Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Reisebericht Gaza und Israel vom 3. bis 6. März 2009

Noch während des Krieges im Nahen Osten zu Beginn diesen Jahres besuchte ich die Stadt Sderot im Süden Israels, um mir ein Bild von den Auswirkungen des Raketenbeschusses aus dem Gazastreifen auf das Leben und die Verfassung der Menschen in den Städten Sderot und Ashkelon zu machen (siehe auch: Reisebericht Israel und Westjordanland 15. bis 18. Januar 2009). Es war mir gleichzeitig ein wichtiges Anliegen, so schnell wie möglich auch nach Gaza zu reisen, um auch die „andere“ Seite mit den schwerwiegenden Auswirkungen der Kriegshandlungen auf die palästinensische Zivilbevölkerung und der prekären humanitären Lage zu sehen und einen Eindruck von der politischen Stimmung vor Ort zu gewinnen.

Ich muss alle enttäuschen, die erwarten, ich hätte nun ein abschließendes, schlüssiges Bild - geschweige denn ein persönliches Urteil über Recht und Unrecht, über Verursacher und Reagierende, über Täter und Opfer mitgebracht. Der Konflikt im Nahen Osten ist zu alt, die Enttäuschungen zu vielfältig, das Misstrauen zu groß und vielleicht sogar selbst den Agierenden die Ziele zu unklar, um mit uneingeschränkten Urteilen wiederzukommen. Ich bringe daher nur Facetten von Wahrheiten mit und gebe sie in dem Bewusstsein weiter, dass diese unvollständig, manchmal sogar fehlerhaft sein können und dass ich stets bereit sein muss, sie zu hinterfragen und auch zu korrigieren.

Obwohl ich nur einen Tag  im Gazastreifen verbrachte, wurden meine Eindrücke dank des mich begleitenden Leiters der Heinrich Böll Stiftung Ramallah außergewöhnlich umfassend. Joachim Paul hat drei Jahre für die UNICEF in Gaza gearbeitet. Ich konnte von seinem dichten Netzwerk vor Ort profitieren, das auch Treffen mit Bürgern jenseits der „Offiziellen“ ermöglichte. Mein Begleiter René Wildangel, Referent aus der grünen Bundestagsfraktion, wurde von den israelischen Grenzbehörden am Übergang Erez mit dem Hinweis zurückgewiesen, seine Sicherheitsüberprüfung sei seitens der israelischen Behörden noch nicht abgeschlossen. Laut Vertretungsbüro Ramallah allerdings hatte man die 5-tägige Frist für den Einreiseantrag eingehalten. Mein Versuch, über den deutschen Botschafter zu intervenieren, schlug fehl.

Nachdem wir die große und faktisch leere Abfertigungshalle passiert hatten, die in ihren Ausmaßen auf die Abwicklung eines regen Grenzverkehrs angelegt ist, fuhren wir durch betonbesichertes Niemandsland und viele Sperren in den Gazastreifen ein. In Hamza Hamza nahm uns eine deutsch-englische Mitarbeiterin des Hilfswerks der UN für Palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) in Empfang.

Unsere erste Station war ein Industriegebiet im östlichen Gazastreifen, ein Israel zugewandtes Territorium außerhalb von Gaza-Stadt, in dem zu besseren Zeiten kleine Fabriken gearbeitet hatten, die sowohl für den heimischen Bedarf, aber auch für den Export nach Israel gearbeitet hatten. Ein Teil der kleinen Manufakturen war schon seit Beginn der Intifada und der seither geltenden weitgehenden Abriegelung des Gazastreifens verfallen. Die verbliebenen Gebäude, u.a. eine Speiseeisfabrik und eine angrenzende Rinderfarm waren fast vollständig zerstört – die israelische Armee hatte hier viele Angriffe geflogen. Aus dem Gebiet und dem ihm vor gelagerten Orangenhain waren immer wieder Kassamraketen abgeschossen worden. Produktion, Handel und Verkauf aus diesem „Industriegebiet“ hatten dereinst palästinensische und israelische Geschäftsleute in diesen Fabriken zusammengebracht. Derzeit ist schwer vorstellbar, wir diese Trümmerberge (ohne schweres Gerät) entsorgt werden können und ein Neubeginn möglich sein wird.

In Gaza-Stadt sind die Zerstörungen nicht so großflächig und in den engen Gassen nicht so unmittelbar sichtbar. Wir trafen Dr. Abed Shokry, einen palästinensischen Ingenieur aus Berlin, der sich nach 17jährigem Aufenthalt in Deutschland zur Rückkehr mit Frau und Töchtern entschlossen hatte. Er wurde begleitet von dem ebenfalls fließend deutsch sprechenden Dr. Samir Affifi, der das United Nations Development Programme (UNDP) berät und sich schwerpunktmäßig mit Umweltfragen beschäftigt – ein Feld, das im Gaza reichlich Betätigung bietet. Abed Shokry kam genau zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Hamas im Sommer 2007 in Gaza an. Er wartet bis heute auf sein gesamtes Hab und Gut aus Deutschland, das im Hafen in Ashdod feststeckt und aus „Sicherheitsgründen“ nicht in den Gazastreifen gelassen wird. In seinem Bericht bekamen wir so einen Eindruck davon, wie die Blockade des Gaza als feindselig und ungerecht empfunden wird. Dasselbe gilt für die israelische Intervention und ihre weitreichenden Folgen. 

Es wurde schnell deutlich, dass die sonst übliche Begegnung, die zügig auf grundsätzliche politische und strategische Fragen zusteuert, momentan kaum möglich ist. Die emotionale Erschütterung ist zu groß, die Stufe des Erzählens, des Mitteilens, ja auch der Klage kann nicht übersprungen werden. Ich mache keinen Hehl daraus, dass  ich von der Schärfe einiger Aussagen überrascht war. Wenn gebildete Gesprächspartner z.B. Verschwörungstheorien über die Ermordung Arafats durch den Westen verbreiten, wie dies ein anderer Deutschlanderfahrener tat, wie denken dann erst jene, die seit vielen Jahren abgeschottet im Gazastreifen leben, keine Ausbildung genossen haben und  ihr Weltbild eher aus propagandistisch gefärbten Medien beziehen?  Bei vielen Menschen in Gaza scheint es keine große Nähe zur Hamas zu geben, insbesondere dann, wenn sie sich nicht als religiös verstehen. Aber es gibt auch sicher keine Absage an die Hamas, da man sich in erster Linie als Opfer der israelischen Angriffe sieht. Gefragt nach der Perspektive einer „Regierung des Konsenses“ zwischen Hamas und der PLO wurde die Meinung vertreten, dass Mahmud Abbas ein Kaiser ohne Reich sei und er die Hamas mehr brauche als sie ihn. Die Politik des Mahmud Abbas sei widerlegt: sie bedeute kein Ende des Siedlungsbaus sondern stattdessen 680 Checkpoints in der Westbank.

Ob ein Gespräch möglich wäre, das auslotet, inwieweit die Menschen im Gaza in der Tat zwar Opfer israelischen Handelns sind, gleichzeitig aber möglicherweise auch Opfer der Hamas (der die Reaktion der israelischen Seite egal ist, ja vielleicht nicht einmal unlieb, wenn sie die Menschen trifft), ob ein solches Gespräch möglich wäre, konnte ich in dieser kurzen Zeit nicht erfahren.

Es folgte ein Briefing durch John Ging, den irischen Direktor der UNRWA im Gaza, der zutiefst aufgebracht war über das seiner Wahrnehmung nach unverhältnismäßige und in der Konsequenz auch unkluge Handeln der israelischen Armee und Politik. Er schilderte eindringlich, dass die UNRWA versuche, der unendlich großen Zahl von Kindern und Jugendlichen überhaupt noch etwas wie Bildung und zivile Werte und Normen zu vermitteln. Und dass sie mit dem Rücken zu Wand stünden: hier die Moscheen, in denen gepredigt werde, die Eltern sollten ihre Kindern nicht zur UNRWA schicken; dort die Israelis, die durch ihre Politik der Abschottung des Gaza der Hamas die Menschen geradewegs zutreiben würden.

Er forderte ein glasklares und zu allen Seiten formuliertes hartes Bestehen der USA und der EU auf das Völker- und Kriegsvölkerrecht. Wenn UN-Institutionen und die westliche Welt sich vor einer unbestechlichen Haltung wegdrücken würden – und sei es auch gegenüber Israel – sei ihr Auftrag im Gaza schon verloren.

Ging betonte, dass die Gestaltung des Alltags für die meisten Menschen im Gaza immer mühevoller werde, in den Familien seien alle Reserven aufgebraucht, alles verkauft, 80% der Menschen auf ergänzende Unterstützung durch die UN angewiesen. Dennoch kürze er eher die Nahrungsmittelhilfen als die Kinder- und Jugendprogramme. Die Arbeit mit jungen Menschen stehe absolut im Zentrum ihrer Arbeit und sei der verzweifelte Versuch des Gegenhaltens – auch gegen eine Radikalisierung und ethische Verwahrlosung. Wer die Bevölkerung im Gazastreifen nur unter dem Gesichtspunkt einer kollektiven Unterstützung für den Terrorismus betrachte, tue ihr nicht nur Unrecht, sondern verhindere, dass sie eine bessere Perspektive bekämen. Das ginge nicht mit humanitären Almosen, sondern politischen Lösungen. Dazu zählt vor allem eine Grenzöffnung, damit ausreichend humanitäre Güter in den Gazastreifen kommen, aber auch eine wirtschaftliche Erholung und der Wiederaufbau möglich werden.

Die Palästinenser brauchten – wie auch die Israelis – dringend auch eine Aussicht auf dauernde Sicherheit. Maxime des Handelns und Denkens beider Seiten müsse sein: Was tut dem anderen gut? Ging ließ durchblicken, dass er die Angriffe der israelischen Armee auf zwei Schulen und ein Warenhaus der UNRWA als Zeichen werte, dass ihre Arbeit von israelischer Seite nicht erwünscht sei. Obwohl sich die Staatengemeinschaft bei der Geberkonferenz in Sharm El-Sheikh mit Zusagen überbot und eine Wiederaufbausumme von 5 Milliarden Dollar zusammen kam,  fehlt der UNRWA immer noch Geld – derzeit genau 120 Millionen Dollar. Es bleibt in diesem Zusammenhang anzumerken, dass in Israel die Arbeit der UNRWA höchst kritisch gesehen wird und der Vorwurf im Raum steht, die UNRWA perpetuiere den Flüchtlingsstatus vieler Palästinenser.

Da wir um 15 Uhr den Gazastreifen verlassen haben mussten, weil die israelische Seite danach den Grenzübergang schließt, blieb nur noch Zeit für ein Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft: beispielsweise Dr. Iyad El-Sarraj, der seit vielen Jahren als Psychiater mit dem Gaza Community Mental Health Programme im Gaza arbeitet und immer in Kontakt zu israelischen Friedensaktivisten und israelischen Kollegen stand und Issam Younis, Leiter der Menschenrechtsorganisation Mezan Center und dem Direktor des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte, Raji Sourani. Es muss zu denken geben, dass selbst diese Menschenrechtler derzeit keine Perspektive für eine Verständigung mit Israel mehr sehen und das Gefühl haben, Israel wolle sie eigentlich aus Gaza verdrängen. Die Ausweitungen der Siedlungen in der Westbank verstärken zudem das Gefühl, dass eine Zwei-Staaten Lösung schon passé sei.

Mein Begleiter Joachim Paul, Leiter des Büros der Heinrich Böll Stiftung in Ramallah, stellte wiederholt fest, wie unendlich müde und erschöpft all unsere Gesprächspartner wirkten: Müdigkeit und Bitterkeit. Derzeit fehlt – zumindest diesen Menschen – die Kraft, auf neue Perspektiven zuzugehen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass ich nicht alle Menschen treffen konnte, die ich treffen wollte: Obwohl Peace Now-Aktivisten aus Israel vor dem Krieg mit unabhängigen Friedensaktivisten aus dem Gaza zusammen gearbeitet hatten, baten sie mich nun eindringlich, keinen Kontakt mit diesen Menschen im Gaza aufzunehmen. Sie befürchteten, dass sie willkürlicher Gewalt seitens der Hamas ausgesetzt sein könnten – und wie skrupellos die Hamas sein kann, hat sie seit der Machtübernahme im Juni 2008 schon oft genug gezeigt.

Im Gazastreifen wird sich in den nächsten 18 Jahren die Zahl der Menschen verdoppeln. Unvorstellbar, dass diese nächste Generation in diesem Kessel eingeschlossen aufwachsen könnte, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne Fluchtmöglichkeit, ohne jede Perspektive in ihrem wirtschaftlichen, politischen und privatem Leben. Wenn eine solche Perspektive nicht geschaffen wird – durch konkrete politische Fortschritte und eine graduelle Öffnung des Gazastreifens – ist absehbar, dass dies ein unvorstellbares Problem nicht nur für die Zivilbevölkerung von Gaza, sondern auch für die Sicherheit Israels und letztlich der ganzen Region bedeuten könnte.

So bleibt noch anzumerken, dass die dramatische Situation der Palästinenser im Gazastreifen noch eine zweite Seite hat. Das ist die Politik der Ägypter, die ihrerseits ihre Grenzen gegenüber den „arabischen Brüdern“ hermetisch abriegeln und so jede Destabilisierung im eigenen Lande verhindern wollen. Zugleich wird nicht rigoros gegen den Schmuggel von Gütern und Waffen vorgegangen und die Solidarität mit Gaza propagiert, um sich nicht den Unmut der ägyptischen Muslimbrüder - der Mutterbewegung der Hamas - zuziehen. Die Palästinenser zwischen den Mühlsteinen aller, auch der eigenen Führung, die verantwortungslos gegenüber den Menschen agiert, das ist die derzeitige schwierige Situation des palästinensischen Volkes im Nahen Osten.

Am folgenden Tag treffe ich die vertrauten Freunde Dan Jacobson und Mossi Raz von Peace Now und der Partei Meretz. Israel steht vermutlich vor der Bildung einer rechtsnationalen Regierung. Peace Now hat Kenntnis von Plänen, den Siedlungsaufbau in der Westbank noch einmal zu verstärken und weitere bis zu 300.000 Israelis anzusiedeln. Auch wenn das Dementi der israelischen Regierung sofort erfolgte, lassen die Äußerungen eines möglichen Ministerpräsidenten Netanjahu und eines möglichen Außenministers Liebermann nichts Gutes erwarten.

Das Zeitfenster für die Zweistaatenlösung droht, sich zu schließen - und steht damit auch gegen das israelische Interesse am Erhalt eines jüdischen Staates. Ohne einen palästinensischen Staat würden die Juden im Land auf Dauer zur Minderheit gegenüber den Palästinensern. Der Schlüssel liege jetzt bei den USA und der EU, der Siedlungsbau müssen gestoppt und ernsthafte Verhandlungen für einen palästinensischen Staat jeder israelischen Regierung abverlangt werden. Dazu aber gehöre auch und vor allem Sicherheit für Israel. Eine geräumte Westbank, die zur Abschussrampe für palästinensische Raketen werden könne, sei eine traumatische Vorstellung für alle Israelis. Und das erfordere ernsthafte und belastbare Sicherheitsgarantien von der internationalen Staatengemeinschaft.