Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Bericht vom Fachgespräch „Rechtsstaatlichkeit in Russland“

Zu diesem Thema haben am 11. Februar 2011 zahlreiche Expertinnen und Experten sowie über 160 Interessierte aus Russland und Deutschland im Rahmen einer Tagung diskutiert, die von der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen in Kooperation mit den Grünen im Europäischen Parlament und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde im Deutschen Bundestag veranstaltet wurde.

Eröffnung

Marieluise Beck , Sprecherin für Osteuropapolitik, betonte bei der Eröffnung der Konferenz, dass dies keine Tagung von Deutschen über Russen und von Deutschland über Russland, sondern ein gemeinsames Nachdenken über die Notwendigkeit und den Zustand des Rechtsstaates in Russland sei. Der Impuls, sich mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit zu befassen, komme aus Russland selbst. Präsident Medwedew habe den Kampf gegen Rechtsnihilismus und die Modernisierung Russlands auf die Tagesordnung gesetzt. Der ihm nahe stehende think tank INSOR habe deutlich gemacht, dass die Modernisierung kein allein technischer Akt sei, sondern zwangsläufig demokratische Verhältnisse und Schutz durch einen Rechtsstaat erfordere. Wie stark hier Realität und Rhetorik auseinanderklaffen, zeige das politisch motivierte Verfahren gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew. Dieser Prozess, der für viele andere stehe, sei zum Symbol der staatlichen Willkür in Russland geworden.

Der Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin wies in seinem Grußwort darauf hin, dass Demokratie und rechtsstaatliche Verhältnisse einerseits und geordnete Außenbeziehungen und Stabilität andererseits Scheinalternativen darstellten: „Die jüngsten Entwicklungen in Nordafrika zeigen, dass sich der Glaube, in der arabischen Welt durch das Setzen auf nationalistische Despotien stabile Verhältnisse hinzubekommen, als ein Irrtum erwiesen hat.“ Langfristig müsse der Versuch, Stabilität ohne Demokratie, ohne Menschenrechte, ohne Rechtsstaat zu erreichen, in die Instabilität führen, unterstrich Trittin.

Auch die Russlandpolitik müsse unter diesem Aspekt auf den Prüfstand gestellt werden. In den Beziehungen mit Russland, die durch objektive gemeinsame wirtschaftliche Interessen geprägt seien, müsse die deutsche und europäische Politik die innenpolitischen Realitäten im Auge behalten und auf die Einhaltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Normen drängen.

Weiter beschrieb der Fraktionsvorsitzende, dass sich durch massive Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Verfolgung von NGOs unter fadenscheinigen Begründungen in der russischen Gesellschaft ein Klima verbreitete, in dem die Zivilgesellschaft nicht blühen und gedeihen könne. „Für eine Partei wie die Grünen ist das ein unerträglicher Zustand. Das ist aber auch eine schlechte Nachricht für Russland. Denn das selbsterklärte Ziel, das Land aus der Situation eines einseitiges Rohstoffproduzenten herauszubringen, die Gesellschaft umfassend ökonomisch zu modernisieren, ist ohne Rechtsstaatlichkeit  nicht  zu erreichen, “  so Trittin.

Voraussetzungen für einen funktionierenden Rechtsstaat

v.l. Prof. M.Fedotow, W. Schulz

Das erste Panel der Konferenz, das von dem Europaabgeordneten Werner Schulz moderiert wurde, beschäftigte sich mit den Voraussetzungen für einen funktionierenden Rechtstaat. Professor Alexander Blankenagel von der Berliner Humboldt-Universität nannte zunächst strukturelle, faktische und kulturelle Voraussetzungen für einen funktionierenden Rechtsstaat. Anschließend analysierte er, inwieweit sie in Russland erfüllt sind. Blankenagel vertrat die These, dass es vor allem das Fehlen entsprechender rechtskultureller Voraussetzungen sei, die der Verwirklichung eines funktionierenden Rechtsstaates in Russland entgegenstehe.

Die fehlende Unabhängigkeit der Justiz sowie eine verheerende Lage im Strafvollzug sind nach der Meinung des menschenrechtspolitischen Sprechers der Grünen Bundestagsfraktion Volker Beck zentral, wenn man über Rechtstaatlichkeit in Russland spreche. Besonders in diesen Bereichen müsse man Russland Angebote machen. Da die Möglichkeiten, rechtsstaatliche Entwicklungen in Russland von außen zu beeinflussen, beschränkt seien, bestehe die Aufgabe der Außenpolitik gegenüber Russland darin, trotz aller diplomatischen Contenance Wahrhaftigkeit zu bewahren und Missstände mindestens beim Namen zu nennen.

v.l. Prof. A. Blankenagel, V.Beck

Der Vorsitzende des Rates zur Entwicklung von Zivilgesellschaft und Menschenrechten beim russischen Präsidenten, Professor Michail Fedotow, betonte, dass neben einer unabhängigen Justiz freie und unabhängige Massenmedien Grundlage der Rechtsstaatlichkeit seien und behandelte die Beziehungen zwischen Richtern und Journalisten. Die beiden Berufsgruppen begegneten sich vor allem in zwei Arbeitszusammenhängen: Entweder berichteten Journalisten über die Arbeit von Gerichten oder aber die journalistische Tätigkeit selbst sei Gegenstand der richterlichen Beurteilung. In beiden Fällen sei der Umgang miteinander von Vorbehalten geprägt. Während Journalisten Richter oft als korrupte Bürokraten wahrnähmen, die ihnen Informationen vorenthalten, sähen Richter in Journalisten häufig Sensationsjäger in den Diensten der jeweils Mächtigen, die erhaltene Informationen oberflächlich und tendenziös einsetzten.

Müssten sich Richter beruflich mit der Tätigkeit von Journalisten befassen, gehe es in den weitaus meisten Fällen darum, dass Journalisten etwa wegen Verleumdung oder Diffamierung vor Gericht stünden. Nur selten riefen Journalisten selbst Gerichte an, um sich mit ihrer Hilfe gegen Beschneidungen ihrer Rechte zur Wehr zu setzen. Insgesamt könnten mehr Transparenz und eine größere Offenheit der Justiz gegenüber den Massenmedien sowie ein wirksamerer auch gesetzlicher Schutz der Rechte von Journalisten freie Medien als wichtige Säule der Rechtsstaatlichkeit stärken

 Reformbedarf der russischen Justiz

v.l. Prof. L.Gudkow, Dr.L.Nikitinskij, Prof. T.Morschtschakowa, Dr. M.Sapper

Im zweiten Panel diskutierte der Chef-Redakteur der Zeitschrift Osteuropa Dr. Manfred Sapper mit einer Referentin und zwei Referenten aus Russland über den Reformbedarf der russischen Justiz.

Richterin am Verfassungsgericht a. D. , Professor Tamara Morschakowa, erörterte Gründe, die zur fehlenden Unabhängigkeit der Justiz in Russland führen. Neben dem historischen Erbe, der Mentalität des Gerichtscorps, nannte sie mangelnde Bemühungen des russischen Staates, den notwendigen Rahmen zu schaffen, in dem Justiz sich unabhängig organisieren kann. Das russische Gerichtssystem sei rein administrativ aufgebaut. Es sei auf die Weisung von Oben ausgerichtet. Richter höherer Gerichte seien auch administrativ für die untergeordneten Gerichte zuständig und hätten damit nicht nur die vorinstanzlichen Entscheidungen zu beurteilen, sondern auch administrativen Einfluss auf die Richter.

Der Gerichtspräsident, der Verwaltungschef des jeweiligen Gerichts, der nach einem undemokratischen Prozedere ernannt werde, spiele eine wichtige Rolle. Seine Befugnisse seien breit definiert: er könne die Fälle unter den Richtern verteilen, ihnen gegenüber disziplinarische Maßnahmen ergreifen sowie zusätzliche Gehälter für Richter beschließen. Unter diesen Umständen werde jedenfalls in „relevanten“ Fällen kein Richter eine selbständige Entscheidung treffen, bevor er die übergeordneten Instanzen konsultiert habe. Insgesamt sei die Judikative sehr darauf bedacht, nicht in Widerspruch zu den gesetzgebenden Organen und der Exekutive zu geraten, und lege sich so selbst Grenzen auf.

Professor Lew Gudkow, Direktor des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, schilderte den gesellschaftlichen Kontext, in dem Institutionen der Justiz in Russland existieren. Die meisten Menschen – so Gudkow – glaubten nicht an die Rhetorik der russischen Elite, die über Modernisierung und den Kampf gegen den Rechtsnihilismus spreche. In ihrem täglichen Leben erlebten sie etwas ganz anderes: Willkür, Machtmissbrauch, Korruption, deren Umfang seit dem Amtsantritt Putins etwa zehn- bis zwölfmal größer sei als früher. Es würden die Vorstellungen reanimiert, nach denen die Gerichte in erster Linie die Reichen und Einflussreichen schützten, der Staatsapparat einen strafenden Charakter habe und gegen die Bevölkerung ausgerichtet sei. Die Mehrheit der Russen glaube, dass die Gesetze nach den Interessen der Machthaber ausgerichtet würden, dass der Staat sich mithilfe der Gesetze selbst schütze.

In der Gesellschaft herrsche seit vielen Jahren die Vorstellung, dass es nicht möglich sei, in Russland zu leben, ohne Gesetze zu verletzen. Entsprechend niedrig sei das Vertrauen der Russen in das Justizsystem. Jegliche Berührung mit den Rechtsschutzorganen führe nach Auffassung der Menschen dazu, dass die Gerichte sich auf die Seite des Staates stellten. Besonders negativ gegenüber dem Gerichtssystems seien diejenigen eingestellt, die mit den Gerichten bereits zu tun hatten. Außerdem sei das Vertrauen in die Judikative umso geringer, je gebildeter und aktiver in kultureller, sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht die Befragten seien.

Dr. Leonid Nikitinskij , Kolumnist der Nowaja Gaseta , überraschte mit der provokanten Frage, ob es in Russland überhaupt einen Staat gäbe. Vorhanden sei eine gewisse Wirtschafts- und Sozialordnung sowie die Illusion einer Machtvertikale. In den Regionen Russlands werde die Macht von korrupten Polizeibeamten und anderen Vertretern der waffentragenden Strukturen ausgeübt. Sie müssten die Gewalt im Interesse des Staates einsetzen, agierten aber motiviert von eigenen wirtschaftlichen Interessen. Ihre Tätigkeit vollziehe sich im Rahmen von regionalen Machtstrukturen, die sich von außen schwer durchschauen ließen. In diesem System sei Korruption kein Systemfehler, sondern das ganze Gebilde existiere dank der Korruption. Die Stärkung der Judikative könne ein Weg sein, der grassierenden Korruption einen Riegel vorzuschieben. Anders als die Polizei handelten Richter als Personen. Unter ihren Urteilen stehe ihr Name. Spielten sie in den Machtstrukturen nicht mehr mit, könne der Korruptionskreislauf durchbrochen werden. Damit Richter eine solche neue Rolle annehmen, müssten sich ihre Mentalität und ihre Vorstellung über den eigenen Beruf grundlegend ändern.

Rolle der Europäischen Institutionen für die Entwicklung des Rechtsstates in Russland

Schwerpunkt des Abschlusspanels unter der Moderation von Marieluise Beck, Sprecherin für Osteuropapolitik,  war schließlich die Rolle der Europäischen Institutionen bei der Stärkung des Rechtsstaates in Russland.  Dr. Günter Schirmer vom Sekretariat des Rechts- und Menschenrechtsausschusses der Parlamentarischen Versammlung des Europarats schilderte die Möglichkeiten, die der Europarat habe, sprach aber auch über die Grenzen. Unter Berufung auf Erfahrungen der Berichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zeigte er sich davon überzeugt, dass Russland durchaus ernsthaft an Unterstützung und Beratung aus Straßburg zur Verbesserung der rechtlichen Infrastruktur interessiert sei. Das Interesse an einer Kooperation sei nicht vorgetäuscht, die Modernisierung der Justiz als ein wichtige Voraussetzung für wirtschaftliche Stabilität und Fortschritt erkannt. Bei näherer Betrachtung bestimmter „machtrelevanter Einzelfälle“ sei jedoch der Eindruck entstanden, es gebe auch Grenzen für den Wunsch nach einer unabhängigen Justiz. Und das sei ein Problem. Die Justiz sei entweder unabhängig oder sie sei es nicht. Ein „bisschen unabhängig“ könne die Justiz nicht sein.

v.l. M.Beck, Dr. P.Flor, Dr. G.Schirmer, P.Franck

Eine wirklich unabhängige Justiz setze eine entsprechende Kultur in der  breiten Richterschaft voraus, eine Atmosphäre, die man gezielt bereits bei der  Richterausbildung, bei der Einstellung und der Beförderung von Richtern sowie bei  Disziplinarentscheidungen fördern müsse. Wäre  eine Kultur der richterlichen Unabhängigkeit erst einmal etabliert, könne man machtrelevante Einzelfälle allerdings kaum mehr steuern wie bisher. Das sei – so Schirmer, unter Berufung auf parlamentarische Berichterstatter  - die Zwickmühle, in der die Justizreform in Russland  stecke. An solchen Einzelfällen, zu denen die „Spionagefälle“ von Igor Sutjagin und Prof. Walentin Danilow, die Fälle von sogenannten Whistleblowers wie Grigorij Pasko und Alexandr Nikitin aber auch das Vorgehen gegen Jukos zählten, könne man den Stand der Reformbereitschaft in Russland ablesen.

Die Beauftragte für Osteuropa, Kaukasus und Zentralasien des Auswärtiges Amtes Dr. Patricia Flor betonte, dass sich die Rechtsstaatlichkeit als roter Faden durch alle Dokumente ziehe, die die EU mit Russland unterschrieben habe. Sie unterstrich, dass man Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliches Engagement in Russland nicht gentrennt sehen könne. Wenn man etwa im Rahmen des Partnerschafts- und Kooperationsabkommens über wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland spreche, ginge es zugleich um Fragen der Rechtstaatlichkeit, weil deutsche Unternehmen sich in Russland in einem sicheren Raum bewegen und ihre Investitionen gesichert sehen wollten.

Weiter beschrieb Dr. Flor verschiedene Programme und Instrumente, die man im Rahmen des Partnerschafts- und  Kooperationsabkommen sowie der Modernisierungspartnerschaft mit Russland zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit anwende. Sie unterstrich, dass man nicht nur eine Kooperation auf der politischen Ebene suche, sondern eine praktische Zusammenarbeit im Rahmen konkreter Projekte, wie etwa der Kooperation zwischen Rechtsinstituten, Studienreisen unter anderem von Anwälten und damit direkten Transfer der Rechtskultur nach Russland hinein fördere.

Sie hob hervor, wie wichtig in dieser Hinsicht die Förderung der direkten Interaktion der Zivilgesellschaften sei: „Wenn wir von Rechtskultur sprechen, dann ist es von vornerein klar, dass es nicht reichen wird, Institutionen, die das Justizsystem selbst ausmachen, zu reformieren. Am Ende muss man das Rechtsbewusstsein ändern; das wird ohne gesellschaftliches Engagement, ohne Nichtregierungsorganisationen nicht möglich sein.“

Der Russland-Experte der deutschen Sektion von Amnesty International   Peter Franck zog eine zwiespältige Bilanz der Arbeit von Amnesty mit russischen Behörden  zur Förderung von rechtsstaatlichen Entwicklungen. Als Beispiel nannte er die Arbeit zur Menschenrechtsbildung in der Miliz. Hier gebe es innerhalb der russischen Gesellschaft einen Druck zu Reformen. Vor diesem Hintergrund zeigten die Behörden einerseits Interesse, von Amnesty erarbeitete Materialien in der Ausbildung einzusetzen. Für die Menschenrechtsbildung innerhalb der Miliz würden in den Niederlanden erarbeitete und eingesetzte Materialien, die Amnesty ins Russische übersetzt habe, gut vom russischen Innenministeriums nachgefragt. Gleichzeitig würden aber Seminare über die Wahrung von Menschenrechten im Alltag der Polizei immer häufiger kurzfristig unter fadenscheinigen Gründen abgesagt, obwohl Amnesty bei der Vorbereitung solcher Veranstaltungen regelmäßig auf ein großes Interesse bei Milizoffizieren vor Ort stoße. Absagen gingen dann offenbar auf ein kurzfristiges Veto „von oben“ zurück. Augenscheinlich stehe man direkten persönlichen Kontakten zwischen Aktivistinnen und Aktivisten von Amnesty International und eigenen Milizionären immer misstrauischer gegenüber.

Was Möglichkeiten der Einflussnahme von außen angeht, äußerte er sich kritisch zu Stimmen, die in relevanten deutsch-russischen Dialogforen für ein vorsichtiges Umgehen mit Russland werben: „Man dürfe das Land nicht an den Pranger stellen, müsse Verständnis für das "Anders-Sein" der Russen haben, dürfe im Bezug auf Menschenrechts- und  Rechtsstaatlichkeitsdefizite nicht ungeschminkt die Wahrheit sagen,“ heiße es oft. Eine solche Haltung - so Franck - sei kontraproduktiv. „So selbstverständlich Verständnis für die Schwierigkeiten Russlands auf dem Weg zu rechtsstaatlichen Verhältnissen ist, so klar, eindeutig und unverhandelbar sind die Ziele, zu denen dieser Weg führen muss,“ so Franck. Diese ergäben sich unter anderem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention, zu deren Einhaltung sich Russland mit seinem Beitritt zum Europarat verpflichtet habe. Wer das Ziel eines demokratischen Rechtsstaats etwa mit Blick auf "den Nationalcharakter der Russen" relativiere,  schade einer Entwicklung des Landes hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit.

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