Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Das Außen und Innen lassen sich nicht mehr trennen

 

"Heute sind wir tolerant und morgen fremd im eigenen Land."

Alexander Gauland (AfD) am 2.6.2016 und Teil des Refrains des Titels Tolerant und geisteskrank von der Neonazi-Band Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten, auf ihrer CD Adolf Hitler lebt!

 

Schon lange beobachten wir mit großer Sorge, wie sich die Netzwerke innerhalb Europas verdichten, die ein vereintes Europa nicht wollen. Wenn man den Front National als französische und Jobbik als ungarische Sonderlichkeit bewerten wollte, könnte man sich vielleicht noch zurücklehnen. Aber spätestens mit den Wahlerfolgen der AfD und seit der Präsidentschaftswahl in Österreich wird deutlich, dass die Gefahr für unser gemeinsames Europa konkreter ist, als wir wahrhaben wollten. Der 23. Juni wird das nächste entscheidende Datum für die Zukunft der europäischen Union sein. Und selbst wenn die Briten mit knapper Mehrheit für den Verbleib in der EU abstimmen, so bleibt trotzdem die Frage: Was passiert eigentlich in Europa?

Ganz offensichtlich ist, dass Außen und Innen sich nicht mehr trennen lassen. | Zerfall und Krieg in Irak und Syrien, ein stalinistisches System in Eritrea, Bürgerkriegsland Sudan, das Vordringen des IS in weitere Staaten des Maghreb, dazu Dürre und Trockenheit führen dazu, dass viele Menschen sich auf den Weg machen, um in Europa Schutz zu suchen. So viele, dass weite Teile der europäischen Gesellschaften nicht bereit sind, gemeinsam und großzügig Schutz zu bieten. Und während verzweifelt nach solidarischen und gerechten Antworten gesucht wird, die den ethischen und moralischen Standards einer vermeintlich wertegeleiteten Europäischen Union entsprechen, führt fast jeder Lösungsansatz zu einem neuen Dilemma. Zäune auf der Balkanroute führen zu dramatischen Szenen vor eben diesen Zäunen. Küstenländer wie Griechenland und Italien können die Herausforderungen nicht alleine meistern. Abkommen mit einer Türkei, so wie sie jetzt verfasst ist, sind durch und durch fragwürdig. Und selbst so ein Instrument wie FRONTEX führt derzeit in eine Absurdität: Schlepper beladen ihre Boote immer gewissenloser und setzen darauf, dass Schiffe von FRONTEX Ertrinkende aufnehmen werden.

Die rechte Internationale und scheinbar einfache Lösungen | Diese Herausforderungen befeuern diejenigen, die die nationalen Grenzen wieder zumachen wollen, von homogenen Gesellschaften träumen und das Heil in der Abschottung suchen. Auf diese Weise hat sich in allen europäischen Staaten eine rechte Internationale herausgebildet. Sie vertritt Positionen, die scheinbar einfache Lösungen bieten und klare Fronten markieren: Volk gegen Eliten, Wahrheit gegen die sogenannte Lügenpresse, für die Nation und gegen die EU. Die Gesellschaftsbilder dieser Kräfte stehen gegen eine liberale Moderne: zurück zum Patriarchat, gegen sexuelle Freiheit, damit natürlich homophob, gegen kulturelle und religiöse Vielfalt und zumeist auch gegen das parlamentarische System und damit antidemokratisch. Und während Europa lange Zeit in Westen und Osten getrennt war, spannt diese rechte Internationale den Bogen jetzt von London über Paris, Berlin, Budapest nach Moskau. Anders als der vermeintlich dekadente Westen kommen aus dem Kreml Angebote, die sich mit dem rechten Westen zusammenfügen: Stärke, vermeintliche Ordnung, Schluss mit der Libertinage und Rückkehr zu alter nationaler Größe. Danach sehnen sich viele Nationalisten in Europa. Wenn man bisher dieser rechten Internationale immer auch den Antiamerikanismus zurechnen konnte, macht diese Zuschreibung keinen Sinn mehr, seitdem der Präsidentschaftskandidat der Republikaner in den USA in vieler Hinsicht zu den Grundkoordinaten der europäischen Rechten passt. Also geht es um das Antiwestliche, das auch in den USA erstarkt. Putin, Trump, Erdogan - sie sind Brüder im Geiste und stehen allesamt gegen die Werte liberal-demokratischer Ideen. 

Die Abwehr gegen Einwanderung und die damit verbundenen Herausforderungen stacheln eben diese rechten Vereinfacher an. Sie stellen alles in Frage, was wir Grünen in 30 Jahren von den Rändern der Gesellschaft in die Mitte tragen konnten: die Anerkennung von Patchworkfamilien, die (sexuelle) Selbstbestimmung der Frau, sexuelle Selbstbestimmung überhaupt, Individualität und liberale Freiheiten. Der Kampf um die Köpfe der Gesellschaft hat wieder Fahrt aufgenommen. Frauke Petry und Alexander Gauland werden und wollen wir nicht umkrempeln. Aber wir dürfen ihnen nicht gestatten, die Koordinaten nach rechts zu verschieben. Denn damit werden unmerklich Freiheiten zurückgenommen, die gutes Leben in Buntheit und Vielfalt bedeuten.

Wir stehen in der Auseinandersetzung mit diesen Kräften noch sehr am Anfang. | Wie erreichen wir die, die sich vom Abstieg bedroht fühlen? Wie gehen wir mit denen um, die spätestens seit der Finanzmarktkrise 2008 das Gefühl haben, Politik könne die internationalen Märkte nicht mehr wirksam steuern? Was antworten wir denjenigen, denen Individualität und Freiheit schon lange ein Dorn im Auge waren und die sich nun frei fühlen, endlich zur Hatz auf das Andere aufzurufen? Mit den rechten Parteien ist der Springteufel aus der Box gekommen, mit der AfD nun auch in Deutschland. Sie tritt zunehmend als national-soziale Kraft auf und bindet damit vor allem in den neuen Bundesländern scharenweise die Protestwähler der Linkspartei an sich.

In dieser Auseinandersetzung, die die Europäische Union gefährdet, werden wir nur bestehen können, wenn wir nachvollziehbar erklären, dass wir vor der Moderne nicht davonlaufen können und dass man Globalisierung nicht durch nationalen Rückzug entkommen kann, sondern dass es um die Gestaltung dieser Globalisierung geht. Hier treffen sich die Leitlinien „global denken, lokal handeln“, ökologische Herausforderungen annehmen, soziale Gerechtigkeit im Blick behalten, integrierend statt ausschließend zu wirken – im Quartier, in der Stadt, in Europa und letztlich den Globus umspannend.

Armenien und Erdogan | Lisa und Putin | Wie  sehr Außen und Innen mit einander verwoben sind, zeigt auch die Härte der Auseinandersetzung, die jetzt der Resolution des Deutschen Bundestages zum Genozid an den Armeniern folgt. Präsident Erdogan mobilisiert einen überbordenden Nationalismus und die Drohungen an unsere türkischstämmigen Kolleginnen und Kollegen übersteigen alles, was wir bisher erlebt haben. Dabei ist es ernüchternd zu sehen, dass der Widerstand eines Teils der institutionalisierten türkischen Community gegen diese Drohungen nicht überzeugend ist.

Schon der Fall Lisa hat gezeigt, wie stark Außen und Innen verknüpft werden. Während in russischen Medien insinuiert wurde, dunkelfarbige Männer hätten ein dreizehnjähriges Mädchen vergewaltigt, sprach der russische Außenminister von „unserem Mädchen“. Der russischsprachige per SMS verbreitete Aufruf in die deutsch-russische Community mit dem Titel „Es ist Krieg“, der tatsächlich tausende Menschen in den Städten zum Demonstrieren brachte, versuchte, die deutsche Gesellschaft zu spalten. Unter den Russlanddeutschen, die sich vor dem Kanzleramt versammelten, waren übrigens der Berliner NPD-Landeschef Sebastian Schmidtke und der Berlin-Marzahner Kreisvorsitzende Andreas Käfer.

Von Bremen nach Odessa und zurück | Die mutigen Bürgerinnen und Bürger in der Ukraine, die vor mehr als zwei Jahren auf den Maidan gegangen sind, hatten eine Ahnung von diesen (grundlegenden) Fragen und kämpften um Anschluss an die europäische Welt, wie sie es nannten. Diese Auseinandersetzung ist in der Ukraine nicht entschieden. Das System von Oligarchie, Korruption und Politik krallt sich an die Macht. Dennoch gibt es viele im Land, die für Demokratie und gegen Willkür streiten. Und wir dürfen nicht unterschätzen, wie wichtig Zeichen von uns sind, die unsere Solidarität mit ihnen zum Ausdruck bringen. Ein gutes Beispiel dafür ist der wunderbare Kontakt zwischen Musikern aus Bremen und Odessa.

Eine Woche lang war Odessa im April im Lampenfieber. Zum kulturellen Highlight der Woche waren 60 Sängerinnen und Sänger des Bremer RathsChors angereist: Ein gemeinsames Konzert mit der Kammerphilharmonie der Stadt. Aufgeführt wurde unter der Leitung von Jan Hübner „Frühling“ und „Sommer“ aus den Jahreszeiten von Joseph Haydn und die Chorfantasie von Ludwig van Beethoven. Das Konzert war ein grandioser Erfolg. Die Menschen strömten, weit über tausend Gäste, stehende Ovationen und so viel Dankbarkeit. Wenige Tage später wurde das Konzert bei einem Gegenbesuch der odessitischen Musikerinnen und Musiker in der Bremer Glocke wiederholt. Deutschlandradio Kultur sendete eine Aufzeichnung des wunderbaren Konzerts und der Weser Kurier lobte die herausragende Leistung der Musiker als „wuchtigen Abschluss“ dieser Grenzen überwindenden Partnerschaft.

Ich wünsche mir sehr, dass wir weiterhin Zeichen setzen. Und damit unsere Säulen Freiheit und Liberalität, Demokratie und Menschenrechte verteidigen.

    

Eins noch! Sollte der Sommer es zulassen, hier ein paar lesenswerte Tipps:

Rechte Populisten sammeln Pegida, versprengte Ex-Linke, Antiimperialisten, NATO-Gegner und völkische Stimmen ein und bündeln sie unter anderem im „Compact-Magazin“. Mit den Wahlerfolgen der AfD beginnt die deutsche Öffentlichkeit, dieses Phänomen langsam zu durchleuchten. „Die Zeit“ berichtet am 9. Juni über Jürgen Elsässer und das Compact-Magazin. Auch das Leipziger Magazin „Kreuzer“. Dazu ein spannendes Interview mit dem ehemaligen Compact-Autoren Utz Anhalt: „Was sie eint, ist die Angst vor der Moderne.“: http://kreuzer-leipzig.de/elsaesser/

Passend dazu die Studie zu den Verschwörungstheoretikern, die sich in der Zeitschrift Compact finden: www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/AP18_Storz_2015_10_19.pdf

Und ein Interview mit Anetta Kahane:www.deutschlandradiokultur.de/anetta-kahane-unbeirrbares-engagement-gegen-rechten-hass.970.de.html?dram:article_id=356256

 

 

 

 

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