Am 4. Juni fand in Berlin das Fachgespräch der Grünen Bundestagsfraktion "Was in der Ukraine auf dem Spiel steht - Wie weiter nach dem 25. Mai?" statt. Bei der Veranstaltung, die von der Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen, Katrin Göring-Eckhardt, eröffnet wurde, haben u.a. Gunnar Wiegand (Direktor der Abteilung für Russland, Östliche Partnerschaft, Zentralasien und OSZE-Kooperation im Europäischen Auswärtigen Dienst), die junge Künstlerin Yevgenia Belorusets (Berlin/Kiew) und der angesehene ukrainische Menschenrechtler Ewgenij Sacharow (Menschrechtsgruppe Charkiw/Memorial Ukraine) unter der Moderation von Marieluise Beck über die Entwicklungen in der Ukraine diskutiert.
Anbei finden Sie die Abschrift des Eingangsstatements von Ewgenij Sacharow, der sich zu den aktuellen Ereignissen im Donbass sowie zu den Herausforderungen des neuen Präsidenten in der Ukraine äußerte.
Eingangsstatement Ewgenij Sacharow:
Zum Donbass:
Weder die ukrainische Staatsmacht noch die selbsternannten Gouverneure haben aktuell die Situation unter Kontrolle. Das Sagen haben Kommandeure, die Söldnertruppen befehligen. Diese kommen zum großen Teil aus Russland, sind bestens bewaffnet und verfügen über russische Armeeausrüstung. Die Söldner sickern unter Billigung und mit Unterstützung Russlands in die Ukraine ein.
Dutzende LKW haben die russisch-ukrainische Grenze von der russischen Seite aus durchbrochen. Dann haben sich die Söldner, die auf den LKW waren, in der Ukraine zerstreut. Deswegen ist es beinah egal, wie effektiv die Antiterror-Operation der ukrainischen Armee durchgeführt wird. Das wird kurzfristig nicht helfen, wenn die russische Regierung nicht anders agiert.
Die russischen Söldner bezahlen und bewaffnen lokale Kräfte. Die Basis für die Rekrutierung ist das Subproletariat. Viele von diesen Menschen wurden strafrechtlich verfolgt. Das ist leider generell für die Region Donezk / Lugansk typisch, etwa jeder vierte Mann hat hier einen Gefängnisaufenthalt hinter sich.
Diese Truppen terrorisieren die lokale Bevölkerung in der Region. Sie plündern Geschäfte und Banken. Sie verprügeln Menschen oder töten sie sogar. Dafür genügt es bereits, dass man sich als Verfechter der Einheit der Ukraine zu erkennen gibt. Es gibt viele solcher Fälle. Es gibt viele Geiseln. Aktuell befinden sich 200 Menschen in der Gewalt dieser Kämpfer. Diese Geiseln werden unter sehr unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Hilfe und werden auch geschlagen.
Diese „Separatisten“ wechseln auch die Uniform und kleiden sich dann in der Uniform der nationalen ukrainischen Armee. In dieser Tarnung begehen sie Verbrechen. Sie schießen auf Zivilisten. Es gab bereits einige Vorfälle, in denen auch Kinder Opfer geworden sind. Dies wird dann als Verbrechen der ukrainischen Armee dargestellt.
Damit ist die Situation in Donezk und Lugansk sehr schwer. Diejenigen, die in der Lage waren, haben die Region bereits verlassen. Diejenigen, die geblieben sind, sprechen ständig darüber, wie, wann und wohin sie fliehen wollen.
Dabei muss betont werden, dass die Zivilbevölkerung diese „Separatisten“ mehrheitlich nicht unterstützt. Solange Umfragen noch möglich waren – das war im März, April des Jahres – haben diese gezeigt, dass lediglich 20% der Bevölkerung im Donbass die Separatisten unterstützten. In Charkiw sind es nur 15%. Auf der Krim haben sich vor der Annexion 40% der Bevölkerung für Separatismus ausgesprochen.
Zur politischen Situation:
Im Moment ist es äußerst schwer, in der Ukraine irgendwelche Reformen zu beginnen. Das Land ist ausgeplündert. Ein Teil des Gebietes, die Krim, wurde von Russland annektiert. Im Osten des Landes wird gekämpft. Die alte Elite um den Ex-Präsidenten Janukowytsch hat viele Reichtümer und Geldmittel aus dem Land gebracht. Und in dieser Situation müssen nun die notwendigen Reformen durchgeführt werden.
Der aktuellen Regierung muss man zugestehen, dass sie gute Absichten hat, was die soziale Situation im Land und was die Reform des politischen Systems betrifft. Aber wegen der bereits erwähnten Probleme war es bisher kaum möglich, etwas substantielles zu erreichen.
Zweifelslos, die Durchführung der Präsidentschaftswahlen war ein Erfolg. Es war ein Erfolg, dass es nur einen Wahlgang geben musste, dass man nun einen gewählten Präsidenten hat und dass diese Wahlen den Mythos über Faschismus und Antisemitismus in der Ukraine enttarnt haben. Denn die einschlägigen politischen Kräfte haben zusammen weniger als 2% erlangt. Und beide zusammen haben weniger Stimmen erhalten, als ein Präsidentschaftskandidat jüdischer Abstammung.
Nun erwarten alle Reformen vom neuen Präsidenten. Er kann diese aber nicht einleiten. Seine Befugnisse sind im Wesentlichen durch die jetzige Verfassung beschnitten. Er hat auch keine Befugnisse, vorzeitige Parlamentswahlen einzuleiten. Deswegen steht der Präsident vor einem Dilemma: Entweder wird er entschieden handeln und damit die Verfassung brechen. Oder er wird im Einklang mit der Verfassung agieren. Aber dann wird er vieles nicht umsetzen können, was von ihm erwartet wird.
Theoretisch gibt es die Möglichkeit, dass er über das Verfassungsgericht das Land zur Verfassung von 1996 zurückführt – also zu einer eher präsidentiellen Demokratie. Aber seine politischen Gegner und auch Julia Tymoschenko werden dagegen sein.
Deswegen haben wir eine sehr schwere Zeit vor uns. Und es ist sehr schwer vorherzusagen, was kommen wird.
Und ich schließe nicht aus, dass die Unterstützung, die der Präsident aktuell hat, schwinden kann, weil er schlicht nicht das machen kann, was von ihm erwartet wird.
Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass auch diese Gründe zur weiteren Instabilität in der Ukraine führen können.
(Der Text ist die Abschrift einer konsekutiven Übersetzung)