Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Chodorkowski vor Gericht: Eindrücke eines Schauprozesses

Marieluise Beck ist nach Moskau gereist, um den zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowski, ehem. Hauptaktionär der Ölfirma Jukos, und seinen Geschäftspartner Platon Lebedew zu beobachten. Bereits im Jahre 2005 waren beide in einem Verfahren, das keineswegs rechtsstaatlichen Standards entsprach und offensichtlich politisch motiviert war, zu jeweils acht Jahre Haft verurteilt worden. Das zweite Verfahren droht, einen ähnlichen Verlauf zu nehmen, zumal die Anklage absurde Ausmaße hat und in direktem Widerspruch zur ersten Anklage steht.

Lesen Sie ihre Eindrücke aus dem Gerichtssaal:

27. April 2009. Ein Tag im Bezirksgericht Chamowniki von Moskau. Verhandelt wird der große "Wirtschaftsstrafprozess" im Streitwert von ca. 20 Milliarden Dollar gegen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew.

Das Gerichtsgebäude ist unscheinbar und der Verhandlungssaal klein und schäbig. Bullige Polizisten "sichern" den Raum. Man möchte mit ihnen lieber nicht allein sein.

Marieluise Beck vorm Bezirksgericht Chamowniki

18 Tage lang hat die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift verlesen  -  eine Zermürbungsstrategie nicht nur für die Anwälte und Angeklagten, sondern auch für potenzielle Prozessbeobachter, deren Geduldsfaden angesichts eines solchen Marathons abreißen sollte.

Doch eine kleine Gruppe von Menschen hat noch nicht aufgegeben und begleitet den Prozess. Die Bänke bieten wenig Raum für Zuschauer, etwa für die Größe einer Schulklasse.

Unter ihnen ist Marina Filippowna, die Mutter von Chodorkowski, eine weißhaarige alte Dame. Auch Grigory Jawlinski, ehemaliger Vorsitzender der demokratischen Jabloko-Partei, schaut für einige Stunden vorbei.

Chodorkowski und Lebedew werden in Handschellen in den Gerichtssaal geführt und dann in einen Glaskäfig gesteckt, der oben vergittert ist. Sie sehen grau und müde aus. Immerhin sitzen sie seit über fünf Jahren im Gefängnis, davon die letzten zwei Jahre in Untersuchungshaft. Das bedeutet: keine Teilnahme am Hofgang, kein Sport, kleine Zellen, kaum Kommunikation.

Ein beklemmendes Gefühl stellt sich ein bei der Vorstellung, dass die beiden Männer mit dem Gedanken leben müssen, nach dem Prozess auf weitere lange Jahre im Lager zu verschwinden. 

Vor dem Käfig sitzen acht Anwälte, z. T. erfahrene Menschenrechtsverteidiger. Sie wissen, dass sie hier mit rechtstaatlichen Mitteln der Verteidigung agieren, ihnen aber kein Rechtsstaat auf Seiten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft gegenüber tritt.

Die Staatsanwälte tragen Uniform und lesen über Stunden aus Beweismaterialien vor. Der Richter wirkt unscheinbar, geradezu stoisch, wie ein armer Tropf. Kein eitles Zurschaustellen, dass er so ein prominentes Verfahren führen darf. Die Frage stellt sich, ob er überhaupt rechtliche Spielräume hat? Ruft er jemanden an, nachdem er die Verhandlung unterbrochen hat, um die Anträge der Verteidigung auf Zurückweisung des Verfahrens zu bescheiden?

Der Antrag der Verteidigung wird abgelehnt - eine erkennbar ehrgeizige junge Staatsanwältin fährt mit dem Verlesen der Beweismittel fort. Ungerührt liest sie Seite um Seite.

Die Akten umfassen Kubikmeter – 14 Bände, 3500 Seiten. Dennoch sind die Eckdaten des Verfahrens leicht benannt. Der Vorwurf lautet: Unterschlagung von 350 Mio. Tonnen Erdöl im Wert von ca. 20 Mill. Dollar, Geldwäsche von 21,4 Mill. Dollar.

Entspräche diese Anschuldigung den Tatsachen, wäre der im ersten Prozess erhobene Vorwurf der Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe obsolet. Denn Chodorkowskis Jukos-Konzern hätte keine Einnahmen gehabt, die zu versteuern gewesen wären. Die Verurteilung zu acht Jahren Lagerhaft im ersten Prozess und die neue Anklage schließen sich also gegenseitig aus.

Vieles spricht dafür, dass Chodorkowski sein politisches Engagement zum Verhängnis wurde und Putin einen unliebsamen Konkurrenten beseitigen wollte. Das unterscheidet ihn von anderen Oligarchen, denen der Kreml nicht den Prozess macht.

Insider gehen deswegen davon aus, dass Chodorkowski keine Chance auf Freilassung hat, solange Putin noch die Macht besitzt, ihn "unschädlich" machen zu können.

Über dem Gerichtssaal liegt ein Hauch von Vergeblichkeit, charakteristisch für politische Prozesse in autoritären Regimes. Zwar laufen sie äußerlich korrekt ab, aber jeder weiß, dass der Ausgang des Verfahrens nicht im Gerichtssaal entschieden wird.

Russland ist Mitglied im Europarat und in der OSZE und hat sich damit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Viel von der Glaubwürdigkeit des neuen Präsidenten im In – wie im Ausland wird davon abhängen, wie dieser Prozess zu Ende geht. Eine weitere Verbannung Chodorkowskis und Lebedews aus dem öffentlichen Leben Russlands würde die Reformbekenntnisse Medwedews substanzlos wirken lassen.