Warum verfallen so viele Europäer der Kreml-Propaganda? Weil sie sich für uns, die Ukrainer, nicht interessieren. Jurko Prochasko
Obwohl Kiew näher an Bremen liegt als Madrid, ist und bleibt die Ukraine bei uns ein wenig bekanntes Land, über das wir zwar häufig diskutieren, von dem wir aber nur vage Vorstellungen haben. Die Informationen, die zu uns dringen, sind oft besorgniserregend und häufig widersprüchlich. Ist die Ukraine tatsächlich ein gespaltenes Land?
Wir fragen Jurko Prochasko. Der preisgekrönte Lemberger Psychoanalytiker, Essayist, Germanist und Übersetzer hat unter anderem Werke von Sigmund Freud und Franz Kafka übersetzt. Er gilt als wichtiger kultureller Vermittler zwischen Deutschland und der Ukraine. Als überzeugter Europäer setzt er sich für die Einbindung seines Landes in Europa ein. Marieluise Beck: "Jurko Prochasko kann uns viel über unser Euopa erklären, das wir vielleicht immer weniger verstehen."
Laut Prochasko geht es zuerst einmal darum, wie bestimmte Themen, Religionen und Länder nach außen hin wirken. Er las dazu einen Teil aus seinem Essay Lebensläufer: Zu einer kleinen Theorie unauratischer Kulturen vor. Es sei die Aura, die positiven Klischees welche ein Land umgeben sollten. Ohne diese gäbe es nichts, von dem die Welt wüsste, nur negatives. Die Ukraine sei so ein Land. Uninteressant für viele, bar jeder Geschichte.
Kleinere Kulturen würden ohne diese Aura nur durch Gewalt bekannt. Erst durch die Orange Revolution - vielmehr aber durch die Ereignisse nach dem Maidan beschäftige sich die Weltgemeinschaft mit der Ukraine. Doch dies habe im letzten Jahr stark nachgelassen.
Jetzt, da das internationale Interesse großteils wieder verschwunden sei, mangele es hauptsächlich an Überzeugungen, an Ideologien in der Ukraine. Manche Politiker würden auch ohne diese auskommen, ihnen reiche die Sprache der Gewalt. Putin - "Macht gewordener Zynismus" - und Trump seien sich in diesem Punkt beispielsweise sehr ähnlich, Gewalt und Macht gingen auch ohne Ideale.
In dem aktuellen Konflikt versuche Putin, den Mangel an Ideologien in der Ukraine auszunutzen. Auf zynische Art und Weise versuche er zu zeigen, dass die westlichen Ideen der Empathie und Solidarität utopisch seien.
Das Ziel der Ukrainischen Revolution sei jedoch eine Gesellschaft, die nicht auf Ethnien, Religion und Sprachen aufgebaut ist. Somit sei aktuell die Europäische Union also die einzige „Ideologie“, welche der ukrainischen Bevölkerung bleibe.
Auf die Frage hin, wie heterogen die Maidan-Bewegung in ihrer Gesamtheit sei, antwortete Prochasko, sie sei gewissermaßen sowohl heterogen als auch homogen: Politisch gebe es sehr viele unterschiedliche Gruppierungen. Diese reichten über Liberale, Linke, Rechte und Religiöse. Gleichzeitig sei die Bewegung jedoch geeint in dem Vorhaben, die Macht der Oligarchen zu brechen und die eigene Souveränität zu erlangen. Somit sei die einigende Grundlage das Gefühl der Gemeinsamkeit.
Es bleibe trotzdem das Fehlen einer Aura, der positiven Klischees. Die moderne Form der Arbeit daran seien Demonstrationen und Kommentare, die Beteiligung des Volkes. Und auch wenn es ein schwieriger Weg sei, die Ukraine wolle sich von den anhaftenden, (post)imperialen Einflüssen Russlands lossagen und ihre eigene Aura schaffen.
Laurenz Berger