Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Meine Eindrücke zum Chodorkowski-Prozess - Ein Brief vom 02. November 2010

Liebe Freundinnen und Freunde,

wie Sie vielleicht wissen, bin ich zur Zeit zum wiederholten Male als Beobachterin beim Prozess gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew. Mir ist das Herz schwer nach dem zunächst letzten Tag in einem Moskauer Bezirksgericht. 20 Monate Verhandlung, hunderte von Stunden mit von Staatsanwälten verlesenen Texten, ein Richter mit versteinerter Mine, der hochbetagte Vater von Michail Chodorkowski und seine weißhaarige Mutter – das alles hat mich sehr berührt.

Mit der Frage, ob es Sinn macht, sich für Oligarchen wie Chodorkowski und Lebedew einzusetzen, oder ob es nicht besser sei, für andere Bedrängte da zu sein, habe ich mich zum ersten Mal vor vier Jahren beschäftigt. Damals erhielt der bekannte russische Menschenrechtsanwalt Juri Schmidt in Berlin den Petra Kelly Preis der Heinrich-Böll-Stiftung und ich erfuhr, dass er - ein Kind des Gulags und mutiger Kämpfer in all den Jahren der Sowjetunion - die Verteidigung in dem Prozess Chodorkowski/Lebedew mit übernommen hatte.

Erst langsam begann ich zu verstehen, dass mit dem Prozess gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew nicht nur über Recht oder Unrecht für die Angeklagten entschieden wird, sondern dass die ganze Willkür eines Systems droht zurückzukehren, unter dem viele wunderbare Menschen in Russland so lange gelitten haben.

Einerseits spricht Präsident Medwedew vom Rechtsnihilismus in seinem Land und benennt damit das Fehlen von Verlässlichkeit des Staates und die schamlose Bereicherung von kleinen Cliquen zulasten weiter Teile des Volkes. Andererseits sind es die sich hinter den Mauern des Kreml verbergenden Seilschaften aus alten KGB Kadern und gewissenlosen Glücksreitern, die Recht und Gerechtigkeit nicht gebrauchen können. Ob Wladimir Putin Teil dieses Systems ist oder Gefangener der eigenen Leute, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber nach vielen, vielen Stunden im Gerichtssaal habe ich verstanden, dass Chodorkowski und Lebedew eine Gefahr für diese Seilschaften sind, denn sie beide standen für ein transparentes, vielfältiges und damit freies Russland.

Vor vier Jahren, als nach üblichem russischem Recht die beiden nach der Hälfte der verbüßten Strafe aus dem Lager hätten entlassen werden müssen, lehnte ein Gericht in Tschita (an der mongolischen Grenze) ihre Freilassung ab, denn Chodorkowski habe wenig Enthusiasmus gezeigt, im Lager einen ordentlichen Beruf zu erlernen, sprich den Umgang mit der Nähmaschine.  Seither wussten wir, dass der Kreml daran arbeitete, die beiden weiter hinter Gitter zu halten.

Es gibt niemanden mehr, der die dreiste Konstruktion des zweiten Prozesses als Absurdität in Frage stellt, aber kaum jemand glaubt, dass es eine Chance auf Freilassung gibt. Zu groß ist scheinbar die Gefahr, die von beiden für das System Putin ausgeht.

Chodorkowski und Lebedew im Glaskäfig, entlastende Zeugen nicht geladen, Staatsanwälte in Uniform, die kein einziges freies Wort sprechen sondern nur vorgefertigte Texte ablesen – und dennoch zwei besonnene, kluge und beeindruckende Plädoyers von den Angeklagten, die wissen, dass die Entscheidung über ihr Schicksal nicht in diesem Gerichtssaal fällt.

Ein Gericht, in dem jedes Argument, jeder Beweis, ja, jedes gesprochene Wort unerheblich ist, ist ein beklemmender Ort.

Wenn Chodorkowski und Lebedew wieder auf Jahre im Lager verschwinden, wird weiter Justizwillkür in Russland herrschen, werden mutige Journalisten wie Anna Politkowskaja und Menschenrechtlerinnen wie Natalja Estemirowa weiter um ihr Leben fürchten müssen. Sie alle brauchen unseren Schutz durch Öffentlichkeit. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie vergessen und damit noch verletzlicher werden.

Ich wünschte mir, dass einflussreiche Firmen wie Daimler, Siemens, die Commerzbank, Wintershall, BP, RWE, E.ON – alle, die in Russland gut verdienen – Ministerpräsident Putin zu verstehen geben würden, dass sie rechtsstaatliche Verlässlichkeit erwarten, wenn sie weiterhin Partner Russlands sein sollen. Auch ein Wort des Altbundeskanzlers Schröder wäre sicherlich hilfreich. Solange aber all jene es nicht tun, werden wir Menschenrechtler es mit unseren bescheideneren Mitteln tun müssen.

Es grüßt Sie und Euch aus dem grauen Moskau
Marieluise Beck