Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Think Tank INSOR gibt der Diskussion über Modernisierung Russlands neuen Anstoß

Anfang März wurde in Berlin der Bericht „Russland im 21. Jahrhundert: Bild einer wünschenswerten Zukunft“ des Moskauer Instituts für Moderne Entwicklung (INSOR) von drei seiner Autoren einem Fachpublikum präsentiert.

Seit 2007 beschäftigt sich die dem russischen Präsidenten nahe stehende Denkfabrik mit möglichen Szenarien der Entwicklung Russlands. Derzeit - so die Autoren des Berichtes - befinde sich Russland an einer Weggabelung. Entweder werde es sich zu einem in jeder Hinsicht modernen Land entwickeln oder als „Global Player“ verschwinden.

Das Modell des forcierten Wachstums, das auf Einnahmen aus dem Ressourcenverkauf basiert, habe sich erschöpft. Die Wirtschaftskrise habe Russland stark getroffen und zu einem Minus von 43% des Bruttoinlandprodukts geführt. Es fehlten kleine und mittlere Betriebe. In mancher Hinsicht, etwa bei der Entwicklung einer hohen Einkommensungleichheit ähnele die Entwicklung Russlands der in Lateinamerika. Das Land erlebe einen Brain-Drain.

Der jetzigen Krise müsse bald erfolgreich begegnet werden, weil unter den Verhältnissen immer schneller laufender Innovationsprozesse der Rückstand ab einem gewissen Punkt irreversibel werde. Auf einigen Feldern durchlaufe Russland solche Irreversibilitätspunkte bereits.

Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, müsse Russland modernisiert werden. „Diese Modernisierung“, - so Jewgenij Gontmacher, einer der Insor-Experten und langjähriger Partner der Heinrich-Böll-Stiftung, „muss tiefgreifend und systematisch sein.“ Unter den Verhältnissen der Unfreiheit, ohne eine Reform der Politik und des sozialen Lebens könnten Reformen im Wirtschaftsleben nicht gelingen. Versuche, Modernisierungsprozesse auf Wirtschaft und Technologien zu reduzieren, bezeichnen die Autoren als „technokratische Illusionen.“ „Es ist nicht möglich“, so der Direktor von Insor Igor Jurgens, „ein Silicon Valley in einem feudalem Umfeld aufzubauen.“

In der postindustriellen Epoche stellten die kreativen Fähigkeiten der Menschen, ihre Energie und Initiative das wichtigste Entwicklungspotential dar. Liberalisierung von Politik und Gesellschaft sowie Deregulierung seien grundlegende Voraussetzungen dafür, dass diese Kräfte freigesetzt werden könnten. Dabei könne die Veränderung nicht von oben eingeleitet werden. Es müsse auf den Menschen geschaut werden, der das Land verlasse, weil sich für ihn in Russland keine Entfaltungsmöglichkeiten böten. Es gelte, Bedingungen dafür zu schaffen, dass er bleibe.

„In den letzten 20 Jahren“, so Leonid Grigorjew, ein weiterer Autor des Berichtes, „hat es keine gesellschaftlichen Debatten um die zukünftige Verfassung des Landes gegeben. Man hat sich in Russland fortbewegt, ohne sich darüber zu verständigen, was das Ziel der Entwicklung des Landes ist.“ Diesem Versäumnis versucht das Papier abzuhelfen.

Der Bericht entwirft ein Szenario, in dem Russland noch im  21. Jahrhundert zu einem „wirklichen Föderalismus“ zurückkehrt. Föderationsrat und Gouverneure werden wieder direkt vom Volk gewählt, die Amtszeit des Präsidenten ist von sechs auf fünf, die Legislaturperiode der Duma von fünf auf vier Jahre verkürzt. Inlandsgeheimdienst und Innenministerium sind vollständig umgebildet. Die Justiz ist unabhängig, der Staat hat auf die Kontrolle der Medien verzichtet, NGOs können frei agieren, die Hälfte der Bevölkerung kann zum Mittelstand gezählt werden.

Ein Russland, das den Weg der Modernisierung geht, hat auch eine neue außenpolitische Doktrin. Der Begriff des postsowjetischen Raumes gehört der Vergangenheit an. Die Bezeichnung des „Nahes Auslandes“ deutet eher auf freundschaftliche Beziehungen hin als auf den Gedanken an ein Imperium. Russland ist ein Mitglied der WTO und der OECD, unterhält eine Strategische Partnerschaft mit der EU und ist auf dem Weg zum Beitritt in die Nato.

Soweit nur einige Striche aus dem von Insor entworfenen Bild Russlands im 21. Jahrhundert.

Für diese ambitionierten Ziele des Berichts nennen die Autoren des Papiers keinen festen Zeitrahmen. Erste Schritte hin zu einer tiefgreifenden Modernisierung müssten aber bereits in den nächsten zwei Jahren, also noch vor den Präsidentschaftswahlen 2012, gemacht werden.

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