Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Warum sich eine grüne Abgeordnete für Michail Chodorkowski einsetzt.

Liebe Besucherinnen und Besucher meiner Homepage,

wir haben wieder aufregende Wochen hinter uns. Das Jahr 2013 endete mit einer guten Nachricht: Michail Chodorkowski wurde überraschend aus dem Lager entlassen und kam nach Berlin. Der Medienrummel einschließlich des internationalen Boulevards war grässlich. Der bis dahin prominenteste Häftling Russlands und Kreml-Kritiker erzeugt einen großen Hype und damit rückten seine Anliegen, die in der Katharsis der Haft immer deutlicher wurden, in den Hintergrund. 

Seine Freilassung setzt für mich einen Endpunkt hinter ein acht Jahre währendes Engagement. Ich stand in engem Kontakt zu ihm, seinen Anwälten und seiner Familie und war sehr angerührt, als ich ihn am Tag nach seiner Freilassung treffen konnte. Viele Namenlose sind nach wie vor in Haft, im Zusammenhang mit Sotschi gibt es sogar neue Verhaftungen - die kleine politische "Garküche Büro Beck" hat also weiterhin zu tun. 

Es gab seither viel Zustimmung, aber auch viele kritische Fragen zu meinem Engagement für Chodorkowski – auch aus meinem Wahlkreis Bremen. Manche Bürgerinnen und Bürger möchten nur ihre Vorurteile pflegen. Denen, die sich mit durchaus berechtigten Fragestellungen auseinandersetzen, stehe ich gerne Rede und Antwort. Das setzt allerdings voraus, dass die Adressaten auch bereit sind, Argumente nachzuvollziehen, die sehr detailliert und manchmal auch juristisch sind - es geht schließlich um Menschenrechte als Ansprüche der Bürger gegenüber ihrem Staat. Das ist auch die Agenda von Amnesty International, mit denen ich sehr eng zusammenarbeite.

Da sicherlich auch viele von Ihnen mehr über meine Haltung gegenüber Chodorkowski erfahren möchten, habe ich eine Reihe von kritischen Fragen gebündelt und beantwortet und sie mit einer Reihe von Artikeln ergänzt. Dieses umfassende Paket finden Sie nun hier an dieser Stelle.

1. Zur Frage, ob Snowden nicht mehr für die Freiheit getan habe als Chodorkowski.

Nicht nur, dass ich eine solche Frage nicht beantworten kann. Ich stelle sie mir in der Menschenrechtspolitik auch nicht. Hat die Übersetzerin von Human Rights Watch, um deren Freilassung ich mich in Usbekistan bemühte, mehr oder weniger getan als Snowden?

Hat der russische Aktivist, der sich als Naturschützer gegen den Zaun mitten durch ein Naturschutzgebiet im Rahmen der Sotschibauten wandte, genug für die Freiheit getan, damit er es verdient, dass ich mich für ihn einsetze? Oder die Aktivistin der LGBT Bewegung aus St. Petersburg, die während einer Demo für die Rechte der Queer Bewegung zusammengeschlagen wurde?

Jede und jeder von uns kann nur das ihr und ihm Mögliche tun. Ich konzentriere mich auf Osteuropa, weil ich dort gute Netzwerke habe und mich vertraut zwischen den NGOs bewegen kann. Andere Kollegen tun das z.B. mit dem Schwerpunkt auf die USA. Und es ist bekannt, dass mein Kollege Ströbele und meine Fraktion sich dafür einsetzen, dass Snowden nicht weiterhin in dem Land um politisches Asyl nachsuchen muss, in dem es um die Freiheitsrechte besonders schlecht steht.

Ich habe mich soweit wie möglich auch um die Frauen von „Pussy Riot“ bemüht. Ich war im Prozess in Russland, ich stand mit den Eltern von Nadeschda Tolokonnikowa in Kontakt, wir haben die Anwälte begleitet und sehr eng die Haftbedingungen. Und damit versucht, so gut wie möglich Schutz für die Frauen zu gewähren, deren Leben in der Haft - davon sind wir fest überzeugt - gefährdet war.

2. Der tragische Unterschied zwischen den Frauen von „Pussy Riot“ und Michail Chodorkowski.

Chodorkowski ist nicht frei solange andere Jukos-Mitarbeiter noch in Haft sind, denen mit neuen Prozessen gedroht wird. Der Druck auf Chodorkowski, er möge doch gegen den Kreml nun ordentlich zu Felde ziehen, ist sehr groß. Wenn er diese Bedürfnisse der westlichen Medien bediente, würden andere in Russland den Preis dafür bezahlen, oder, drastischer ausgedrückt: Wladimir Putin hat schlau kalkuliert und sich Geiseln einbehalten.

Das ist bei den Frauen von „Pussy Riot“ anders. Die übrigens Russland keinesfalls verlassen wollen - wie übrigens auch Chodorkowski Russland nicht aus eigenem Willen heraus verlassen hat.

3. Sotschi.

Ich bin im Übrigen fest davon überzeugt, dass nicht der hochverehrte Herr Genscher die Freilassung von Chodorkowski bewirkt hat, sondern der zunehmende Protest gegen eine Olympiade, die durch die drastische Verletzung von Freiheitsrechten gekennzeichnet ist. Erst als Präsident Gauck und Präsident Hollande ihre Teilnahme absagten und Putin drohte, alleine auf der Tribüne des von ihm so herbeigesehnten großen Festes zu sitzen, gab er dem Westen ein wenig Puderschnee: Die Frauen von „Pussy Riot“, die tapferen Aktivisten von Greenpeace und Chodorkowski - sie alle waren im Westen wohlbekannt. Gleichzeitig blieben viele Namenlose weiterhin zu Unrecht in Haft und der Druck auf die Aktivisten in und um Sotschi hat sich gar erhöht.

4. Zum Vorwurf, dass Michail Chodorkowski ein reicher Mann ist.

Zunächst einmal sollte klar sein, dass auch reiche Menschen das Recht auf Rechte haben. Die Frage ist, a) ob ihnen ein faires Verfahren zuteil wurde und b) ob dieses Verfahren politisch motiviert war. Erst dann entscheidet sich z.B. Amnesty International (die Gewaltfreiheit vorausgesetzt) einen Häftling zu adoptieren, wie sie es auch mit Chodorkowski taten.

Der Reichtum der russischen sogenannten "Oligarchen" ist in der Tat atemberaubend und selbst ein Facebook-Gründer bei uns im Westen kann da kaum mithalten. Aber auch hier ist die Frage: Wann und wie kam dieser Reichtum zustande? Die 90er Jahre unter Jelzin bedeuteten ein Russland im Chaos, mit vielen rechtlichen Grauzonen und einer darniederliegenden Produktion. Nur in so einem Umfeld konnten mit solcher Geschwindigkeit große Vermögen entstehen wie. z. B. die von Deripaska, Abramovich, Prochorov, und eben auch das von Chodorkowski.

Nur - keiner von ihnen wurde dafür vor Gericht gestellt. Nur Chodorkowski, der verstanden hatte, dass ein modernes Russland ohne eine freie Zivilgesellschaft und politische Pluralität nicht entstehen kann und diese nach Kräften förderte, landete mit rechtlich unhaltbaren Verfahren vor Gericht.

Chodorkowski wurde nicht umsonst von dem bekanntesten Menschenrechtsanwalt Jurij Schmidt verteidigt, ein Kind des Gulags. Er kämpfte um das Recht und um politische Freiheit - und die hat unter der Vertikale der Macht von Putin immer mehr abgenommen.

Insofern erlangte der Umgang mit Chodorkowski eine symbolhafte Bedeutung. Nicht grundlos haben die Frauen von „Pussy Riot“ ihn aufgefordert, als nächster Präsidentschaftskandidat gegen Putin anzutreten (was er vermutlich nicht tun kann, weil er wieder inhaftiert wäre, wenn er die Grenze zu Russland überträte).

5. Zum Weiterlesen.

Ich füge Ihnen hier noch die Werner Schulz Nominierung von Michael Chodorkowski für den Sacharow-Preis 2013 des Europaparlaments hinzu, einen  Zeit-Artikel von Alice Bota sowie - ganz unten als Anhang - meine Einleitung zu einem Erinnerungsband über den eben erwähnten früheren Anwalt Jurij Schmidt, der vor einem Jahr gestorben ist. Er kämpfte gegen seinen Krebs, um Chodorkowski noch in Freiheit zu erleben. Das war ihm nicht vergönnt. Ich konnte kurz vor seinem Tod noch sein Leben im Gespräch aufzeichnen – am vergangenen Sonntag wurde dieses Büchlein in Berlin mit Arsenij Roginsky (memorial Russland) und Chodorkowski in Berlin vorgestellt. Wer Interesse an dieser Broschüre hat, melde sich doch bitte in meinem Büro. Wir werden Ihnen das Büchlein zusenden. Auf der Homepage der Böll Stiftung ist die Matinée zumindest virtuell mitzuerleben: http://www.youtube.com/watch?v=2YIIFwIM0uM&feature=youtu.be.

Wer all dies gelesen hat, wird vielleicht die Motive meiner Arbeit noch ein wenig besser verstehen. Und nachvollziehen können, dass ich den Grünen und der Böll Stiftung (vor allem Moskau) dankbar dafür bin, dass wir diese Arbeit tun können.

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