alltagskorruption etwa an den Checkpoints. Aber auch aus Kiew gibt es überaus ungemütliche Nachrichten über Korruption bis in höchste Ministerkreise. Die Regierung darf die Hoffnungen des Majdan nicht verspielen. Wir verabschieden uns mit dem festen Vorsatz, „denen in Kiew“ heftig auf die Zehen zu treten, damit diese Region nicht zum schwarzen Loch wird.
Gastautorin Marieluise Beck ist Bremer Bundestagsabgeordnete der Grünen und Sprecherin für Osteuropapolitik. Sie reiste vor wenigen Tagen in die Regionen der Ostukraine, die unter Kontrolle Kiews stehen. Der Gastkommentar erschien am 16. Dezember 2015 im Weser Kurier.