Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Weser Kurier: Die Angst blieb im Irak zurück

Drei Jugendliche aus Bagdad haben nach schlimmen Monaten ein neues Leben in Bremen begonnen

Von Rose Gerdts-Schiffler

Bremen. Als Jian Majid ihre drei Kinder Kanar, Rajan und Bayar im vergangenen November nach sieben Jahren Trennung wiedersieht, ist sie geschockt: Tiefe Ränder haben sich unter die Augen der 17-jährigen Bayar eingegraben. Ihre jüngere Schwester wirkt wie erstarrt und Rajan, der 16-Jährige, scheint völlig ausgemergelt. Ein unvorstellbarer Albtraum liegt hinter den Geschwistern. Nur ein halbes Jahr später sind die Drei kaum wiederzuerkennen.

In den ersten Tagen nach ihrer lang ersehnten Ankunft in Bremen stopften ihre Eltern sie von morgens bis Abends mit Leckereien voll. „Sie brauchten Essen, Essen, Essen“, sagt Vater Burhan Mustafa überzeugt. Aber vor allem brauchten sie ihre Eltern, auf die sie so lange in der Hölle des Iraks verzichten mussten.

Im Sommer 2001 hatte der Automechaniker Burhan Mustafa es gewagt, sich gegen einen Schergen von Saddam Hussein aufzulehnen. Eine kleine Sache, aber Freunde warnten die Eheleute wenige Stunden später, dass ihre Verhaftung unmittelbar bevorstehe. Hals über Kopf flohen sie nach Deutschland. Vier ihrer Kinder ließen sie bei Verwandten zurück. Die Eltern wollten sie so schnell wie möglich nachholen. Nur Kodo Abbas, ihren schwerstbehinderten Sohn, hatten sie bei sich .

Als später ein Versuch der Familienzusammenführung nach dem anderen scheiterte, kündigte der zweitälteste Sohn den Eltern am Telefon an, die Flucht allein zu wagen. „Er sagte, er halte es nicht mehr im Irak aus“, erinnert sich Burhan Mustafa. In Begleitung dubioser Schlepper machte sich der erst 15-Jährige auf den lebensgefährlichen Weg nach Deutschland. Ganze drei Monate später nahmen sich Vater und Sohn grenzenlos erleichtert in Köln in die Arme. Doch noch immer schwebten drei der Kinder Tag für Tag in Gefahr.

Dass sie schließlich dem Bombenterror, dem Hunger und den allgegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen entkamen, haben sie einer Handvoll Bremerinnen und Bremer zu verdanken, darunter ihrem Anwalt Albert Timmer und der grünen Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck. Sie intervenierte schließlich bei Außenminister Frank-Walter Steinmeier persönlich und machte sich für die Familie stark. Denn die Ausreise aus dem Irak scheiterte vor allem aufgrund mangelnden Engagements und an Fehlern seitens der Sachbearbeiter in den deutschen Botschaften in Syrien und Jordanien.

Dieser Tag ist ein besonderer für die Familie. Kaffee und eine Sahnetorte stehen auf dem Esstisch. Marieluise Beck hat ihren Besuch angesagt. Es ist das erste, persönliche Treffen der Familie mit der Bremerin, die ihrem Leben die entscheidende Wende gab. Gespannt und verlegen zugleich begrüßen Kanar und die 18-jährige Bayar Marieluise Beck. Ihr Bruder Rajan hätte ihr auch gern die Hand geschüttelt. Aber der Junge liegt im Krankenhaus. Eine Nierensteinoperation. Im Irak wäre er mit seinen Schmerzen vermutlich allein geblieben.

Die iranisch stämmige Familienhelferin Susi Baban soll dolmetschen, doch viele Fragen der Besucherin können die beiden Schwestern bereits verstehen. Konzentriert suchen und finden sie Worte, um sich mit Marieluise Beck zu unterhalten. Die Bundestagsabgeordnete ist beeindruckt: „Ihr könnt schon phantastisch sprechen!“.

„Das muss, das muss“, sagt Vater Buhan Mustafa mit Nachdruck. Immer wieder betont er, wie wichtig die deutsche Sprache für seine Kinder sei - und eine Ausbildung. Ohne diese gebe es keine Chance in Deutschland. Bayar und Kanar strahlen um die Wette. Die ältere der beiden Schwestern liebt Mathematik und will Lehrerin werden, Kanar Tierärztin. Ein weiter Weg, aber kein Vergleich zu der langen Wegstrecke, die sie schon hinter sich haben.

Mit zwölf Jahren sollte Bayar von ihrer Tante im Irak verheiratet werden. Ein Esser weniger am Tisch. Burhan Mustafa und seine Frau waren entsetzt. Sie bettelten und schimpften am Telefon und versprachen, noch mehr Geld für ihre Kinder zu schicken. Schließlich drohte der Vater seiner Schwester mit dem Äußersten: „Wenn du sie verheiratest, bringe ich dich um.“ Bayar durfte weiter zur Schule gehen - vorausgesetzt die Sicherheitslage erlaubte es.

Der Druck, dem die irakischen Verwandten von Burhan Mustafa täglich ausgesetzt waren, äußerte sich auch in Wutausbrüchen. „Die Mädchen wurden oft geschlagen“, erzählen die Eltern. Noch schlimmer traf es aber Rajan. Bayar wirkt um Jahre älter, als sie eine Szene beschreibt, wo sie hilflos mitanschauen musste, wie ihr Bruder verprügelt wurde. Plötzlich fällt sie zurück ins Arabische. Die Familienhelferin übersetzt und muss schlucken. „Als der Junge endlich das Visa für Deutschland in der Hand hielt, hat er das Dokument immer wieder geküsst“.

Die Familie lebt beengt in ihrer kleinen Wohnung in der Vahr. Den Rhythmus des Tages bestimmt Kodo Abbas, der schwerbehinderte älteste Sohn der Familie. Seit 19 Jahren pflegt die Mutter ihren Sohn rund um die Uhr.

Zehnmal hat der Junge in der vergangenen Nacht gekrampft, erzählt sie mit müder Stimme. Ihr Sohn kann kaum sprechen und nur wenige Meter laufen, aber die Liebe seiner Eltern und Geschwister begleitet ihn, wenn er auf dem Hosenboden über den Boden des Wohnzimmers rutscht und seine Mutter ihn in eine warme Decke hüllt.

Auf Außenstehende mögen die Wohn- und Lebensverhältnisse beklemmend wirken, doch Bayar hat immer noch ihr Strahlen im Gesicht. Sie kann ohne Angst ihr neues Zuhause verlassen, spazieren oder im Einkaufszentrum Berliner-Freiheit bummeln gehen - Freiheiten, von denen sie jahrelang geträumt hat.

Bayar nachdenklich: „Manchmal wache ich morgens auf und kann immer noch nicht glauben, dass wir endlich bei unseren Eltern in Bremen sind.“

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Der überhasteten Flucht folgt die jahrelange Sorge

Die Geschichte der Familie Mustafa: Kinder werden mehrfach ins Kriegsgebiet zurückgeschickt

Von Rose Gerdts-Schiffler

Bagdad·Bremen. Im August 2001 verlangt ein Geheimdienstmitarbeiter in Bagdad von dem Automechaniker Burhan Mustafa, dass er sein Auto kostenlos repariert. Als sich der Familienvater weigert und das Bild Saddam Husseins von der Wand nimmt, besiegelt er damit sein Schicksal. Freunde warnen ihn vor der bevorstehenden Verhaftung.

Versteckt unter Planen eines Lastwagens flüchtet Burhan Mustafa Hals über Kopf mit seiner Frau Jian und dem schwerstbehinderten Sohn Kodo Abbas. Der Junge hätte ohne seine Eltern keine Überlebenschance im Irak gehabt. Ihre vier gesunden Kinder verteilen sie auf Verwandte und versprechen ihnen, sie so schnell wie möglich nachzuholen. Unverletzt erreichen die drei Deutschland. 2002 werden sie als politisch Verfolgte anerkannt. Burhan Mustafa findet Arbeit, aber sein Antrag auf Familiennachzug wird mit Verweis auf die Kriegswirren abgelehnt. 2003 fahren die Kinder unter Lebensgefahr nach Damaskus (Syrien), um ein Visum in der Deutschen Botschaft zu beantragen.

Auch ihr Vater fliegt dorthin, überzeugt, sie endlich nach Deutschland mitnehmen zu können. Doch ihr Antrag wird abgelehnt. Die Kinder müssen zurück ins Kriegsgebiet. Im Dezember 2005 schlägt sich der 15-jährige Diako auf eigene Faust zu seinen Eltern nach Deutschland durch. Wiederholt reagieren die Deutschen Botschaften in Syrien und Jordanien nicht auf die Anfragen des Bremer Anwaltes der Familie. Der Jurist schaltet die Bundestagsabgeordnete und frühere Ausländerbeauftragte der Bundesrepublik Marieluise Beck (Grüne) ein.

Im April 2008 reisen die Kinder unter Lebensgefahr nach Jordanien. Wieder werden sie zurückgeschickt. Die Abgeordnete macht sich nun persönlich beim deutschen Außenminister für die Kinder stark. Sie reisen ein weiteres Mal nach Jordanien aus. Doch nun erfahren sie, dass ihre Papiere angeblich gefälscht sind. Wieder schickt sie die Deutsche Botschaft zurück in den Irak. Marieluise Beck interveniert erneut.

Eine Speichelprobe bestätigt schließlich, dass die drei die Kinder des irakischen Ehepaares sind. Schwer gezeichnet von ihrer Odyssee landen die 15, 16 und 17 Jahre alten Jugendlichen Mitte November vergangenen Jahres endlich in Bremen. Ihr Schicksal berührt viele Bremerinnen und Bremer. Zahlreiche Leser beteiligen sich an einer Spendenaktion, denn das Ehepaar Mustafa hatte sich bei den Versuchen, seine Kinder nach Deutschland zu holen, hoch verschuldet.

Das Spendenkonto bei der Sparkasse Bremen besteht weiterhin.

Kontonummer: 11830585, Ökumenische Ausländerarbeit Bremen, Verwendungszweck: Sozialfond Familie Mustafa.

Außerdem sucht die Familie dringend nach einer 5-6 Zimmerwohnung.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: Weser Kurier, Seite: 11 Datum: 08.06.2009

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