Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Plenarrede zur Ukraine

Am 31. Januar 2014 debattierte der Bundestag auf Anregung der grünen Bundestagsfraktion in einer vereinbarten Debatte über die Ukraine.

Sehen Sie hier die Rede von Marieluise Beck als Video:

Lesen Sie hier den Redetext von Marieluise Beck nach:

Vizepräsident Peter Hintze:

Als Nächster erteile ich der Kollegin Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der vergangenen Woche ist in Lemberg ein junger Mann unter der Anteilnahme von 10 000 Bürgerinnen und Bürgern zu Grabe getragen worden. Er ist im Wald von Sicherheitskräften des Präsidenten Janukowitsch zusammengeschlagen worden und dann erfroren. Wer hier unterstellen möchte, diese Bewegung in der Ukraine sei mehrheitlich rechtsradikal und antisemitisch,

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das hat doch niemand gemacht!)

der fällt diesen Menschen in den Rücken, die in der Tat zum ersten Mal unter den Flaggen der Ukraine und der EU gemeinsam für Freiheit kämpfen.

(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das hat niemand gemacht! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist verlogen!)

Sie kämpfen auch für Europa, wie sie sagen, obwohl sie eigentlich zu Europa gehören, Herr Kollege Wellmann. Aber für diese Menschen ist Europa ein Synonym: ein Synonym für die Befreiung von Willkür, ein Synonym für die Befreiung von der Kleptokratie, die in der Ukraine in atemberaubender Weise um sich greifen konnte, ein Synonym für die Abschaffung von Wahlbetrug und ein Synonym dafür, dass die Staatsgewalt nicht einfach blindwütig zuschlagen darf.

Es gibt die Hoffnung, dass Europa, wie gesagt wird, der nächsten Generation eine Zukunft gibt. Ich weiß, dass Menschen, die von der Entwicklung der Orangenen Revolution enttäuscht gewesen sind und gesagt haben: „Wir gehen nicht noch einmal auf die Straße“, auf die Straße gegangen sind, als sie gesehen haben: Unsere Kinder werden geschlagen. Da kamen die Massen auf die Straße. Unter sie haben sich rechtsradikale Elemente gemischt, aber sie sind nicht die Mehrheit.

(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das hat auch keiner behauptet!)

Sie könnten aber die Mehrheit werden, wenn wir in Europa diese Menschen, die vielleicht mehr an Europa und dessen Werte glauben als wir, bitter enttäuschen und sie sich alleingelassen fühlen. Das stärkt die radikalen Kräfte; denn die werden sagen: Seht ihr, ihr habt von Europa nichts zu erwarten. Wir müssen mit unseren Knüppeln die Sache selber in die Hand nehmen. – Das wäre eine Art von Selffulfilling Prophecy.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dieser Bewegung – ich habe es eben wieder vorsichtig gehört, mehr im Kammerton; gestern Morgen im Ausschuss war das deutlicher zu vernehmen – wird vorgeworfen, sie habe kein gemeinsames Programm. Sie hat gemeinsame Ziele: Sie wollen nach Europa. Sie wollen Befreiung von der Kleptokratie, zum Beispiel die des Präsidentensohns, dessen Vermögen sich innerhalb von drei Jahren von 7 auf 510 Millionen Dollar erhöht hat und der das Geld in den Westen schaffen konnte. Sie wollen Rechtsstaat statt Korruption. Sie wollen Amnestie. Und sie haben ein politisches Ziel: die Rückkehr zur Verfassung von 2004, die Janukowitsch abgeschafft hat. Erst die Einführung der Demokratie würde die Möglichkeit bieten, freie Entscheidungen zu treffen und freie Wahlen in der Ukraine durchzuführen. Diese Menschen vertrauen auf uns. Das sollten wir ernst nehmen.

Wer sechs Jahre einen Vertrag verhandelt, hat eine Verantwortung übernommen. Dies gilt nicht nur für Präsident Janukowitsch, der seiner Bevölkerung jahrelang erklärt hat: Ich handle einen Vertrag aus und werde ihn unterzeichnen. – Vielmehr sind auch wir in der Verantwortung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wer jetzt sagt: „Das könnte für uns zu teuer werden“, wird den europäischen Werten in ungeheuerlicher Weise nicht gerecht. Wir müssen da, wo wir Hoffnungen geweckt und Verantwortung übernommen haben, bereit sein, dafür einzustehen. Dazu gehört auch, keine heimlichen Zugeständnisse an den Kreml zu machen und etwa zu sagen, dass die Ukraine eben doch russische Einflusszone sei und dass man dieses Assoziierungsabkommen vielleicht von vornherein nicht hätte verhandeln dürfen.

Dazu gehört auch: keine heimliche Akzeptanz eines sehr kalt kalkulierten geostrategischen Machtdenkens von Putin, der dabei ist, die Reste des Imperiums wieder einzusammeln. Dazu gehört auch, ihm nicht zuzugestehen: Das, was Snyder die „Bloodlands“ nennt, der Puffer zwischen Polen und Russland, wird wieder als russisches Glacis anerkannt; wir pfeifen auf die Souveränität dieser Länder. – Diese Zungenschläge müssen wir uns verbitten.

Was können wir Parlamentarier und Parlamentarierinnen tun? Es gibt 28 EU-Länder. Wenn sich aus jedem Parlament nur zwei Parlamentarierinnen und Parlamentarier in den nächsten Wochen aufmachen und ständig in Kiew, Charkow, Lemberg vor Ort sind – das ist das, was wir tun können –, dann wären immer mehr als 50 Parlamentarier in der Ukraine.

Ich meine, wir sollten uns dazu durchringen, das mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten in der EU zu tun. Wir sollten wenigstens das tun: in die Ukraine gehen, vor Ort sein, den Menschen zeigen, dass wir zu unseren Versprechen und zu unseren Werten stehen und dass wir sie schützen wollen, soweit wir nur irgend können.

Schönen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])

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