Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Antworten der Bundesregierung zur Aussetzung der Reisefreiheit für den Westbalkan

Erneut versuchen Konservative mit ausländerfeindlicher Stimmungsmache in Wahlkampfzeiten Wähler für sich zu gewinnen. Seit Herbst vergangenen Jahres klagen etwa der ehemaligen niedersächsische Innenminister Schünemann und Bundesinnenminister Friedrich über eine angebliche "Asylflut" vom westlichen Balkan. Tatsächlich sind die Zahlen von Asylanträgen vorwiegend von Roma und Sinti aus der Region vergleichsweise stark gestiegen. Die Volksgruppe lebt zumeist in unzumutbaren Umständen und ist erheblicher Diskriminierung ausgesetzt. Der Höchststand wurde im Oktober mit 2600 Antragstellern aus Serbien erreicht. Von einer Notlage in Deutschland kann keine Rede sein.

Bundesinnenminister Friedrich macht mit Amtskollegen anderer Mitgliedsstaaten auch auf EU-Ebene Druck, notfalls die Visumsfreiheit für die Länder des Westbalkan auszusetzen. Nun hat die Europäische Kommission eine Verordnung vorgeschlagen, die die sechsmonatige Aussetzung der Reisefreiheit ermöglicht, wenn ein Mitgliedsstaat eine Notlage aufgrund von steigender Asylbewerberzahlen reklamiert. Laut Verordnungsvorschlag ist ein Anstieg um mehr als 50% binnen sechs Monaten hierfür ausreichend. Dies war in Deutschland bereits im vergangenen Herbst für Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina der Fall. Nach einer sechsmonatigen Aussetzung der Reisfreiheit kann dann von der Kommission die dauerhafte Abschaffung der Visafreiheit vorgeschlagen werden.

Das Europäische Parlament stimmt der Verordnung weitgehend gegen die Stimmen der Grünen und Linken zu. Allerdings gibt es im Rat der Mitgliedstaaten, der die Verordnung einstimmig beschließen muss, Widerstand. Lettland stört sich an einem anderen Punkt des Gesetzesvorschlag und verweigert derzeit die Zustimmung. Das Verfahren ist damit vor der ersten Befassung im Innenausschuss des Europäischen Parlaments stecken geblieben.

Die Bundesregierung zeigt sich mit ihrer populistischen Forderung nach der Aussetzung der Reisefreiheit für den Westbalkan verantwortungslos. Die erst 2009 und 2010 eingeführte Reisefreiheit ist die wichtigste und für die Menschen konkret spürbare Errungenschaft der Region auf ihrem Weg in die EU. Dies ist umso wichtiger, als weiterhin Nationalismus und ethnische Spannungen die Sicherheit der Region gefährden. Intensiver Austausch mit der EU kann die Idee vom Abbau der Grenzen und der Gemeinschaft in Europa in die Gesellschaften des Westbalkan tragen.

Statt Stimmungsmache gegen Ausländer wäre ein ernstgemeintes Engagement für eine Verbesserung der Lage der Sinti und Roma in der Region notwendig. Die Bundesregierung hingegen stellte 2010 die Finanzierung des "Roma Education Fund" ein und setzt lieber auf gefährlichen Populismus.

Marieluise Beck fragte deshalb die Bundesregierung nach ihrer Haltung zur möglichen Aussetzung der Visumsfreiheit für den Westbalkan:

Marieluise Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Hat die Bundesregierung konkrete Pläne, nach Beschluss des vorliegenden Kompromisses für einen Mechanismus zur Aussetzung der Visumbefreiung für Drittstaaten die Aussetzung der Visumbefreiung oder gar deren dauerhafte Abschaffung für Serbien, Mazedonien oder Bosnien und Herzegowina aufgrund der zuletzt verhältnismäßig stärker angestiegenen Zahl von Asylantragstellern aus diesen Ländern (Serbien: 1 395 im September 2012 und 2 673 im Oktober 2012, Mazedonien: 1 040 im September 2012 und 1 351 im Oktober 2012, Bosnien und Herzegowina: 214 im September 2012 und 630 im Oktober 2012) zu veranlassen, und falls ja, worin besteht nach Ansicht der Bundesregierung angesichts der genannten Zahlen die für den Aussetzungsmechanismus zu reklamierende Notlage, die durch eine Wiedereinführung der Visumpflicht zu heilen wäre?

Antwort des Staatsministers Michael Link vom 28. Dezember 2012:

Trotz inhaltlicher Übereinstimmung zwischen Europäischer Kommission, Rat und Europäischem Parlament hinsichtlich der Ausgestaltung des geplanten Mechanismus zur Suspendierung der Visumfreiheit für Drittstaaten ist die hierfür notwendige Änderung der so genannten Visum-Verordnung der Europäischen Union (Verordnung (EG) Nr. 539/2001) noch nicht erfolgt. Konkrete Anwendungsfälle des Suspendierungsmechanismus sind daher auch auf europäischer Ebene noch nicht diskutiert worden.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wie schätzt die Bundesregierung mögliche Folgen der Wiedereinführung der Visumpflicht für Länder wie Serbien, Mazedonien oder Bosnien und Herzegowina auf die gesamtgesellschaftliche Situation in diesen Ländern, insbesondere auf die Transformationsprozesse, den weiterhin virulenten Nationalismus und die Haltung der Bevölkerung zur Europäischen Union, ein, und sieht sich die Bundesregierung aufgrund dieser Folgenabschätzung veranlasst, auf eine Änderung des Entwurfs für einen Mechanismus zur Aussetzung der Visumbefreiung im Sinne angemessener Kriterien hinzuwirken?

Antwort des Staatsministers Michael Link vom 28. Dezember 2012:

Die Befreiung von der Visumpflicht ist für die Menschen in den genannten Ländern sichtbarer und greifbarer Ausdruck der Annäherung an die Europäische Union. Eine Wiedereinführung der Visumpflicht würde als gravierender Rückschlag empfunden. Der aktuelle Entwurf des Mechanismus zur Suspendierung der Visumfreiheit für Drittstaaten greift nur unter eng begrenzten Voraussetzungen und sieht auch eine Prüfung der außenpolitischen Auswirkungen vor. Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung derzeit keinen Anlass, auf eine Änderung dieses Entwurfs hinzuwirken.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Befürchtet die Bundesregierung im Fall der Aussetzung der Visumbefreiung für Länder des Westbalkan Racheaktionen gegenüber Sinti und Roma, denen der Ausschlag gebende Anstieg der Zahl von Asylantragstellern angelastet wird (vgl. FAZ vom 18. Dezember 2012), und wie bewertet die Bundesregierung die Folgen allein der Androhung einer möglichen Aussetzung der Visumbefreiung auf die Situation der unter gesellschaftlicher Ausgrenzung leidenden Sinti und Roma angesichts von in mehreren Staaten der Region an Grenzbeamte verteilten Handreichungen zur „Identifizierung“ von Sinti und Roma (vgl. WESER KURIER vom 19. Dezember 2012), angesichts des diskutierten Entzugs von Reisepässen und der damit verbundenen Verwehrung bürgerlicher Rechte wie dem Recht ins Ausland zu reisen sowie angesichts der pauschalen Verwehrung von Busfahrkarten für Menschen, die als Sinti oder Roma ausgemacht werden, weil Busunternehmen im Fall einer Beteiligung am Visummissbrauch Strafen angedroht wurden?

Antwort des Staatsministers Michael Link vom 28. Dezember 2012:

Der Bundesregierung liegen keine Hinweise auf mögliche Aktionen gegenüber Roma im Fall einer Aussetzung der Visumfreiheit vor. Erkenntnisse über die Verteilung von Handreichungen zur „Identifizierung“ von Roma sowie die pauschale Verwehrung von Busfahrkarten für Roma hat die Bundesregierung nicht. Im Übrigen verweise ich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Debatte über den vermeintlichen Missbrauch des Asylrechts durch serbische und mazedonische Staatsangehörige“ (Bundestagsdrucksache 17/11628, insbesondere zu den Fragen 17, 18, 20, 21 und 28).

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