Am 23. Januar 2012 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarats die Mutter von Wladislaw Kowaljow aus Belarus in den Ausschuss für Politische Angelegenheiten und in den Ausschuss für Recht und Menschenrechte eingeladen. Ich habe mich nach der Ausschusssitzung noch einmal mit ihr zu einem persönlichen Gespräch getroffen. Sie kämpft fast alleine um das Leben ihres Sohnes und seines Freundes, die zusammen im Herbst zum Tode verurteilt worden sind. Beiden wird zur Last gelegt, für den Sprengstoffanschlag verantwortlich zu sein, der am 11. April 2011 in der Minsker Metro zu 15 Todesopfern und über 100 Verletzten führte.
Frau Kowaljowa arbeitet im Empfang einer Holzverarbeitungsfabrik und zog den Sohn alleine groß. Er ist im November 2010 nach Minsk zurückgekehrt, hat sich dort ein Zimmer genommen, eine Arbeit gefunden und wollte sein Studium fortsetzen. Am 10. April 2011 besuchte ihn sein Freund Dmitrij Konowalow, Arbeiter in einer Traktorenfabrik in Witebsk. Er kam nach Minsk, um ein junge Frau zu treffen, die er über das Internet kennen gelernt hatte. Hierfür mietete er ein Apartment für die Dauer seines Aufenthalts vom 10. bis 13. April 2011 an. Wladislaw Kowaljow verbrachte mit ihm dort die drei Tage.
Wladislaw Kowaljow holte Dmitrij Konowalow am 10. April vom Bahnhof ab. Hierüber gibt es ein Video, mit dem die Komplizenschaft zwischen beiden konstruiert wird. Danach feierten die beiden in Dmitrij Konowalows Apartment eine ausgedehnte Party mit zwei jungen Frauen vom 10. bis 12. April. Am 10. April verließ eine der Frauen das Apartment, während Jana Potschizkaja bei den beiden Männern blieb. Am 12. April riefen Nachbarn wegen Ruhestörung die Polizei. Diese nahm die beiden Jungen am Abend des 12. April fest und nahm sie mit auf die Wache. Der Anschlag in der Metro war am 11. April 2011 um 17.56 Uhr verübt worden.
Wenige Stunden nach der Festnahme begannen für sieben Stunden Verhöre mit dem Vorwurf des Terroraktes, ohne Anwesenheit eines Rechtsbeistands. Wladislaw Kowaljow hörte die Schreie von Dmitrij Konowalow aus dem Nachbarraum und wurde selbst geschlagen („gefoltert“). Das habe Wladislaw Kowaljow aber erst im Gerichtssaal am 15. September sagen können und nicht bei seinem ersten Wiedersehen mit seiner Mutter am 9. September, währenddessen er mit ihr nicht über das Verfahren sprechen durfte. Dmitrij Konowalow unterschrieb um fünf Uhr früh des 13. April 2011 ein Geständnis über eine Tat, die er nicht begangen hatte. Wladislaw Kowaljow sollte die Schuld von Dmitrij Konowalow bezeugen. Um 9 Uhr desselben Tages gab Präsident Lukaschenko in den Medien bekannt, dass die Täter, die das Land hatten „destabilisieren“ wollen, schnell gefasst worden seien und gestanden hätten. Um 11.50 Uhr desselben Tages begann das „offizielle“ Verhör von Wladislaw Kowaljow im Beisein von Anwälten.
Es fand sich zunächst kein Anwalt, der den Mut gehabt hätte, Wladislaw Kowaljow zu verteidigen. Sogar zwei von den Behörden ausgewählte Pflichtverteidiger lehnten die Übernahme des Mandats aus Angst ab. Der schließlich am 16. Mai nach mehreren Anläufen von der Mutter selbst gefundene Anwalt ist mit 26 Jahren noch wenig erfahren.
Die Mutter von Dmitrij Konowalow äußert öffentlich keine Kritik an dem Todesurteil gegen ihren Sohn. Ihr ist angedroht worden, dass sie auch noch ihren zweiten Sohn und ihren Mann verlieren werde, wenn sie Widerstand leisten würde.
Wladislaw Kowaljow sagte im Prozess aus, dass er gefoltert und bedroht wurde, um gegen Dmitrij Konowalow auszusagen. Außerdem habe der Staatsanwalt ihm vor Prozessbeginn angedroht, dass er einen Schuss zwischen die Augen bekäme („einen grünen Fleck auf der Stirn“), sollte er seine Aussage zurückziehen.
Wladislaw Kowaljow und Dmitrij Konowalow haben für die Tatzeit ein Alibi. Zwar hat Jana Potschizkaja ausgesagt, Dmitrij Konowalow, sei zwischen 17 und 18 Uhr an dem fraglichen Tag außer Haus gewesen. Aber es ist nicht möglich, innerhalb von 4 Minuten von dem betreffenden Metro-Bahnhof wieder zu der Wohnung zu gelangen und vor allem sich hinterher die Kleidung zu säubern. Wenn, wie im Prozess behauptet, Dmitrij Konowalow mit einer schwarzen Aktentasche „bewaffnet“ in der Metro gesehen worden ist (es gibt ein untaugliches Video aus dem U-Bahnschacht mit einer schwarzen Gestalt), dann wäre Dmitrij Konowalow so nahe am Anschlagsort gewesen, dass er Spuren von Sprengstoff und Staub hätte auf der Kleidung haben müssen. Im Prozess hat ein Verletzter, der beim Anschlag beide Beine verlor, ausgesagt, dass der Mann in schwarz (angeblich Dmitrij Konowalow) oder die schwarze Aktentasche (die angeblich explodierte) nicht am Ort des Geschehens waren.
Wladislaw Kowaljow ist während der Haft permanent mit Handschellen gefesselt. Er sieht schwer gezeichnet aus. Die Mutter konnte ihn ein Mal zehn Minuten sehen. Seine Schwester durfte ihn für 30 Minuten besuchen. Die Hinrichtung kann jederzeit vollzogen werden. Für den Tag, an dem die Mutter den Europarat besuchen wollte, wurde ihr ein dreistündiger Besuch bei ihrem Sohn angeboten. Sie ist trotzdem gefahren.
Es gibt kaum jemanden, der Frau Kowaljowa unterstützt. Alle haben Angst. Zum Glück hat sich ein junger Belarusse im Exil von change.org (wo Frau Kowaljowa ihre Kampagne gegen Todesstrafe begann) gefunden, der die Mutter begleitet, ihr beim Übersetzen hilft usw. Geld gibt es kaum (die Reise nach Straßburg für Frau Kowaljowa hat der Europarat finanziert).
Ein Motiv für den Anschlag gibt es nicht. Dmitrij Konowalow hat dazu im Prozess ausgesagt, er habe das Land „destabilisieren“ wollen, ohne es näher erläutern zu können. Das Video der ersten Verhöre zeigen, dass Dmitrij Konowalow kaum sitzen konnte, weil er so schwer verletzt war. Fünf mal wurde eine Ambulanz gerufen. Während des Verfahrens wirkte er abwesend, als wäre er unter Drogen gesetzt worden. Im Verfahren wurde den Angeklagten auch die Täterschaft für bislang unaufgeklärte Anschläge in Minsk 2008 und Witebsk 2005 zur Last gelegt. Damit konnten die Ermittlungsbehörden auch diese offenen Ermittlungen endlich abschließen.
Der Fall sei dem UN-Menschenrechtsausschuss übermittelt worden. Dieses habe die belarussischen Behörden gebeten, die Todesurteile nicht zu vollstrecken, bis der Fall untersucht sei (was zwei bis sechs Jahre dauern könne).
Ich gehe von einem großen, zynischen Staatsverbrechen aus. Etwa eineinhalb Stunden nach dem Attentat besuchte Alexander Lukaschenko den Tatort gemeinsam mit seinem sieben Jahre alten Sohn Kolja. Es gab demnach kaum ausreichend Zeit, den Tatort auf einen möglichen, zweiten Sprengsatz zu untersuchen. Dennoch scheint Lukaschenko ausreichend Gewissheit über seine Sicherheit und die seines Sohnes an diesem Ort gehabt zu haben. Das Regime ist bisher für vier Verschwundene in den Jahren 1999 und 2000 verantwortlich zu machen. Ihr Verschwinden wurde nie aufgeklärt.