Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Zur Erinnerung: Srebrenica für Anfänger

Der nachfolgende Text von Dejan Anastasijević erschien bereits am 2. Juni 2005 in der serbischen Wochenzeitung „VREME“. Aus Anlass der neuerlichen Debatten um die Verabschiedung einer Srebrenica-Resolution durch das serbische Parlament druckt „VREME“ den Artikel in seiner Ausgabe vom 4.2.10 noch einmal nach.

Zur Erinnerung:

Srebrenica für Anfänger

Zehn Jahre nach dem großen Blutbad in Srebrenica ist vielen in Serbien offenbar immer noch nicht klar, was dort geschehen ist

Das Massaker in Srebrenica ist eines der am gründlichsten erforschten Kriegsverbrechen der Geschichte, ist Gegenstand unzähliger Bücher, Filme und wissenschaftlicher Studien, von denen viele auch der hiesigen Öffentlichkeit zugänglich sind. Darüber hinaus ist Srebrenica das einzige Kriegsverbrechen auf europäischem Boden in den letzten 60 Jahren, das mit einem rechtskräftigen Gerichtsurteil als Völkermord tituliert wird (Verfahren gegen General Radoslav Krstić vor dem ICTY). Srebrenica war zudem die enscheidende Rechtfertigung für den Einsatz von NATO-Truppen in Bosnien beim Abstecken der Landkarten am Vorabend des Abkommens von Dayton. Angesichts der Bedeutung, die dieses Ereignis für die Vergangenheit und Zukunft Serbiens hatte und künftig noch haben kann, aber auch des Ausmaßes seligen Unwissens in der politischen Elite und Öffentlichkeit, soll diese Geschichte noch einmal erzählt werden.

PROLOG. Srebrenica ist eine Kleinstadt in Ostbosnien, die verborgen in einem tiefen Talkessel unweit der Drina liegt und nahe eines schon in der Antike bekannten Silberbergwerks entstanden ist. In der Gemeinde lebten nach der Volkszählung von 1990 etwa 35.000 Menschen, im Städtchen selbst rund  6.000. Man erzählte sich, die oft blonden und blauäugigen Einwohner Srebrenicas seien Nachfahren sächsischer Bergleute, die sich wer weiß wann hier angesiedelt hatten. Der Volkszählung zufolge erklärten sich jedoch rund drei Viertel der Bevölkerung sowohl in der Gemeinde als auch in der Stadt als Muslime, den Rest stellten Serben und Jugoslawen. Als ab dem Frühling 1992 alle bedeutenderen Städte Ostbosniens in serbische Hand fielen, blieb auch Srebrenica nicht verschont: Am 18. April 1992 gelang es Angehörigen der Serbischen Freiwilligengarde, angeführt von Željko Ražnatović Arkan, nach kurzen Scharmützeln das Stadtzentrum von Srebrenica einzunehmen. Kurz darauf wurde ihnen jedoch klar, dass sie in der Klemme steckten, denn sie gerieten unter Beschuss von den umliegenden Bergen, in die sich die meisten wehrfähigen Männer vor dem Fall der Stadt geflüchtet hatten. Es zeigte sich, dass Srebrenica zwar leicht zu erobern gewesen, aber schwer zu halten war. Außerdem gab es nichts zu plündern – für die Freiwilligengarde ein wesentlicher Aspekt. Drei Tage nach der Einnahme zogen sich die Arkan-Leute nach einem erfolgreichen Gegenangriff der Männer von Srebrenica zurück, den der ehemalige Angestellte des serbischen Innenministeriums Naser Orić organisiert hatte - jener Orić, der am 9. März unter den Polizisten war, die Vuk Drašković festnahmen. So wurde der 25-jährige Orić zum Kommandanten der Territorialverteidigung und Herrn über Leben und Tod in Srebrenica. Derzeit läuft ein Verfahren gegen ihn vor dem Haager Tribunal.

In den Folgemonaten versuchten Angehörige der serbischen Territorialverteidigung aus den benachbarten Gemeiden Bratunac und Zvornik mehrfach, die Stadt erneut zu erobern, mussten jedoch jedesmal einstecken: Bei einem dieser Angriffe kam Goran Zekić, einer der Funktionäre des Bratunacer Ablegers der Serbischen Demokratischen Partei und ehemaliger Richter, ums Leben. Damals verließen die letzten in Srebrenica verbliebenen Serben die Stadt, und die Leute aus Bratunac rächten sich, indem sie unzählige muslimische Gefangene im lokalen Fußballstadion umbrachten, das später erneut zum Schauplatz eines Blutbads werden sollte.

Den ganzen Winter über blieb die Frontlinie um Srebrenica einigermaßen stabil, obwohl die Enklave ein Dorn in der Seite der Republika Srpska darstellte. Konfrontiert mit Not und Entbehrung und einer wachsenden Zahl darbender Flüchtlinge, die aus den umliegenden Dörfern und Städten nach Srebrenica strömten, organisierte Orić bewaffnete Plünderungszüge auf für ihn in Reichweite liegende serbische Dörfer. Bei einem dieser Plünderungszüge wurden zum orthodoxen Weihnachtsfest 1993 in dem Dorf Kravica mehr als 100 Serben ermordet. Zugleich gelang es Orić von Zeit zu Zeit, den Korridor zu durchbrechen, der Zvornik mit der serbischen Kriegshauptstadt Pale verband und für Karadžić von lebenswichtiger Bedeutung war, weil er die kürzeste Verbindung nach Serbien darstellte. Die Angehörigen der bosnisch-herzegowinischen Armee versuchten in dieser Zeit mehrfach, einen Korridor zwischen Tuzla und Srebrenica zu öffnen, was ihnen jedoch nur zeitweise und unter großen Verlusten gelang. Srebrenica blieb belagert, wenn auch verbunden mit den beiden kleineren Enklaven Cerska und Konjević Polje.

DIE ERSTE KRISE: Der erste Kriegswinter war für die Menschen von Srebrenica schrecklich. Zu Beginn des Frühlings begann echter Hunger zu herrschen. Die Einwohnerzahl stieg auf fast 40.000 wütende, durchgefrorene und ausgehungerte Menschen an, und Orić versuchte mit Mühe und oft unter Anwendung brutaler Gewalt, wenigstens einigermaßen die Ordnung aufrechtzuerhalten. Erbost wegen der Verluste, die ihnen die Orić-Leute beibrachten, noch mehr jedoch nach dem Massaker von Kravica, verweigerten die Serben den UNHCR-Konvois mit Nahrungsmitteln und Medikamenten die Durchfahrt. Die ganz mit ihren eigenen Problemen beschäftige Regierung in Sarajevo konnte nicht helfen und versuchte es noch nicht einmal – außer dass sie Srebrenica zu Propagandazwecken benutzte, was sie im übrigen auch heute noch macht. Von März bis Juni 1993 warfen amerikanische Herkules-Maschinen Säcke mit Nahrung und Arzneimitteln über Srebrenica und den umliegenden Bergen ab, der Wind wehte die Fallschirme jedoch häufig auf serbisches Gebiet oder ins unzugängliche Gebirge. Schließlich hatten die Serben das Katz-und-Maus-Spiel mit den Orić-Leuten satt und starteten im März eine neue Offensive, die diesmal gründlicher vorbereitet war als frühere Aktionen.

Zunächst geriet Cerska ins Visier und fiel sofort, wobei sich die Mladić-Soldaten zusätzlich über die amerikanischen Pakete freuten, die ihnen die Piloten in Unkenntnis der geänderten Lage auf dem Boden weiter direkt in die Hände warfen. Erneut ergoss sich ein Strom von Tausenden Flüchtlingen nach Srebrenica, dicht gefolgt von der serbischen Armee, die unaufhaltsam in Richtung Stadt vordrang. In New York und Washington läuteten die Alarmglocken: Der Fall Srebrenicas und ein Blutbad, von dem man mit Sicherheit erwarten konnte, dass es den Vereinten Nationen und der Clinton-Administration zur Last gelegt werden würde, schienen unausweichlich.

Gerettet wurde die Situation mehr oder weniger im Alleingang von General Phillippe Morillon, dem französischen UNPROFOR-Kommandanten, der beneidenswertes diplomatisches Geschick an den Tag legte. Morillon fuhr zunächst nach Cerska und dementierte dort öffentlich, um die Serben wohlwollend zu stimmen, Informationen der Regierung in Sarajevo, die Serben hätten in dem Ort schreckliche Verbrechen begangen. „Ich habe keinen Geruch von Tod verspürt“, sagte er damals zu Journalisten. Es gelang: Am 11. März erhielt Morillon von den serbischen Behörden die Genehmigung, die Frontlinie in der Nähe von Bratunac zu queren und nach Srebrenica zu fahren. Zu diesem Zeitpunkt lag die Stadt bereits unter Artilleriefeuer der Mladić-Truppen, der Beschuss wurde jedoch mit dem Eintreffen Morillons in der Stadt eingestellt. Die Menschen von Srebrenica begriffen die Botschaft sofort: Als Morillon nach einem Treffen mit Orić versuchte zurückzukehren, hinderten sie ihn an der Abfahrt. Eine große Gruppe Zivilisten, überwiegend Frauen und Kinder, umzingelte sein Fahrzeug, und Morillon sah sich gezwungen, länger als geplant in der Stadt zu bleiben. Er verließ sie erst 7 Tage später, in der Zwischenzeit war jedoch eine diplomatische Lösung gefunden und Srebrenica zumindest vorläufig gerettet worden.

SCHUTZZONE: Die diplomatische Lösung beinhaltete die Zusage der RS-Führung, die Offensive auf Srebrenica zu stoppen, wofür das Mitglied des bosnisch-herzegowinischen Präsidiums Ejup Ganić im Gegenzug die Verpflichtung einging, dass die Orić-Truppen entwaffnet werden und nicht mehr die Serben angreifen und den Korridor gefährden. Dies war ein Versprechen, das Ganić nichts kostete und Orić zu nichts verpflichtete - von Sarajevo erwartete dieser ohnehin schon lange nichts mehr. Außerdem übernahm es der UNHCR, 15.000 Flüchtlinge, darunter Verwundete, Frauen und Kinder, aus Srebrenica zu evakuieren. Dieser Schritt rettete viele Menschenleben, brachte der Organisation jedoch den Vorwurf der Sarajevoer Regierung ein, der ethnischen Säuberung Vorschub zu leisten. Die Glaubwürdigkeit der VN, aber auch der westlichen Länder, deren Truppen im Rahmen von UNPROFOR dem Schauspiel hiflos zusahen, war ernsthaft gefährdet. Es war klar, dass eine dauerhaftere Lösung gefunden werden musste.

Diese fand man mit der Einrichtung sogenannter Schutzzonen auf Grundlage der am 16. April 1993 verabschiedeten Resolution 819 des VN-SR. Srebrenica wurde mit dieser Resolution – einer der unglücklichsten in der Geschichte der VN – unter den symbolischen Schutz der VN gestellt, während es die VN übernahmen, die dortige Bevölkerung zu entwaffnen. Wie sich recht bald herausstellen sollte, waren sie weder in der Lage, die Menschen zu schützen, noch sie zu pazifieren.

Dies wurde deutlich, als man zur Umsetzung der Resolution überging, bzw. als die Truppen zum Schutz von Srebrenica aufgestellt werden sollten: Die Länder lehnten es reihenweise ab, ausreichend Truppen zu schicken. Einigen Analysen zufolge hätte man für die effektive Verteidigung der Schutzzone mindestens 10.000 Mann gebraucht. Stattdessen entsandten die VN 143 Kanadier nach Srebrenica, deren schwerste Waffen Maschinengewehre mit einem Kaliber von 12,7 mm waren. Die Orić-Leute übergaben ihnen ein paar unbrauchbare Waffen, so z.B. zwei kaputte serbische Panzer, und waren damit angeblich entwaffnet.

In der Zwischenzeit war die unglückliche Resolution 819 durch die ebenso unglückliche Resolution 936 vom 4. Juni 1993 ergänzt worden. Diese legte neue Schutzzonen (u.a. Sarajevo, Goražde und Bihać) fest, doch wieder konnten nicht genug Truppen für den Einsatz gefunden werden. Darüber hinaus zeigte sich, dass niemand willens war, die Kanadier in Srebrenica abzulösen. Am Ende willigte Holland ein, ein leicht bewaffnetes Bataillon (rund 450 Soldaten) zur Verfügung zu stellen. Die Bühne für die Tragödie war vorbereitet. Nun kamen die Landkarten ins Spiel.

DIE VEREINFACH DER LANDKARTEN: Die Einrichtung der Schutzzonen bedeutete für Srebrenica eine Atempause, nicht jedoch für die internationalen Diplomaten, die angestrengt nach einem Weg suchten, um den Krieg in Bosnien zu beenden. Pläne – angefangen mit dem von Coutillier über jenen von Vance und Owen bis hin zum Owen-Stoltenberg-Plan - wurden geschmiedet und wieder verworfen, und zwar beim immer gleichen Punkt: den Landkarten. Jeder Plan war eine neue Variante der Teilung Bosniens, und jeder nahm die Lage auf dem Feld als Ausgangspunkt. Jedesmal kamen die Kriegsparteien verhältnismäßig schnell zu einer grundsätzlichen Einigung über 90% des Territoriums, verworfen wurden die Pläne jedoch regelmäßig wegen der verbliebenen 10%. Neben Goražde und Brčko war immer auch Srebrenica wichtiger Teil dieser 10%. Die Regierung in Sarajevo war im Grunde willens, die Stadt aufzugeben, konnte dies jedoch nicht öffentlich verkünden, schon gar nicht gegenüber Orić und den Einwohnern von Srebrenica. Die Serben konnten ihrerseits den Fortbestand der Enklave im Herzen des ethnisch gesäuberten Ostbosniens – noch dazu so nahe an wichtigen Verbindungswegen - nicht tolerieren. Für Brčko und Goražde hat man letztendlich in Dayton eine salomonische Lösung gefunden, Srebrenica war jedoch ein hoffnungsloser Fall, Gegenstand fortlaufenden Streits und Quelle ständiger Frustrationen für die internationalen Beobachter.

Von 1993 bis 1995 gab es keine größeren Frontverschiebungen in Bosnien, die militärische Lage der Mladić-Truppen verschlechterte sich in dieser Zeit jedoch unaufhörlich. Es wurde offensichtlich, dass man mehr Territorium eingenommen hatte, als man verteidigen konnte: Die Frontlinie (einschließlich Krajina) war mehr als 1200 Kilometer lang, was selbst eine weitaus größere Armee vor Probleme gestellt hätte. Der Armee der RS machten zudem allgemeiner Moralverfall, Desertationen, massive Korruption und ständiger Streit unter den Politikern zu schaffen. Auch Mütterchen Serbien half nicht mehr wie früher, insbesondere, nachdem Karadžić bei Milošević in Ungnade gefallen war. Unterdessen rüsteten die kroatische Armee und die bosnisch-herzegowinische Armee in schnellem Tempo auf – mit Lieferungen, die über den Iran aus Amerika kamen – und wurden von Tag zu Tag stärker. Mladić als professionellem Soldaten musste bereits Ende 1994 klar sein, dass er früher oder später einen Gutteil des Territoriums wieder würde verlieren müssen. Wissen musste er auch, dass er Knin und die bosnische Krajina nicht würde retten können, falls die Kroaten in die Offensive gingen. Ruhmlos endete sein Versuch, im April 1994 Goražde einzunehmen. Im Frühjahr 1995 gab es nur noch einen Ort, an dem er mit einem sicheren Sieg, dem letzten in seiner Karriere, rechnen konnte: Srebrenica.

Die Vorbereitungen für die Offensive konnten beginnen.

Den ganzen April und Mai 1995 hindurch schickten die vor Ort stationierten UNPROFOR-Offiziere Berichte über große serbische Truppenbewegungen in Richtung Srebrenica, was im übrigen auch alles sehr schön über Satellit zu sehen war. Trotzdem wurden diese Berichte in den höheren Kommandozentralen und Hauptstädten der wichtigeren Länder als irrelevant abgetan, ebenso die immer häufigeren Zwischenfälle zwischen den Holländern und den serbischen Soldaten, die vor der Schlacht das Terrain erkundeten. Gleichzeitig wurde fruchtlos über die Möglichkeit von Lufteinsätzen gegen die bosnischen Serben und über den „doppelten Schlüssel“, den Yasushi Akashi in der Hand hielt, debattiert.

Im April, eine Woche vor Beginn der Offensive, erhielten Naser Orić und einige seiner engsten Mitarbeiter den Befehl, wegen irgendeines Militärkurses dringend nach Sarajevo zu reisen. Da es keine Landverbindung nach Sarajevo gab, flogen sie mit dem Hubschrauber. Ein interessantes und noch nicht hinreichend erforschtes Detail dabei: Die Genehmigungen für den Überflug der Hubschrauber über serbisches Gebiet erteilte der serbische Geheimdienst (DB). Anfang Juni fanden sich die Verteidigung Srebrenicas ohne Kommando und die Holländer unter immer größer werdendem Druck der Serben wieder, ohne dass es Verstärkung oder die Hoffnung auf Unterstützung aus der Luft gegeben hätte. Die Pläne fürs Finale standen kurz vor ihrer Vollendung.

EIN BLUTIGES GESCHENK: Die Offensive auf Srebrenica begann am 6. Juli 1995 mit einem Überfall auf holländische Beobachtungsposten und dauerte bis zum 11. Juli, als Mladić vor Fernsehkameras erklärte, diesen Sieg „dem serbischen Volk zum Veitstag zu schenken“. Das Massaker an den Männern aus Srebrenica, mindestens 8000 an der Zahl, dauerte vom 11. bis 16. Juli -  zuvor waren sie von Frauen und Kindern getrennt worden. Wie wir dem Verfahren gegen General Krstić und den Zeugenaussagen von Miroslav Deronjić, dem ersten Mann der SDS in Bratunac, entnehmen können, war das Blutbad sorgfältig vorbereitet. Im Vorfeld organisiert worden waren sowohl Busse für die „Pakete“ (die chiffrierte Bezeichnung für die künftigen Opfer) als auch die Exekutionsorte: Schulen, Kulturhäuser, Lager- und Fabrikhallen. Das Fußballfeld von Bratunac tränkte sich erneut mit Blut. Vorbereitet worden waren auch die Orte für die Massengräber und die Technik: Bagger, Gerät zum Grabenaushub und LKWs zum Abtransport der Leichen. Wer weiß, in welchem  Zustand sich die RS-Armee in dieser Zeit befand, muss zugestehen, dass die ganze Operation mit überraschender Effizienz und Diskretion erfolgt ist: Journalisten, vertrauenswürdige Kader ausgenommen, konnten nicht einmal in die Nähe des Geschehens gelangen. Es brauchte Monate, bis Informationen über das Ausmaß der Verbrechen ans Tageslicht kamen, und Jahre, bis sich alle Details zu einem Ganzen fügten.

In diesem Text ist bewusst auf die schrecklichsten Details der Geschichte von Srebrenica verzichtet worden: auf die Schilderungen von Überlebenden, Trauernden und jenen, die das schlechte Gewissen zum Reden brachte. Letztendlich fehlen auch die trockene Statistik, die Orte der Massengräber und Hinrichtungen, die forensischen Befunde und das restliche Drumherum eines Beweisverfahrens. All das lässt sich im Internet oder einer beliebigen größeren Buchhandlung finden, der Kern der Geschichte ist jedoch unwiderlegbar, und weder Verschweigen noch Relativierung noch Leugnen kann sie verschwinden machen oder ändern.

Einige Puzzlesteine haben jedoch noch immer nicht ganz ihren Platz gefunden. Wenn die Prozesse gegen General Momčilo Perišić, Jovica Stanišić und (hoffen wir's) Mladić beginnen, werden wir mehr über die Rolle erfahren, die Einheiten der jugoslawischen Armee und des serbischen Innenministeriums in diesem Drama innehatten. Darüber, wie viel die sogenannte internationale Gemeinschaft von Mladićs Plänen wusste und ob sie sie hätte vereiteln können, wird noch lange polemisiert werden, ebenso über die scheinheilige Position der Regierung Izetbegović.  Die Hauptlast der Schuld tragen dennoch jene, die das Verbrechen ersonnen und durchgeführt haben, woran es nicht den leisesten Zweifel geben darf, schon gar nicht hier und jetzt.

Was bleibt, ist natürlich auch die Frage nach der Verantwortung jener, die sich so sehr über das blutige Geschenk Mladićs gefreut haben, dass sie auch 10 Jahre später noch nicht aufgehört haben, vor dem Abbild des flüchtigen Generals auf die Knie zu fallen. Leider hilft an dieser Stelle die menschliche Gerechtigkeit nicht viel weiter. Für ihre Seelen ist ein anderes Gericht zuständig – wenn es dieses gibt, und wenn sie eine Seele haben.

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(c) 2005 Dejan Anastasijević

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