Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Juni - Bericht aus Kiew

Liebe Interessierte,

ich habe vergangene Woche nochmals einige Tage in Kiew verbracht. Der neue Präsident bemüht sich nach Kräften, trotz der widrigen Bedingungen einen Schritt in Richtung "gutes Regieren" zu tun. So ist der Generalstaatsanwalt ausgetauscht worden, der zu Zeiten der Übergangsregierung Svoboda angehörte. Die neue Chefin der Zentralbank ist eine international hoch angesehene Ökonomin und der neue Außenminister ist uns als kluger, umtriebiger Diplomat aus Berlin gut bekannt. Das sind ermutigende Zeichen.

Berichten möchte ich von meinem Besuch in der deutsch evangelisch-lutherischen Kirche St. Katharina, die während der Maidan-Proteste als Not-Krankenhaus und -operationssaal für die vielen durch Granatsplitter und Schüsse Verletzten diente. Heute arbeiten dort Ärztinnen als NGO E+ weiter, denn die Katastrophe ist noch nicht beendet. 

Das Ärztinnen-Team in der deutsch evangelisch-lutherischen Kirche St. Katharina

In St. Kathjarina traf ich mich wieder mit Pfarrer Ralf Haska, der mich mit zwei Ärztinnen zusammen führte. Eine von ihnen - Dr. Valerie Warawa - leitete im Winter die medizinische Notversorgung in der Kirche. Sie hat die medizinische NGO E + gegründet. Das Team arbeitet konzentriert an einer Datenbank, die einen genauen Überblick über die Getöteten und Verletzten des Maidan schaffen soll.

Die Ärztinnen berichteten mir, dass viele der auf dem Maidan Verletzten dringend medizinische Nachversorgung bräuchten. Es gehe um 200 bis 300 Personen mit Schussverletzungen – vorwiegend im Bauchraum, die nach der ersten notdürftigen Versorgung nun komplizierte Nachoperationen benötigten. Sie gehen davon aus, dass es außerdem noch etwa 50 Verletzte gibt, die auf spezifische Augenoperationen angewiesen sind. Sie sind durch Granatsplitter getroffen worden und ohne weitere Behandlung würden sie erblinden.  

Vor rund drei Wochen seien die letzten Opfer zurückgekommen, die in den deutschen Militärkrankenhäusern in Koblenz und Ulm aufgenommen worden waren. Dr. Warawa und ihr Team wünschen sich sehnlichst die Unterstützung von qualifizierten Militärärzten z.B. aus Israel und Deutschland. Diese seien sehr erfahren in der Behandlung von Schusswunden und es sei sehr viel kostengünstiger in der Ukraine vor Ort zu behandeln als im Ausland. Das Kiewer Militärkrankenhaus sei bereit, deutsche Ärzte aufzunehmen.  

Ein kleiner Exkurs zu den Geschehnissen auf dem Maidan: Zufällig hielt sich in der Kirche ein junger Arzt in der Ausbildung zum Virologen auf, der am 18./19. Februar Opfer eines Granatanschlags geworden ist. Seine Geschichte verschränkt sich mit der der beiden Ärztinnen: Er sei am 18. Februar nach der Arbeit auf den Maidan gegangen. Der Platz war mit Wasserwerfern umstellt, es wurde aber (noch nicht) scharf geschossen. Plötzlich habe er das Gefühl eines heftigen Steinschlags auf der Brust gehabt. Dann habe es eine Explosion gegeben, er habe geschrien und dann gesehen, dass ihm ein Arm abgerissen worden war. Er wurde von Helfern unter die große Tribüne gezerrt und dort mit einer ersten Hilfe versorgt. Am 22. Februar habe ihn der polnische Außenminister Radosław Sikorsky zur Erstversorgung nach Warschau mitgenommen, dann hätten deutsche Helfer für eine Prothese gesammelt. Er hoffe auf eine bioenergetische Prothese, die in Münster vorbereitet werde.

Der junge Virologe sei "schon sehr wütend über die Entwicklungen in Russland", erklärte mir Dr. Warawa. Seine Schwester sei jede Woche dienstlich in Moskau. Dort glaubte man inzwischen, die ganze Ukraine bestehe inzwischen aus Faschisten. Sogar die Taxifahrer schlügen seiner Schwester vor, in Russland politisches Asyl zu beantragen.

Die beiden Ärztinnen bestätigen, dass mit der Nacht vom 18. auf den 19. Februar eine neue Zeit angebrochen sei. Der junge Virologe sei der erste Patient gewesen, der mit einem abgerissenen Arm in die Kirchenambulanz gebracht worden sei. So etwas hätten sie noch nie zuvor gesehen. Dann schildern sie noch einmal ihre Sicht auf die Entwicklung auf dem Maidan: Jeden Tag seien 15 bis 20 Verletzte zu ihnen gekommen. Sie hatten in der Kirche eine provisorische OP eingerichtet, nachdem klar geworden war, dass die Verletzten, die man in Kliniken gebracht hatte, von dort herausgeholt und verhaftet wurden.Die meisten Patienten seien abends gekommen. Die Miliz (Berkut/Steinadler) stand vor der Kirche. Da Pfarrer Haska diese jedoch immer in der Kirche willkommen geheißen und mit warmen Getränken versorgt habe, hätte sie die Menschen durchgelassen.  

Im Morgengrauen des 20. Februar hätten diese Sicherheitskräfte sich unerklärlicherweise zurückgezogen. Die Menschen auf dem Maidan seien begeistert, geradezu euphorisiert gewesen. Die Sicherheitskräfte hätten geschrien, um die Masse vom Vorrücken zurückzuhalten, denn aus ihrer Afghanistanerfahrung wussten sie, dass eine solche Bewegung eine Falle sein konnte. Aber die Euphorie war zu groß, die Menschen stürmten vor - und dann wurde geschossen.  

Heute koordiniert Frau Dr. Warawa in der Gemeinde die humanitäre Hilfe für den Osten im Raum Donezk im Donbass. Die dortige Situation bereitet ihnen große Sorgen. Jeden Tag kommen Menschen bei den Kämpfen ums Leben oder werden zum Teil schwerverletzt. Viele Menschen im Osten des Landes haben Angst. Sie befinden sich plötzlich in einem Kriegsgebiet. Eine ihrer Ärztinnen sei jetzt in den Osten gegangen, um dort vor Ort zu helfen. Sie hätten täglich Kontakt. Es fehle an allem, vor allem an teuren, blutstillenden Medikamenten. Der Osten stelle die Ärztinnen vor neue Aufgaben. Der medizinische Bedarf sei unlösbar groß. 

Was ich über die Lage in der östlichen Region Donbass erfahren konnte:

Die jetzige Situation im Donbass wurde durch die Verhältnisse in der Region der letzten 20 Jahre begünstigt: In der Zeit von 1997 bis 2010 ist der Donbass von etwa 20 bis 30 Personen beherrscht worden. Darunter auch durch den einflussreichen Oligarchen und Politiker Rinat Achmetov. Es ist zu vermuten, dass dieser über gewisse separatistische Tendenzen im Donbass nicht ganz unglücklich war - allerdings hatte er sich wohl kaum vorstellen können, dass sich die Situation im Osten des Landes auch durch russischen Einfluss dermaßen zuspitzen würde.  

Um separatistische Konflikte in der Ukraine zu entflammen, agiere Moskau immer nach ähnlichem Muster: Zunächst landeten russische Spezialkräfte in der Größenordnung von 30 bis 50 Mann. Die seien allerdings nach zwei bis drei Tagen schon wieder weg und übergäben die Macht an lokale Agenten. Dieses Netz sei schon zuvor aufgebaut worden. Dann werde die offene Grenze für den Nachschub von Kämpfern und Material benutzt. Mittlerweile gäbe es im Donbass schätzungsweise 5.000 bis 10.000 Männer aus Russland. Darunter Abenteurer, Kosaken, Subproletariat und vor allem extreme Nationalisten. Auch kleinere Gruppen aus dem Nordkaukasus kämpfen dort. Sie seien billig. Gekämpft werde oft für 200 Griwna am Tag (20 Dollar). Die Kämpfer sollen zum Teil von dem russischen Oligarchen und Nationalisten Konstantin Malofejew finanziert werden. Russisches Militär unterstütze die Anwerbung von Söldnern, versorge sie mit Waffen und sorge für den Transport in die Ukraine.

Putin unterstützt diese Leute. Ebenso wie die russischen Nationalisten hält er die Ukraine für einen künstlichen Staat. Einer der einflussreichsten Ideologen der russischen Nationalisten, Alexander Dugin, hat erklärt, dass sich in Donezk die Zukunft von Russland entscheiden werde. Ich kann mir vorstellen, dass dieser völkische Nationalismus eines Tages sogar einen Wladimir Putin einholen kann, wenn diese Kreise ihm Zögerlichkeit vorwerfen. 

Einer der wichtigsten Anführer der Separatisten im Donbass ist der unter dem Namen Igor Strelkow bekannte ehemalige russische FSB-Offizier. Eigentlich heißt er Igor Girkin. Er hat schon bei der Besetzung der Krim eine zentrale Rolle gespielt. Er studierte in Moskau am Institut für Geschichte und Archivierung  bei dem liberalen Historiker Juri Afarnasiew, einem Vertreter der Perestroika. Girkin entwickelte sich zu einem glühenden Antikommunisten und orientierte sich hinfort an einem General Denikin, der im russischen Bürgerkrieg 1918 auf der Seite der Weißen-Armee gegen die Bolschewiki kämpfte. Er war schon in Bosnien (auf serbischer Seite) und in Transnistrien an Kämpfen beteiligt. Im Jahr 2013 soll er aus dem FSB entlassen worden sein. Ein nationalistischer Überzeugungstäter scheint dem rationalen Kalkül eines FSB entgegenzustehen. Angeblich wurde er vor einiger Zeit von russischer Seite am Grenzübertritt gehindert. Er wirft Putin inzwischen vor, die Sache des großrussischen Nationalismus nicht entschieden genug zu unterstützen.  

Ein Ausblick

Die ukrainische Gesellschaft und Politik stehen vor enormen Herausforderungen, darunter die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Es gibt den Vorschlag, dass das gesamte Parlament für sich die Immunität aufhebe und damit den Weg zur Untersuchung und Strafverfolgung all derer Parlamentarier freimache, die Verantwortung für die Vorgänge am Maidan trügen. Der Europarat hat ein "international advisory panel" eingesetzt, das alle Gewalttaten auf dem Maidan seit Ende November 2013 untersuchen soll. Dieses Gremium könnte auch die Vorgänge in Odessa untersuchen, was über die staatsanwaltliche nationale Untersuchung hinaus dringend notwendig wäre. Leider scheint das Gremium nicht oder zu langsam zu arbeiten. Heute hat Präsident Poroschenko im Europarat seinen Friedensplan vorgestellt. Sein Auftritt war überaus ernsthaft, klug und sympathisch. Mit seiner Rede hat er noch einmal deutlich gemacht, dass in der Ukraine reflektierte Reformer am Werk sind - in keiner Weise militaristisch, sondern bereit zu verhandeln und auch in dem Bewusstsein, dass sie fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger nicht dem Gesetz der Straße überlassen können. Am morgigen Freitag wird in Brüssel der zweite Teil des Assoziationsabkommens unterzeichnet werden.  

Liebe Leserinnen und Leser, Sie finden auch auf Facebook weitere aktuelle Hinweise und Kommentare zu den Entwicklungen in der Ukraine. Auch allerlei Posts von sogenannten Trollen. Was lange vermutet wurde, ist inzwischen belegt: von russischer Seite wird mit Kreml-freundlicher Propaganda in die internationalen sozialen Netzwerke hinein agitiert (siehe dazu www.sueddeutsche.de/politik/propaganda-aus-russland-putins-trolle-1.1997470). Da meine Facebookseite jedoch weder Plattform für Manipulatoren noch für Troll-Kampagnen ist, haben mein Team und ich entschieden, Beiträge, die eine bestimmte diskursive Ebene verlassen, zu löschen und deren AutorInnen zu sperren. Vielleicht entdecken Sie solche Trolle auch auf Ihren eigenen Seiten. Ich empfehle Ihnen, dahingehend Ihre Seite genau zu prüfen.

Ich freue mich über weitere - auch kontroverse - Diskussionen.

 

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