Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Eine politische Zwischenbilanz. Erklärung an den Grünen Landesverband Bremen.

Mein Weg mit den Grünen. Eine politische Zwischenbilanz.

 

Liebe Bremer Grüne,

mein Weg in die Grünen wurde vor 36 Jahren angestoßen durch die Begegnung mit einem Überlebenden der Shoa. Zu jener Zeit war ich eine junge Lehrerin in Baden-Württemberg, betätigte mich ehrenamtlich in einer psychosozialen Beratungsstelle und wollte damals mit Politik nichts zu tun haben. Die Begegnung mit Heinz Brandt führte mich auf einen anderen Weg. Er, der sowohl unter dem Terror der Nazis als auch der DDR-Diktatur gelitten hatte, führte mir vor Augen, dass politisches Sichfernhalten keine edle Haltung ist. Also trat ich der frisch gegründeten grünen Partei bei, wobei mich der Begriff der „Partei“ angesichts der historischen Konnotation immer noch ein wenig verschreckte. Schon nach vier Monaten wurde ich Sprecherin der baden-württembergischen Grünen. „Entdeckt“ hatte mich übrigens Winfried Kretschmann, der in mir ein gewisses politisches Talent zu sehen glaubte.

Vom Pazifismus zur „Responsibility to Protect“

Die beginnenden 1980er Jahre waren geprägt durch die Auseinandersetzung um eine atomare Aufrüstung auf dem europäischen Kontinent. Den sowjetischen Mittelstreckenraketen vom Typ SS20 sollte mit der Stationierung von amerikanischen Pershing II-Raketen begegnet werden. Wir stemmten uns mit aller Kraft gegen diese Aufrüstungsspirale. Ich war der festen Überzeugung, dass einseitige Abrüstung und „Nie wieder Krieg“ die einzige moralische Antwort nach den Katastrophen und Verbrechen des 20. Jahrhunderts sein konnte. Außerdem vertrat ich die Haltung, dass es in jedem Falle besser sei, auf militärische Gegenwehr gegen einen möglichen Aggressor zu verzichten. Gewaltfreier Widerstand würde in jedem Falle Leben schützen.

Erst viele Jahre später, als ich mit den jugoslawischen Zerfallskriegen in Berührung kam und viele, viele Male nach Bosnien reiste, änderte sich meine Perspektive. Zum ersten Mal in meinem Leben lernte ich das Geräusch von Artilleriegeschossen kennen und saß in Zenica mit Menschen im Keller, die die bange Frage umtrieb, ob es gelingen werde, den Verteidigungsring um die Stadt aufrecht zu erhalten. Es waren die muslimischen Bosnier, die wussten, dass ein Eindringen der Tschetniks Vertreibung und Tod, für die Frauen die Gefahr sexueller Gewalt bedeuten würde. Dieser Perspektivwechsel stellte mein Denken vom Kopf auf die Füße. Es waren die Opfer, die zurecht fragten, warum schützt ihr uns nicht. Wieder war es eine jüdische Stimme, in diesem Fall der Herzchirurg und Überlebende des Warschauer Ghettos Marek Edelman, der die Welt aufforderte, dem Morden in Bosnien nicht weiter tatenlos zuzusehen. Ich schloss mich mit einem kleinen Kreis von Gleichgesinnten dieser Überzeugung an und erinnere mich nur zu gut, dass diese Haltung von weiten Teilen der Grünen Partei als große Zumutung empfunden wurde. Dieser Blick auf die Opfer blieb der rote Faden in den kommenden Jahren. Nicht nur in Bosnien, wo die Katastrophe von Srebrenica uns lehrte, dass nur fünfzig Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs ein für nicht mehr möglich gehaltener Genozid mitten in Europa stattfinden konnte.

In dieser Zeit haben viele Bremerinnen und Bremer den geschundenen Menschen in Bosnien geholfen. Die Städte Tuzla und Lukavac hatten nicht den Bekanntheitsgrad von Sarajevo, aber auch sie waren über Monate hinweg von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Der erste Konvoi mit 180t Mehl, Zucker und Öl, der nach acht Monaten des Eingeschlossenseins diese beiden Städte erreichte, kam von unserem Verein „Brücke der Hoffnung“, aus unserer Stadt. In Lukavac gibt es seither als Dank einen Platz mit dem Namen „Bremen Platz“.

Der Blick auf die Opfer bedeutet immer auch den Kampf um Menschenrechte: Freiheit, Sicherheit, das Recht von Minderheiten auf Schutz und Gleichberechtigung, das Recht auf Vielfalt und das Recht auf Anderssein. Diese Menschenrechtspolitik ist eine der starken Säulen der Grünen. Und selbstverständlich gehören auch ökologische und soziale Rechte dazu: das Recht auf sauberes Trinkwasser, auf gesunde Nahrung, auf Bildung, auf Gesundheitsversorgung.

Von der Ausländer- zur Einwanderungspolitik

Zu Zeiten der rot-grünen Regierung durfte ich als erste grüne Ausländerbeauftragte – aus der wir die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration machten – die Debatte über Deutschland als Einwanderungsland mit anführen. Da wehte uns der Wind oft hart ins Gesicht. Die Weigerung der Konservativen, etwas anzuerkennen, was längst Realität war, nämlich Deutschland als Einwanderungsland und damit als Land mit neuen Herausforderungen, war heftig. Die Angriffe waren scharf. Die Zeiten, als Deutschland über die doppelte Staatsbürgerschaft und das Kopftuch diskutierte, extrem aufgeheizt. Zu jener Zeit war es technisch noch nicht möglich, per Mausklick wüste Verunglimpfungen bis hin zu Morddrohungen abzusenden. Sie kamen per Postkarte und Telefon. Und ich bin noch immer meinen damaligen Mitarbeitern dankbar, die häufig diese Botschaften verschwinden ließen, bevor ich sie zu Gesicht bekam.

Überwindung der europäischen Teilung

Nach dem Verlust der grünen Regierungsbeteiligung im Bund war meine dritte Etappe die Politik in und für Osteuropa. Niemals hätte ich so rasch verstehen können, wie tief die 1945 auf der Krim beschlossene Teilung Europas reichte, wenn es nicht das großartige Netzwerk der Heinrich-Böll-Stiftung in jenen Ländern gegeben hätte. In den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas hatte die Stiftung ein feines Netzwerk von Bürgerrechtlern, Ökologen, kritischen Journalisten und Frauenrechtlerinnen geschaffen. Die historische Verantwortung für diesen Teil Europas, der so lange von Demokratie und Menschenrechten abgeschnitten war, ist nach meiner tiefen Überzeugung immer noch eine der vornehmsten Aufgaben der Grünen. Wer Osteuropa verstehen will, der darf seine Augen nicht nur auf Putin und den Kreml richten. Er sollte Menschen wie Arsenij Roginskij von Memorial Russland anhören, der für seine historischen Recherchen über die Stalinzeit in den Gulag gehen musste. Er sollte Ljudmila Alexejewa erlebt haben, die unter dem Schutz der Helsinki-Vereinbarungen winzige Kerne einer Bürgerrechtsbewegung um sich herum zu scharen begann. Er sollte wissen, dass in Weißrussland jeder vierte Zivilist durch die Hand von SS und Wehrmacht umgekommen ist. Dass die Memel einst ein jüdischer Fluss war. Dass die Ukraine einer der Hauptschauplätze des Vernichtungskriegs der Wehrmacht war. Dass von dort der überwiegende Teil der sowjetischen Zwangsarbeiter kam, die millionenfach nach Deutschland verschleppt wurden. Und natürlich, dass alle diese Orte auch Schauplatz der Shoa waren.

Gleichzeitig muss ein Grüner auch wissen, dass der Überfall auf Polen 1939 einer schändlichen Vereinbarung zwischen Hitler und Stalin folgte, die das Baltikum, Polen und Bessarabien bis 1941 unter sich aufgeteilt hielten, und die Menschen dort dem braunen und dem roten Terror ausgeliefert waren. Städte wie Charkiw, Dnipropetrowsk und Odessa haben immer noch oder wieder große jüdische Communities. Die sogenannte Intelligenzija sowohl in Russland als auch in der Ukraine ist zumeist jüdisch. Alexey Botvinov, der wunderbare Pianist aus Odessa, mit dem wir die musikalische Bande zwischen Bremen und Odessa geknüpft haben, gehört dazu.

Bremen: buten un binnen

Politik bedeutet für mich immer auch Begegnung mit Menschen. Ich kenne das Gerücht, das über mich gestreut wird, ich hätte mich nicht genügend für Bremer Belange eingesetzt. Tatsächlich habe ich in meiner Zeit als Abgeordnete eine Vielzahl von Kontakten in die Stadt geknüpft und Beziehungen aufgebaut, die bis heute tragen. Da sind mehrere Schulen, die sich zu Schulen gegen Rassismus erklärt haben und denen ich als Patin zur Seite stehe. Da ist der Kulturladen Huchting, der geradezu liebevoll meine Arbeit begleitet hat. Die engagierten Sozialarbeiter der akzeptierenden Jugendarbeit von VAJA, die selbstbewussten Frauen von Quirl, die Ausbildungsstätten für benachteiligte Jugendliche, die Bienenzüchter aus Oberneuland, Gospel und HipHop aus Bremerhaven, der Boxverein für junge Migranten, die kirchliche Frauenarbeit, der Domchor, der inzwischen als RathsChor auftritt und der große Tisch in der Wernigeroder Straße 10, um den sich immer wieder Menschen aus allen Teilen der Stadt und aus allen sozialen Schichten versammelt haben. Es waren tatsächlich mehr als 2.500 Menschen, die im Laufe der letzten Jahre Beck@Home aufgesucht haben. Es wurde offen und kontrovers diskutiert, ohne Denkverbote, und ich war immer glücklich, wenn nach diesen drei- oder vierstündigen Abenden auf dem Bürgersteig immer noch kleine Grüppchen standen, die weiter diskutierten. Ich habe das immer auch als Arbeit für die Partei verstanden. Denn Parteiarbeit bedeutet nach meinem Verständnis, dass zwar Gremien notwendig und wichtig sind, aber das Zugehen auf die Menschen um uns herum unsere eigentliche Aufgabe ist.

Über die Jahre haben mein kleines Team und ich mit vielen klugen Gästen zur politischen Debatte in Bremen beigetragen. Wir organisierten Veranstaltungen zu vielfältigen Themen: Selbstbestimmt sterben, Wasserstoff-Flugzeuge, Stammzellen, Datenschutz, Bahnlärm, Frauenwünsche, nukleare Katastrophen, Querfront. Wir diskutierten Ereignisse in Darfur, Tunesien, Afghanistan, Pakistan, Iran, Balkan, Osteuropa. Wir praktizierten kreative Formate: politische Biografien, Politkrimi-Lesungen im Wohnzimmer, Filmvorführungen im Kino, kleine und große Konzerte. Und selbst die Musik traf politische Töne: RechtsRock, HipHop auf Xhosa, russischer Punk bis hin zu den odessitischen Komponisten Silvestrov, Freidlin und Karamanov.

Ich bedanke mich, dass ich so viele Jahre mit Eurer Mithilfe und Eurem Vertrauen die Möglichkeit hatte, meinen Überzeugungen zu folgen, Geistesverwandten zu begegnen und damit Freundschaften und Hoffnungen zu begründen, die immer auch mit der Partei Die Grünen verbunden waren. Nicht selten konnten wir sogar Schutz geben. Wenig im Verhältnis zur Menge des Elends in der Welt, aber viel für die, denen er zuteilwerden konnte.

Dies gilt für inhaftierte Oppositionelle in Belarus, für die ich Patenschaften übernahm, um Hafterleichterungen zu erreichen und sie nicht dem Vergessen anheim zu geben. Alle sind zu unserer großen Freude wieder frei. Vielleicht wissen manche von der alleinerziehenden libanesischen Mutter und ihren sieben Kindern, die wir seit 13 Jahren begleiten; von den drei Kindern aus dem Irak, die sieben Jahre verzweifelt um die Ausreise zu ihren nach Bremen geflohenen Eltern kämpften; oder von dem kleinen Faris, der von seinem Vater nach Tunesien entführt wurde und dessen Rückkehr zu seiner Mutter nach Findorff nach hartnäckiger Intervention glücklicherweise gelang.

Grün sein heißt Partei ergreifen

Heute, 36 Jahre nachdem ich der Partei beigetreten bin, weiß ich, dass das Wissen um die Zerstörung des jüdischen Lebens in Europa der Boden ist, der mein Denken und Handeln beeinflusst. Ich bin voller Dankbarkeit, dass die Verbindung mit dem hochaltrigen Juri Elperin, aus Berlin vertrieben, nach Russland verschlagen und nach Berlin zurückgekehrt, mir sehr viel Kraft gegeben hat.

Für mich bedeutete grüne Politik immer, dass wir uns nicht in den eigenen Kreisen einigeln, sondern unsere Fühler in die Gesellschaft ausstrecken. Und es bedeutete, Partei für die Opfer von Unrecht und Gewalt zu ergreifen. Der gerade verstorbene Nobelpreisträger Elie Wiesel hat es uns als Nachgeborene noch einmal sehr deutlich aufgetragen: „We must always take sides. Neutrality helps the oppressor, never the victim. Silence encourages the tormentor, never the tormented.” Das bedeutet Parteilichkeit. Parteilichkeit gegen Verbrechen, die selbst von alten Demokratien begangen werden: Abu Ghraib, Guantanamo, die Intervention im Irak auf Basis vorgetäuschter Informationen. Es bedeutet Parteilichkeit für die von Taliban terrorisierten Menschen in Afghanistan. Es bedeutet Parteilichkeit für das Recht von Israelis ebenso wie der Palästinenser, innerhalb von sicheren Grenzen zu leben. Es bedeutet Parteilichkeit gegenüber Gewalt und Straflosigkeit in Tschetschenien. Natalja Estemirova ist nur eine von jenen, die ich gut kannte und die für ihren Mut mit ihrem Leben bezahlte. Es bedeutet Parteilichkeit gegenüber autoritären Regimen. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats habe ich auch gegen Widerstände kritische Berichte und Resolutionen durchgesetzt, um den demokratischen Kräften in Osteuropa zur Seite zu stehen. Diese Dokumente sind wichtige Grundlagen, auf die sich Bürgerrechtler gegenüber den Regierungen berufen können. Und es bedeutet Parteilichkeit, wenn die europäische Friedensordnung durch die russische Aggression gegen die Ukraine aus den Angeln gehoben wird.

Mit dieser Haltung bin ich bei manchem von Euch immer wieder auf Unverständnis und auch auf Abwehr gestoßen. Doch Widerspruch, wenn er denn offen ausgetragen wird, kann durchaus befruchtend sein. Ich habe mich mit meiner Haltung immer als authentische Bremer Grüne gefühlt. Denn einer weltoffenen Hansestadt hat es immer gut angestanden, die Schicksale „draußen“ auch als unsere zu begreifen. Hans Koschnik hat uns gezeigt, wie gut das unserem kleinen Bundesland zu Gesichte steht.

Ein neues Kapitel

Es ist kein Geheimnis, dass ich meine Arbeit als Abgeordnete gern in diesem Sinne fortsetzen würde. Ich gehöre noch nicht zum alten Eisen und habe noch einiges vor. Viele, mit denen ich eng zusammengearbeitet habe, hoffen sehr auf eine Fortsetzung. Aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Teile der Partei in Bremen finden, dass es Zeit für einen Wechsel ist. Nach so vielen Jahren engagierter Politik für die Grünen werde ich nicht erneut in eine Kampfkandidatur gegen maßgebliche Kräfte des Bremer grünen Establishments gehen.

Ich verabschiede mich von Euch als Bremer Kandidatin und mache mich auf neue Wege mit dem Kompass, der sich in meinem politischen Leben herausgebildet hat.

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