Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Grüne befragen Bundesregierung zur Rechtsstaatlichkeit in Russland

Die Europäische Union ist vor einem Jahr mit Russland eine Modernisierungspartnerschaft eingegangen. Sie dient "einem Europa, das auf einer breit angelegten Zusammenarbeit gründet ohne Trennlinien, einer Gemeinschaft demokratischer, rechtsstaatlicher Gesellschaftsordnungen", wie die Außenminister Russlands und Deutschlands in einem gemeinsamen Artikel schrieben. Ein Erfolg dieser Bemühungen ist im beiderseitigen Interesse. Denn die EU und Russland sind Nachbarn mit engen Verflechtungen. Intensive Kooperation auf vielen Gebieten ist unerlässlich für beide Seiten.

Unverzichtbarer Teil einer Modernisierung ist die Herstellung von Rechtsstaatlichkeit . Darüber herrscht Konsens zwischen der EU und Russland, aber auch in Russland selbst. Dieser Konsens besteht auch bei der Beurteilung gravierender Defizite in diesem Bereich. Nach Ansicht des russischen Präsidenten Medwedew herrscht in Russland "Rechtsnihilismus" . Zwar gibt es positive Ansätze wie die Strafprozessordnung von 2001 oder die Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK. Wiederholt angekündigte und teilweise durchgeführte Reformen im Justizwesen haben jedoch bisher keine durchgreifenden Erfolge gebracht. Die Missachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze wie des Bestimmtheitsgrundsatzes, der Verhältnismäßigkeit, der Güterabwägung, das Fehlen einer einheitlichen Rechtsprechung und die oft ausbleibende Umsetzung rechtskräftiger Urteile machen die Reformansätze regelmäßig zunichte.

Diese Reformversuche mögen auf wachsendes Problembewusstsein zumindest in Teilen der Regierung hindeuten, ihr Scheitern jedoch weist auf tiefer liegende Probleme der Transformation vom Totalitarismus zum Rechtsstaat hin. Es gibtvielfältige offensichtliche Symptome für eine problematische Haltung von Justizorganen, Verwaltung und Regierung zum Rechtsstaat: Angefangen von spektakulären Fällen wie dem Tod des Anwalts Sergej Magnitski in Untersuchungshaft, den Prozessen gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew, den noch immer nicht befriedigenden Ermittlungen und fehlende Verurteilungen wegen der Morde an Anna Politkowskaja und Natalia Estemirowa, über öffentliche Vorverurteilungen Chodorkowskis durch den Ministerpräsidenten Putin, bis hin zur aggressiven Zurückweisung von Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes durch den russischen Verfassungsgerichtspräsidenten. 

Zu diesen Symptomen, wenn auch öffentlich weniger wahrgenommen, gehört neben Mängeln im Normensystem auch die mangelhafte Anwendung bestehender Regeln und Umsetzung von Gerichtsurteilen z.B. bei der Polizei, im Gerichtswesen und im Strafvollzug. Skandalöse Ausmaße nehmen diese Zustände im Nordkaukasus ein, wo unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus regelmäßig schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Behörden geschehen. Nicht nur Verdächtige und ihre Familien, sondern auch Anwältinnen und Anwärte und kritische Journalistinnen und Journalisten sind dort ständigen schweren Bedrohungen ausgesetzt. An dem so entstandenen Klima der Angst hat sich auch nach zahlreichen einschlägigen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nichts geändert.

Unter diesen Bedingungen wirken sich die Defizite der rechtsstaatlichen Entwicklung auf alle Sphären der Gesellschaft aus. Mangelndes Vertrauen in Justiz, Polizei und Armee, systematische Behinderung der Entwicklung von Parteien- und Medienlandschaft, eine chronisch schwache unabhängige Zivilgesellschaft – all das sind Anzeichen von Defiziten der rechtsstaatlichen Kultur und von mangelnder Rechtssicherheit.

Ein Bereich mit besonders deutlichen Auswirkungen der rechtsstaatlichen Mängel ist die Umweltgesetzgebung bzw. ihre Anwendung. Am Beispiel der Auswirkungen der Atomkatastrophe Majak1957 im südlichen Ural zeigt sich das exemplarisch. Nach wie vor werden straflos radioaktive Abfälle in Flüsse geleitet, Entschädigungszahlungen behindert und notwendige Schutzmaßnahmen unterlassen.

Die Große Anfrage , die wir in dieser Woche an die Bundesregierung richten, befasst sich mit all diesen Fragen. Dazu gehört nicht nur die Situation in Russland selbst. Auch der Umgang mit den Problemen durch Deutschland und die Europäische Union sowie die Versuche, Russland bei ihrer Lösung Unterstützung zu leisten, sind Teil der Fragen. Die Antwort der Bundesregierung wird voraussichtlich in 6 Monaten vorliegen.

Lesen Sie hier die Große Anfrage "Rechtsstaatlichkeit in Russland"

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