Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Reisebericht Perm: Zivilgesellschaft im Ural

Besuch von MdB Marieluise Beck in Perm/Russland vom 16.-21. August 2007

Die deutsch-russischen Beziehungen werden im Wesentlichen zwischen Berlin und Moskau abgewickelt. Die Hauptstädte stehen jedoch nicht für die beiden Länder in ihrer Vielfalt. Dies gilt insbesondere für das flächenmäßig weit nach Asien hineinragende Russland mit seinen vielen Ethnien und föderalen Besonderheiten. Mit meiner Reise nach Perm wollte ich abseits von Moskau einen tieferen Einblick in das gesellschaftliche und politische Leben in den Regionen Russlands gewinnen. Meine Wahl fiel dabei auch deswegen auf Perm, weil diese Stadt als außerordentlich liberal gilt und neben Moskau vorgeblich die aktivste Bürgerbewegung hat.

Memorial Perm: mit der Geschichte leben und nicht im Gleichschritt gehen 

Meine erste Begegnung mit der Permer Zivilgesellschaft begann mit einem Besuch der regionalen Sektion der Gesellschaft „Memorial“, die hier seit 1988 existiert. Neben den ehemalig politisch Verfolgten hat auch die junge Generation ihren Platz in der Organisation gefunden. Permer Studenten und Oberschüler beteiligen sich ehrenamtlich an einem sozialen Freiwilligendienst für die überlebenden Opfer des stalinschen Regimes. Jugendliche fahren auf Forschungsexpeditionen und sammeln Zeugnisse der Repressionen in den früheren Lagern des GULAG oder zeichnen die Erinnerungen der politisch Verfolgten auf. In Zusammenarbeit mit Aktion Sühnezeichen Friedensdienste kommen regelmäßig junge Deutsche nach Perm, um sich an den Aktivitäten von Memorial zu beteiligen.

Mit den Aktivisten von Memorial Perm vor dem Büro der Organisation

Die Organisation ist stolz  darauf, dass in der Zeit des Umbruchs von ihr die Initiative für einen zivilen Militärersatzdienst ausging. Sie konnte mehreren dutzend Verweigerern helfen, ihr verfassungsgemäßes Recht auf Kriegsdienstverweigerung durchzusetzen. Seit der Verabschiedung eines drakonischen Zivildienstgesetzes durch die Staatsduma 2003 versucht Memorial, die Regelungen zu verbessern und die Durchführung erträglicher zu gestalten.

Memorial Perm bemüht sich, der Entwicklung von Intoleranz und Xenophobie in der russischen Gesellschaft entgegen zu wirken. Mit der Förderung einer lebendigen Vielfalt in Stadt und Region Perm sollen demokratische Strukturen von unten aufgebaut werden. Dafür organisiert Memorial Diskussionen, Sommercamps und Straßenaktionen mit politisch interessierten Jugendlichen, zu denen auch junge deutsche Gäste kommen. Höhepunkt dieser Arbeit war ein großer farbenfroher politischer Umzug im vergangenen Jahr. Im Mittelpunkt des Umzugs stand ein buntes Patchwork-Stofftuch, auf dem die Wünsche von 6000 Bürgern nach Toleranz verewigt wurden. Viele der Teilnehmer trugen ein orangefarbiges Kleidungsstück – die Botschaft an die Herrschenden war damit wohl eindeutig.

Umzug von Memorial Perm, Juni 2006

Das Dorf Pawlowo: Einwohner vs. Ölkonzern

Auf Einladung der Umweltgruppe „Grüne Ökumene“ besuchte ich das Dorf Pawlowo im Südwesten der Region Perm. Das Dorf liegt mitten in einem Gebiet in dem „LUKOIL“ als zweitgrößter russischer Erdölproduzent viele Bohrtürme betreibt. Die Einwohner von Pawlowo sind sowohl von stark veröltem Wasser als auch von giftigen Dämpfen geplagt, die bei der Ölförderung entstehen. Sie klagen über Schüttelfrost, Nasenbluten, ständige Kopf- und Magenschmerzen. Wer es sich leisten konnte oder bei Verwandten und Bekannten unterkam, hat das Dorf bereits verlassen.   

Während einer Führung an die Flüsse und durch das Dorf konnte ich mich von Umweltschäden in einem geradezu atemberaubenden Ausmaß überzeugen.

Am Ufer des Flusses Turajewka in der Nähe von Pawlowo

Die Einwohner von Pawlowo haben eine Initiativgruppe gegründet, um für ihre Rechte zu kämpfen. Ihre Hauptforderung ist für westliche Verhältnisse relativ bescheiden: Umsiedlung des Dorfes. Doch gegen eine gemeinsame Haltung der Regionsadministration und LUKOIL konnten sich die Pawlowoer bisher nicht durchsetzen. Deshalb werden sie weiterhin Prozesse gegen den Ölkonzern führen.

Zusammen mit den Umweltaktivisten Marina und Pawel Wachruschew aus Pawlowo

Bei einem offiziellen Termin mit dem Vertreter der regionalen Administration sprach ich die Umweltprobleme in der Region und die Situation im Dorf Pawlowo an. Es stellte sich heraus, dass mein Gesprächspartner bis vor kurzem für LUKOIL gearbeitet hatte. Scheinbar spielt  LUKOIL in der Region Perm eine ähnliche Rolle wie GAZPROM auf föderaler Ebene: Politik und Wirtschaft sind derart eng mit einander verquickt, dass eine Trennlinie kaum zu ziehen ist.

„Perm-36“: Langes Echo des GULAG

130 km von Perm entfernt befinden sich im Dorf Kutschino das einzige heute noch erhaltene Straflager aus der Stalinzeit. Das Lager wurde noch bis 1987 für politische Häftlinge genutzt und beherbergt heute das Museum für die Geschichte der Repressionen und des Totalitarismus in Russland „Perm-36“. Unter schwersten Bedingungen wurden hier Dissidenten, Menschenrechtler und Gegner des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion gefangen gehalten.

Hof für Spaziergänge in Perm-36

Hier starb im Jahr 1985 der ukrainische Schriftsteller Wassyl Stuss vier Wochen bevor ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen werden sollte. Heute weiß man, dass entgegen der offiziellen Behauptung Stuss eines gewaltsamen Todes starb. Die sowjetische Führung wollte den Autoren scheinbar weder freilassen noch einen Nobelpreisträger im Lager einsperren und wusste dieses nur auf diesem Wege zu verhindern, denn posthum wird der Literaturnobelpreis nicht verliehen. Dies alles geschah bereits zur Zeit der Perestroika in der Ära Gorbatschow.

Bei der Führung wurde deutlich, welch unglaubliches Ausmaß die Verbrechen des Stalinismus hatten und dass die heutige politische Führung mehr denn je darauf bedacht ist, die Zeit des Stalinismus zu tabuisieren.

Während der Führung im GULAG-Museum

Auf der Reise in die russische Provinz hat sich gezeigt, dass es der russischen Zivilgesellschaft  trotz aller Schwierigkeiten gelingt, sich zu organisieren und zu artikulieren. Kleine Inseln von Bürgerinitiativen, die unabhängig vom fast allgegenwärtigen russischen Staat agieren, gibt es in der Millionenstadt Perm und sogar in Pawlowo mit seinen 100 Seelen. Aber klar ist auch, dass ohne Unterstützung aus dem westlichen Ausland die Arbeit dieser Gruppen in den Bereichen Geschichtsaufarbeitung, Umwelt, Jugendaustausch und Menschenrechte so nicht möglich wäre. Für die Fortführung dieser wertvollen Arbeit ist die finanzielle Hilfe durch ausländische Stiftungen und anderer Nichtregierungsorganisationen unabdingbar.

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