Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Ein Jahr nach dem Maidan: Meine Reise nach Kiew und Odessa

Der Maidan in Kiew jährt sich zum ersten Mal. Seit dem habe ich dreizehn Mal das Land besucht. Ich besuchte die Bürgerforen in Charkiw und Kiew, Odessa und Slowjansk.

Ein Jahr nach der Euphorie des Maidan steht das Land vor einer Katastrophe. Niemand weiß, wie lange er noch in einer freien Stadt arbeiten kann. Dennoch ist die Zivilgesellschaft aktiv und versucht, unter diesen extremen Bedingungen, die Basis für einen Staat aufzubauen, dessen innere Struktur bisher fast ausschließlich die Korruption war.

Treffen mit jungen Abgeordneten der Werchowna Rada

Seit den ersten freien Wahlen nach dem Maidan sind nun direkte Vertreterinnen und Vertreter des Maidan Abgeordnete in der Werchowna Rada. Die uns am nächsten stehende Gruppe Samopomitsch stellt aus dem Stand 34 Abgeordnete und ist damit die drittstärkste Kraft im ukrainischen Parlament.

Aber auch in anderen Fraktionen gibt es junge Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die das verkrustete politische System reformieren und den Klientelismus aufbrechen wollen. Sie haben eine fraktionsübergreifende Gruppe gegründet. Vier Vertreter dieser Gruppe - Hanna Hopko und Ehor Sobolev (Samopomitsch), Alexij Rjabchin (Batkiwtschyna) sowie Sergij Leschenko (Block von Petro Poroschenko) - treffe ich in Kiew.

Sie berichten von den mächtigen Beharrungskräften des alten politischen Systems. Ihr Kampf ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Wenn sie jetzt nicht die Chance für einen demokratischen Wandel und tiefgreifende Reformen ergreifen, könnten die Maidan-Proteste mit ihrem Kampf gegen Korruption und Willkür und für eine europäische Zukunft ihres Landes vergebens gewesen sein. Ansonsten könnten undemokratische Kräfte von rechts oder aus den oligarchischen Strukturen wieder vollständig die Macht übernehmen.

Antikorruptionskonferenz in Kiew unter dem Dach von Transparency International, 31.1.2015

Am Samstagmorgen sind wir Teilnehmer einer Antikorruptionskonferenz. Der Saal ist brechend voll - die Bürgerinnen und Bürger des Maidan wollen sich ihre Freiheit nicht wieder entwinden lassen. Die Beharrungskräfte des alten Systems sind überall - dennoch gibt es inzwischen eine lebendige Bürgergesellschaft, die den zähen Kampf für Rechtsstaatlichkeit und gegen Korruption aufgenommen hat. Diese mutigen und entschiedenen Menschen verdienen unsere Unterstützung.

"HubOdessa" - Raum für Start-Ups und Co-Working

Das "Hub" in Odessa ist ein alternatives Existenzgründerzentrum. Es könnte ebenso gut ein Start-Up in Kreuzberg sein. In den Räumen treffen wir das "Jugendforum", junge Professionals, die mit Flüchtlingen und displaced persons aus dem Osten des Landes arbeiten. Die Stimmung ist gedrückt: "Wir wollen Frieden". Sie können nicht fassen, dassman sie nicht ihr Leben gestalten lässt, die Stadt aufbauen, eine zivile Gesellschaft schaffen. Was sagt man diesen jungen Menschen? Wir verabschieden uns und wissen nicht, ob wir uns noch einmal in einem freien Odessa wiedertreffen werden.

"Odessa Intelligenzija Forum" - Republikanischer Club

Diese Kulturschaffenden und AkademikerInnen aus Odessa warten auf Unterstützung aus Europa und Deutschland. Sie können nicht verstehen, warum wir so abseits stehen und sie so alleine lassen. Die Front rückt näher und sie wissen nicht, was in ein paar Monaten sein wird. Sie haben Angst, dass mit der Zerstörung der Ukraine auch die Freiheit zerstört werden wird.

Kindererholungsheim für Flüchtlinge in Odessa

Während die internationale Kontaktgruppe in Minsk bekannt gibt, dass die Separatisten sich weigern, überhaupt noch zu verhandeln, mehrt sich die Zahl der Flüchtlinge aus dem Donbas. Es ist schon erstaunlich, dass eine Zahl von nunmehr 1,5 Millionen Flüchtlingen in unserer europäischen Nachbarschaft kaum Debatten, geschweige denn Empathie in Deutschland hervorruft.

Ich besuche ein Kindererholungsheim in Odessa, in dem eine private, von einer Russin ins Leben gerufene, russisch-ukrainische Initiative versucht, möglichst vielen Kindern das Leben erträglich zu machen. Wir besuchen eine Sonntagsnachmittagsrallye (siehe Foto) mit viel Spaß und lauter Musik.

Einkesselung in Debalzewo

Unmittelbar vor meiner Reise hatten die Milizen im Donbass das Abkommen von Minsk vom 5. September 2014 für nichtig erklärt und eine Großoffensive zur Eroberung weiterer Gebiete angekündigt. Damit wurden Hoffnungen auf eine baldige Verhandlungslösung zerschlagen.

Seit der Einigung auf einen Waffenstillstand im September in Minsk wurden unter dem Deckmantel der Waffenruhe die Gebietseroberungen durch die Freischärler ständig erweitert.

Am 30. Januar 2015 weigerten sich die Vertreter der Separatisten gegenüber der OSZE, weiter zu verhandeln. Die OSZE gab bekannt, dass die Vertreter aus Luhansk und Donezk eine vollständige Revision der Vereinbarung verlangten.

Zeitgleich verdichteten sich Anzeichen, dass bei Debalzewo 5.000 ukrainische Soldaten durch Freischärler und russische Kämpfer eingekesselt worden sind. Dieses Gebiet liegt nach der in Minsk verhandelten Demarkationslinie auf dem von den ukrainischen Streitkräften kontrollierten Territorium. Der Kreml braucht Debalzewo, um den Donbas durch eine Eisenbahnstrecke an Russland anzuschließen.

Ich treffe in Kiew und in Odessa auf junge Menschen, die vielleicht in solchen militärischen Katastrophen die nächsten sein könnten. Mich treibt die Frage um, ob wir ihnen ehrlicherweise  sagen sollen, dass wir ihnen nicht beistehen werden und dass sie angesichts der militärischen Übermacht aus Russland die Verteidigung aufgeben sollen?

Man erklärt mir, Putin spiele bei und mit den Minsker Friedensverhandlungen ein Katz-und-Maus-Spiel. Aber welches ist die Rolle des Westens?

Weiß die Nato nicht, ob oder dass russisches Militär massiv in der Ostukraine unterwegs ist, mit modernen Waffensystemen und gut geschulten Soldaten? Wenn ja, wie können wir dann die Verantwortung übernehmen, der Ukraine immer noch den Eindruck zu vermitteln, es lohne sich standzuhalten, denn man stehe ja fest hinter der Ukraine und biete Putin die Stirn?

Wir sprechen von "Konfliktparteien" und das klingt dann so, als seien beide Seiten gleich aggressiv. So als könnten wir den Unterschied nicht sehen zwischen denen, die angreifen und denen, die sich verteidigen.

Es geht den Menschen im Donbas schlecht. In den Randzonen zu Russland herrscht dramatischer Hunger und der Tod holt sich die Menschen. Die Menschen in Charkiw und Odessa, in Mariupol und Cherson haben Angst vor den vorrückenden Truppen. Doch wenn wir die Gegenwehr nicht glaubhaft und entschieden unterstützen, ist es dann nicht ehrlicher, der ukrainischen Regierung zu sagen, dass sie einen Frieden zu Putins Bedingungen schließen muss?

Sind nicht wir die Katze, wenn wir in offensichtlich unehrlich geführten "Friedensverhandlungen" wie in Minsk immer wieder so tun, als könne die Maus nun auf einen Vertrag hoffen, der sie schützt?

In Bosnien wollte die Welt drei Jahre lang nicht wirklich sehen, was dort geschah. Auch dort sagte man: "Wenn die sich da unten die Köpfe einschlagen wollen, können wir nichts tun." Die Nato wusste, dass serbische Truppen zusammen mit Freischärlern das Land und seine Bürger angegriffen hatten, die Frauen vergewaltigten und die Bosniaken vertrieben. Aber das wurde nicht klar benannt, weil niemand handeln wollte. Erst als 7.000 Männer aus den Händen der UNO in den Tod geführt wurden, konnte man nicht mehr wegsehen. Nicht die holländischen Soldaten sind schuldig, die diese Katastrophe aus Angst und Überforderung zugelassen haben. Schuldig war die internationale Gemeinschaft, die den Bosniaken den Schutz verwehrt hat.

An jedem 11. Juli wird in Srebrenica das "Nie wieder" beschworen. Ich fürchte, der Krieg gegen die Ukraine ist das nächste Bosnien Europas - nur in einer viel größeren Dimension.

 

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