Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Nation, Identität und das Erbe der Geschichte

Die Arbeitsgruppe "Zivilgesellschaft" des Petersburger Dialogs traf sich in Moskau zu kontroversen Debatten.

Als Mitglied des Lenkungsausschusses des Petersburger Dialogs nahm Marieluise Beck Anfang Juli in Moskau an zwei Seminaren teil, die von der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“ des Petersburger Dialogs beschlossen worden waren.

Der Petersburger Dialog wurde 2001 von Präsident Putin und dem damaligen Bundeskanzler Schröder initiiert. Seine jährlichen Tagungen sollen dem Dialog der Zivilgesellschaften dienen. Deren Vorbereitung sowie der Konzipierung begleitender Veranstaltungen dient der deutsch-russische Lenkungsausschuß. Seine Mitglieder setzen sich zusammen aus Menschen, die in der Politik, in der Kultur, in Stiftungen oder der Wirtschaft mit den deutsch-russischen Beziehungen befaßt sind. Vorsitzende des Lenkungsausschusses sind Michail Gorbatschow und der CDU-Politiker Lothar deMaiziére.

Der Petersburger Dialog steht schon seit langem in der Kritik aus der Zivilgesellschaft. Er hat sich aus deren Perspektive zu einseitig zu einer staatstragenden Veranstaltung entwickelt. Besonders die russische Seite zeigt sich sehr zurückhaltend mit der Einladung zivilgesellschaftlicher, besonders regierungskritischer Intiativen. In jüngster Zeit konnte dies allerdings verbessert werden. So sind beim letzten Petersburger Dialog 2006 in Dresden erstmals auch Vertreter der Gesellschaft MEMORIAL eingeladen worden.

Marieluise Beck ist in der Nachfolge des früheren grünen Bundestagsabgeordneten Helmut Lippelt seit 2006 Mitglied des Lenkungsausschusses. Obwohl Bündnis 90/ Die Grünen die Kritik der Zivilgesellschaft teilen, soll mit der Aufrechterhaltung dieses Einsatzes versucht werden, die Situation zu verbessern. Nicht zufällig also engagiert sich Marieluise Beck besonders für die Arbeit der Arbeitsgruppe „Zivilgesellschaft“.

Die Moskauer Seminare im Juli umfassten zwei Themen:

Von der Heinrich-Böll-Stiftung Moskau wurde ein Seminar mit Experten aus Deutschland und Russland durchgeführt, die das Thema Xenophobie mit einem vergleichenden Ansatz diskutierten. Spannend war dabei vor allem eine Debatte, die sich um die Frage von Nationen und ihren Identitäten drehte. Es herrschte Einigkeit darüber, dass Migration und die damit verbundene Multiethnizität und Mulitreligiosität eines Landes Herausforderungen an das nationale Selbstverständnis mit sich bringen.

Für Russland gehört die Multikulturalität als Faktum historisch gesehen schon immer zu seinem Nationenverständnis. Dennoch brechen nach dem Zerfall der Sowjetunion auch in Russland neue Spannungen auf.

Die Ausgangslage, von der aus die Debatte um russische Identität heute geführt wird, ist im Programm dieses Seminars plastisch beschrieben:

„Russland steht auf den Ruinen des sowjetischen Imperiums. Auf ihnen kann es ein neues Imperium aufbauen, einen Nationalstaat errichten oder etwas anderes schaffen. Doch auch heute ist das Land noch weit davon entfernt, sich entschieden zu haben. Das gesellschaftliche Bewusstsein kommt mit den stürmischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte nicht mit. Viele Diskussionen bewegen sich auf dem Niveau von Konzepten aus der Mitte des 20., ja oft sogar des 19. Jahrhunderts. Das gilt auch weitgehend für die politische und wissenschaftliche Elite. Russland hat mit dem Ende des Kalten Krieges nicht nur sein Imperium verloren, sondern auch das ideologische Projekt, das über 70 Jahre die Richtung angegeben hat. Eine neue Idee, wohin sich Russland und die russische Gesellschaft entwickeln sollen, hat sich nicht durchgesetzt, wenn nicht die Selbstbeschwörung, Russland sei, quasi naturgesetzlich ein „großes Land“ oder gar eine „Großmacht“ dafür genommen werden soll. Was bleibt ist der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, der tatsächlich ein großer und auch moralischer Sieg war, der aber gleichzeitig auch ein Sieg Stalins war.“

Mit dem Selbstverständnis als Nation hat natürlich der Umgang mit der eigenen Geschichte zu tun. Damit beschäftigte sich das zweite Seminar, das von der Friedrich-Naumann- Stiftung Moskau ausgerichtet worden war.

Selbstverständlich drehte sich die Fragestellung im Wesentlichen um die beiden großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts: dem deutschen Faschismus und dem Stalinismus.

Auf russischer Seite brach eine scharf geführte Kontroverse auf, die auch die politische Debatte der vergangenen Wochen in Bezug auf die von Putin vorgestellte Schulbuchreform prägt. Die ideologischen Berater des Kremls verfochten die These, dass das junge Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nunmehr an einer neuen nationalen Identität arbeiten müsse. Dies gelte insbesondere für die nach 1990 geborene Jugend. Dabei seien allzu kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte - gemeint war vor allem die Stalinzeit - hinderlich. Es müsse von den jungen Menschen als ein Glück empfunden werden, als Russländer leben zu dürfen.

Für Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion wurde ein Monopol auf die Geschichtsbetrachtung dieser Zeit beansprucht. Niemand sonst – nicht das Ausland und auch nicht die neuen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind - hätte das Recht dazu. Das sei Teil des Konzepts der „souveränen Demokratie“, wie es vom Kreml entwickelt wurde.

Bei der Inanspruchnahme dieses Monopols durch die Vertreter des neuen russischen Nationalismus kam heraus: jeder Vergleich zwischen der Nazi- und der Stalinzeit verbiete sich. Im Gegenteil - Stalins Politik war richtig, denn die Feinde Russlands müssten bekämpft werden. Eine starke Hand sei nötig, und sogar Solschenizyn habe das Gefängnis als „Segen“ bezeichnet. Die Vermittlung von Stolz auf die russische Vergangenheit sei das Ziel der schulischen Bildung, dem diene die Schulbuchreform. Dies sei umso nötiger als die 90er Jahre eine durch westliche Einflüsse verseuchte Generation erzeugt hätten.

Dieser Haltung standen die russischen Bürgerrechtler, die auch Geschichtsforschung betreiben, und die deutsche Seite diametral gegenüber. Hier wurde die These vertreten, dass ohne Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte der Aufbau eines demokratischen Staatswesens nicht gelingen könne. Die Verdrängung historischer Fehler und Verbrechen und ihrer Folgen, wie sie noch heute jede Familie betreffen, rufe Minderwertigkeitskomplexe hervor. Gefährlicher Nationalismus würde so befördert. Die Mythologisierung der Vergangenheit führe in eine Sackgasse. Wenn man jedoch die Zukunft gestalten wolle, müsse man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Russland, so das Fazit eines russischen Teilnehmers und Kultursoziologen, kehre geistig ins 19. Jahrhundert zurück. Sehr deutlich wurde jedenfalls, dass der Kreml zunehmend die nationalistischen Kräfte stärkt. Nicht die Verbrechen der Vergangenheit sollen das Thema gesellschaftlicher Debatten sein, nicht die realen Machtverteilungskämpfe im Lande und auch nicht der Kampf um politische Teilhabe. Die russische Identität soll dem Wiedererstarken Russlands und seines Staates dienen und entsprechen. Historische Probleme stören dabei nur, und innere Konflikte sind ein Ergebnis äußeren Einflusses.

Die Luft wird dünner für Bürgerrechtler und demokratisch gesonnene Menschen in Russland. Das sollte die deutsche Außenpolitik sich klarmachen und insbesondere die kleinen Gruppen unterstützen, die trotz aller Widerstände Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ihrem Heimatland Russland einfordern.

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