Wichtiges Thema meiner Gespräche in Kosovo war das Aufflammen des Konflikts in Nord-Mitrovica. Nach Darstellung meiner Gesprächspartner bei den internationalen Missionen geht der Konflikt auf einen langjährigen Boykott kosovarischer Waren durch Serbien zurück, während das Kosovo serbische Waren weiterhin einführte. Da Serbien jedoch die direkten Verhandlungen über technische Fragen weiter verzögerte, versuchte die kosovarische Regierung, Reziprozität herzustellen. Beim Versuch, Kontrolle über die Grenzstationen zwischen dem serbisch dominierten Nord-Mitrovica und Serbien zu erlangen, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen ein albanischer Polizist erschossen wurde.
Der Konflikt musste durch KFOR-Truppen beendet werden. Die Reaktion der gut ausgerüsteten militanten Serben aus dem Nordkosovo war offensichtlich wohl geplant. Gleichzeitig muss das allenthalben als legitim beschriebene Anliegen der kosovarischen Regierung in der Umsetzung als wenig verantwortlich bewertet werden. Was vordergründig ein Handelskrieg ist, im Westen als ethnisch-nationalistischer Konflikt wahrgenommen wird, ist nunmehr zu einer symbolisch aufgeladenen Frage um die Souveränität und Ungeteiltheit des Kosovo geworden.
Hinter der vermeintlich ethnisch motivierten Teilung der Stadt Mitrovica und des Kosovo stehen jedoch in starkem Maße auch die Interessen organisierter Kriminalität. Es geht um Rauschgift, gepanschtes Dieselöl, Menschenhandel usw. Den internationalen Missionen sind die handelnden Personen der organisierten Kriminalität zu guten Teilen bekannt. So existiert eine Liste von 55 zu verhaftenden Personen, darunter auch der Mörder des albanischen Polizisten.
KFOR machte einen sehr gut vernetzten, kenntnisreichen und entschiedenen Eindruck. Der Kommandeur Erhard Bühler machte deutlich, dass der Schlüssel zur Befriedung des Kosovo in dessen Norden liege. Nur wenn es gelinge, mit Entschiedenheit die Strukturen der organisierten Kriminalität zu zerschlagen, könne die Angst der Bevölkerung im Nordkosovo schwinden. Dies sei die Voraussetzung für einen Prozess der Annäherung zwischen der serbischen und albanischen Bevölkerung, wie dies in den serbischen Enklaven im südlichen Kosovo schon seit längerem erfolgreich verlaufe. Jeder serbische Bewohner, der sich derzeit aus der Deckung wage und einen Kompromiss innerhalb des selbstständigen Kosovo für möglich halte, sei starkem Druck ausgesetzt. Es sei darauf hinzuweisen, dass unter dem Einfluss der organisierten Kriminalität und radikaler Serben den Bürgern der vier Kommunen des Nordkosovo seit 12 Jahren das kosovarische Wahlrecht durch einen oktroyierten Wahlboykott faktisch verweigert werde.
Es ist daher zu hoffen, dass die serbische Regierung die deutliche und glaubwürdige Versicherung aller EU-Staaten bekommt, dass ein Zündeln im Nordkosovo sich auf dem Weg in die EU nicht auszahlen und eine Abtrennung des Nordkosovo nicht hingenommen werden wird.
Der Missionsleiter der EU-Rechtsstaatsmission EULEX , Xavier Bout de Marnhac, schilderte die Schwierigkeiten, mit denen viele zivile Missionen behaftet sind: kurzzeitige Befristung der Mandatierung und daraus folgend eine hohe Fluktuation insbesondere der qualifizierten Kräfte. EULEX, mit etwa 3500 Mitarbeitern die einzige zivile Friedensmission mit exekutiven Befugnissen, konzentriert sich auf den Aufbau der Polizei (1500 Leute), der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte. Große Schwierigkeiten bereitet die Bereitstellung qualifizierten Personals für den Rechtsstaatsbereich. So sei bis heute der Posten eines Generalstaatsanwalts vakant und eine Besetzung durch welche Nation auch immer nicht absehbar. Für die konkrete Arbeit der Strafverfolgungsbehörden seien Schwierigkeiten beim effektiven Zeugenschutz das schwerwiegendste Problem für eine erfolgreiche Beweisführung. Im Nordkosovo sei EULEX nur mit einem sehr eingeschränkten Mandat präsent, versuche dies aber auszubauen und auf eine Vertrauensbildung hinzuarbeiten. Die Untersuchung der durch den Marty-Bericht des Europarats erhobenen Vorwürfe seien von einer EULEX-Abteilung in Brüssel durchzuführen. Leider habe sich deren Arbeitsbeginn wegen diplomatischen Gezerres um sechs Monate verzögert.
Die fehlende Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch fünf EU-Staaten und die dadurch erzwungene Statusneutralität von EULEX schwächt die Mission und deren Durchsetzungskraft.
Die OSZE-Mission mit 600 Mitarbeitern (davon 60 im Nordkosovo) engagiert sich im Bereich Community Building und Menschenrechte. Der stellvertretende Direktor des OSZE-Regionalzentrum in Mitrovica , Henri Winckler machte deutlich, dass die gesellschaftliche Vertrauensbildung in Kosovo viel Geduld erfordere. Hierbei sei unumgänglich, die Staatlichkeit des Kosovo in den jetzigen Grenzen nicht mehr in Frage zu stellen. Hauptproblem seien die von Serbien herbeigeführten Parallelstrukturen, deren Auflösung sich schwer und langwierig gestalte. Der Athisaari-Plan mit seinen weitgehenden Minderheitenrechten und Stärkung der Kommunen sei weiterhin die richtige, wenngleich kostspielige Bezugsgröße.
(Bild: Wolfgang Klotz) Das Büro der "Vereinigung für serbisch-slawische Solidarität Grigorije Stepanovič Ščerbina" in Nord-Mitrovica mit den Portraits von Lukaschenko, Medwedew, Koštunica, Putin, Janukowitsch.
Der kosovarische Außenminister , Enver Hoxhaj, machte uns noch einmal sehr deutlich, dass Serbien den Aufbau bzw. Unterhalt von Parallelstrukturen im Nordkosovo glaubhaft aufgeben müsse. Andernfalls käme das Kosovo nicht zur Ruhe, da es sich ständig um die Unumkehrbarkeit der Souveränität in den jetzigen Grenzen sorgen müsse.
Besorgniserregend hierbei sind die Einlassungen des serbischen Präsidenten Boris Tadic, der kürzlich bekundete, ein Großalbanien bereite ihm keine Kopfschmerzen. Dies legt Gedanken an eine ethnische Neuordnung des Westbalkan mit zu vermutenden Auswirkungen auf die bosnische Republika Srpska, eventuell sogar die ehemals serbische Kraina in Kroatien, nahe und die damit verbundene Destabilisierung der gesamten Region.
Der Herausgeber der größten kosovarischen Tageszeitung ‚Koha Ditore‘ , Veton Surroi, beschrieb das Grundproblem des Westbalkan als eines von „ unvollendeten Staaten “. Zu dessen Lösung sei u.a. ein größeres Engagement Deutschlands dringend nötig. Für die Verhandlungen zwischen Kosovo und Serbien etwa gebe es bis heute keinen klaren Rahmen. Es gehe um einen rationalen Umgang mit den drei von Angela Merkel in Belgrad formulierten Forderungen. Belgrad müsste für deren Erfüllung tatsächlich nur wenig aufwenden. Die EULEX-Mission habe drei Jahre mit der Neuausrichtung ihres Mandats verloren und steckte wegen der Blockade Russlands in Kompetenzfragen fest. Folglich sei politisches Engagement dringend notwendig.
Bei den Verhandlungen zwischen Serbien und Kosovo müsse es trotz fehlender gegenseitiger Anerkennung um dennoch bestehende gemeinsame Anliegen gehen. Wichtigstes Problem im Nordkosovo sei die Frage der Zollstempel und des freien Warenverkehrs, da hier durch Einziehung von Zöllen die Souveränität des Kosovo verletzt werde.
Der kommende Herbst werde aufgrund des großen Haushaltsdefizits eine schwierige Phase für das Land. Der Internationale Währungsfond habe Hilfskrediten unter Auflage gewährt, die Post und Telekommunikation des Kosovo (PTK) im Wert von ca. 305 Mio. Euro zu veräußern. Allerdings habe bisher nur die Telekom Austria Interesse bekundet. Die PTK stehe allerding für 1200 Stellen im öffentlichen Dienst unter dem Zugriff der Regierungsparteien. Die Regierungsparteien finanzierten sich u.a. auch durch Erlöse der Tankstellen und „melkten“ so seit 10 Jahren die Bürger des Kosovo. In der Regierung hätten auch kriminelle Strukturen ein Netzwerk gebildet. Die Korruptionskultur sei durch Abwesenheit des Rechtsstaat entstanden. EULEX sei in diesem Bereich nicht ausreichend effektiv. Dabei steuerte die EU ohne Auflagen 2010 mit 169 Mio. gut 15 Prozent des kosovarischen Staatsetats bei. Die internationalen Vertreter verfügten über koloniale Macht. Da sie diese jedoch nicht nutzten, entstünde ein politisches Vakuum trotz gleichzeitigen Klimas der Abhängigkeit.
Den Dick Marty-Bericht beurteilte Surroi kritisch. Es habe sicher Kriegsverbrechen und Exekutionen nach Kriegsende und Einmarsch der NATO-Truppen gegeben. Juni bis Dezember 1999 sei sicher die schlimmste Phase im Befreiungskampf des Kosovo gewesen, aber solche Frankenstein-Geschichten seien sehr fragwürdig.
Studierende der Universität in Nord-Mitrovica berichteten über die widrigen Bedingungen ihres Studiums, das wegen der nur stundenweise anreisenden Dozenten sehr eingeschränkt stattfinde. Die ehemaligen Teilnehmer der Sommerschule der Heinrich-Böll-Stiftung bekundeten, dass sie sich nicht als Staatsbürger des Kosovo empfänden und auch ein Leben unter der kosovarischen Regierung für sie nicht vorstellbar sei. Als Begründung nannten sie einerseits die niedrigeren Gehälter in Kosovo, die in Nord-Mitrovica von Belgrad auf 150% aufgestockt werden. Anderseits äußerten sie ihr Furcht vor Diskriminierung durch die albanische Mehrheitsgesellschaft, die sich auch mit Verweis auf existierende Minderheitenrechte und offensichtlich voranschreitender Eingliederung der serbischen Enklaven im Südkosovo nicht entkräften ließ. Dass selbst bei gut ausgebildeten und nicht radikalen Serben im Nordkosovo offensichtlich die serbische Politik bestehend aus materiellen Anreizen, Desinformation und Propaganda ihre spaltende Wirkung erzielt, lässt erahnen, wie lang der Weg der Aussöhnung noch sein wird.
Fazit
Mit der Aufrechterhaltung von Parallelstrukturen im Nordkosovo stellt Serbien permanent die territoriale Souveränität des Kosovo in Frage und erschwert den ohnehin nur schleppend voranschreiten Aufbau staatlicher Strukturen.
Gleichzeitig hindert sich die serbische Politik selbst daran, mit dem Thema Kosovo abzuschließen und sich auf die schwerwiegenden sozialen Probleme und dringend nötigen Reformen zu konzentrieren.
Nutznießer ist vor allem die organisierte Kriminalität . Der nahezu rechtsfreie Raum in Nord-Mitrovica ist eine ideale Schmuggelroute nach Europa.
Die anstehende Verleihung des Kandidatenstatus an Serbien erscheint kaum sinnvoll, solange Serbiens Aktivitäten im Nordkosovo zumindest undurchsichtig sind.
Die kosovarische Regierung droht inzwischen immer offener, notfalls im Alleingang die Kontrolle über Nordkosovo zurückzuerlangen – mit ungeahnten Folgen für die gesamte Region. In dieser Situation ist ein geeintes und entschiedenes Auftreten der EU nötiger denn je.
Das setzt aber eine gemeinsame völkerrechtliche Position zu Kosovo und damit die Anerkennung des Kosovo durch die verbliebenen fünf EU Staaten (Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien und Zypern) voraus.
Auch EULEX würde durch eine einheitliche Völkerrechtsposition der EU gestärkt . Soll doch die Mission bislang den Rechtsstaat in einem Völkerrechtssubjekt aufbauen, auf dessen Territorium sie nur teilweise agieren und das sie offiziell nicht anerkennen darf.
Die Ausschreitungen um die Grenzposten in Nord-Mitrovica vor wenigen Wochen machten noch einmal unmissverständlich klar, dass ohne entschiedenes Auftreten der EU nicht nur Stagnation sondern ganz konkret die Gefahr des Wiederaufflammens heißer Konflikte mitten in Europa droht.