Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Plenarrede zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo

Am 11. Juni 2015 debattierte der Bundestag in erster Lesung die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo im Rahmen der durch den UN-Sicherheitsrat mandatierten KFOR-Mission. Der entsprechende Antrag der Bundesregierung wird nach Beratung in den Ausschüssen am 19. Juni abschließend beraten und abgestimmt. Die grüne Bundestags Fraktion nutzt auch dieses Jahr den Mandatsbeschluss, um mit einem Entschließungsantrag die eigen Vorschläge für eine Kosovo-Politik zu formulieren. Den Antrag finden Sie hier.

Lesen Sie hier den Redetext von Marieluise Beck:

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Vielen Dank. Das ist vorbildlich. – Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich wenige Tage, nachdem sich der Albtraum in Srebrenica abgespielt hatte und von der Batteriefabrik in Potocari etwa 7 000 männliche Kinder, junge Männer und auch Frauen aus den Händen von Blauhelmsoldaten in die Wälder entführt und dort ermordet worden sind, vor Ort war, wer das sehr nah miterlebt hat, der kann mit so einfachen Wahrheiten, Herr Neu, wie Sie sie hier dargelegt haben, nicht umgehen. Denn es gibt zwei Seiten. Es gibt einmal das „Nie wieder Krieg“ – da haben Sie recht –, aber die zweite Seite heißt: Nie wieder Opfer.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie wir diese Lehre für uns umsetzen. Denn das ist die zweite Lehre aus der deutschen Geschichte mit der nationalsozialistischen Aggression, mit der wir ganz Europa überzogen haben.

Wir beraten seit 1999, also nun zum 16. Mal, dieses KFOR-Mandat. Ich würde trotz der kurzen Zeit darum bitten, dass wir nicht nur auf das Kosovo schauen. Es ist nur ein Teil des Gebietes. Der Westbalkan ist miteinander verbunden. Wir sollten tatsächlich sehr aufmerksam beobachten, dass es in der Region stärker brodelt, als wir es vor 20 Jahren vielleicht für möglich gehalten haben. Wir alle waren davon ausgegangen, dass nach einer Beruhigungsphase und mit dem Ausblick und der Möglichkeit, den Weg nach Europa einzuschlagen, die Staatenbildung und die Institutionenbildung schneller vorangehen würden, dass Gewalt, Hass, Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit schneller überwunden werden könnten, als es sich dann tatsächlich herausgestellt hat.

Es gibt neue Hotspots. Während der Ministerpräsident Serbiens eine EU-orientierte Politik macht, fordert der serbische Präsident das Kosovo für Serbien zurück. In BosnienHerzegowina ist die Föderationsregierung gerade wieder zerbrochen. Es gärt in der Republik Srpska, weil Präsident Dodik um sein politisches Überleben kämpft. Mazedonien steuert unter einem Premierminister, der in seiner Politik immer repressiver wird – der Journalismus gerät immer stärker unter Druck –, immer tiefer in die Krise. Es gab die offene, gewalttätige Auseinandersetzung in Kumanovo. Wir wissen bis zum heutigen Tage nicht, was dort wirklich passiert ist. Aber diese Gewalttat wird von vielen Seiten politisch instrumentalisiert, einmal ethnisch oder um die autoritären Strukturen des Regimes noch stärker zu rechtfertigen.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Frau Kollegin Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Neu?

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ja, bitte.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt:

Bitte schön.

Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE):

Frau Kollegin Beck, Sie sprachen vorhin von Opfern. Sehen Sie auch die Opfer in der Ostukraine, verursacht durch ukrainisches Militär, zivile Opfer, mehrere Tausend? Sehen Sie die Opfer in Südossetien 2008? Sehen Sie die Opfer im Kosovo, die nach dem NATO-Einmarsch geflüchtet sind? Etwa 250 000 Serbinnen und Serben und Roma sind nach Zentralserbien geflüchtet und konnten bis heute nicht zurückkehren. Sehen Sie auch diese Opfer? Warum plädieren Sie nicht dafür, dass KFOR für ausreichend Sicherheit sorgt, damit auch diese Opfer zurückkehren können?

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Ich bin im Augenblick etwas überfordert, diese Verbindung zu sehen. Sie haben vollkommen recht: Opfer müssen im politischen Zusammenhang gesehen werden. Ich habe gerade mit meinem Kollegen darüber gesprochen: das Beispiel Vietnam. Der Einmarsch Vietnams in Kambodscha – er war völkerrechtlich nicht eindeutig gedeckt, nicht durch ein UN-Mandat gedeckt – hat einem unglaublichen Regime wie dem von Pol Pot ein Ende bereitet. Diese Frage können Sie nur noch politisch entscheiden. Das ist die Schwierigkeit, vor der wir als Politiker stehen. Wir müssen die Entscheidungen, die wir gefällt haben, moralisch und ethisch verantworten.

Es gibt Recht und Völkerrecht. Es gibt auch eine Unterscheidung von Tätern, Aggressoren und Opfern. Es war Hannah Arendt, die uns mit auf den Weg gegeben hat, dass wir uns vor der Bewertung von Tatsachen nicht wegschleichen können. Das ist der feste Grund, auf dem wir stehen. Dabei brauchen wir dann das Völkerrecht.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Kommen wir zurück zum Balkan. Die Situation auf dem Balkan ist im Augenblick sehr fragil. Auch EULEX hat es nicht ganz geschafft, sich von diesen schwierigen Verhältnissen frei zu halten. Das politische Problem ist, dass wir gegen die Perspektivlosigkeit der Menschen in der Region ankämpfen, die das Gefühl haben: Wir wissen nicht, ob wir hier eine Zukunft haben. – Das hat etwas mit den Menschen zu tun, die unser Land erreichen.

Ich würde schon sagen: 20 Jahre, nachdem auf dem Westbalkan die OSZE, die UN, die EU, viele NGOs und unsere Stiftungen aktiv sind und unterschiedliche Stabilisierungsabkommen in Kraft getreten sind, müssen wir in einen Review-Prozess eintreten, nicht nur für die Politik des Auswärtigen Amtes, sondern auch für unsere Stabilisierungspolitik auf dem Westbalkan.

Ich kann nur ganz deutlich sagen: Ich habe mir vor 20 Jahren vorgestellt, dass die Staatenbildung einfacher und schneller vonstatten geht. Ich habe gedacht: Wenn Menschen die Freiheit bekommen, wird der Schub, der dadurch gesellschaftlich entsteht, größer sein. Insofern lernen wir, dass Transformationsprozesse, die vor allen Dingen die Beteiligung der Bürgergesellschaft und damit die Freiheit für zivilgesellschaftliches Engagement von unten brauchen, sehr viel Zeit benötigen. Wir werden das auch in der Ukraine erleben, Herr Kollege Neu.

Ich meine nur, uns muss klar sein: Soldaten schaffen keinen Frieden. Aber sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass solche Prozesse überhaupt in Gang kommen; denn unter Gewalt sind solche Prozesse nicht möglich. Deswegen stimmen wir Grüne diesem Mandat zu.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

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