Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Marieluise Beck: "Es gab bei den Grünen der frühen 80er Jahre Debatten, die wir heute für irre halten."

Inzwischen ist leider klar: Gruppen mit pädophilen Forderungen konnten bei den Grünen in den 1980er Jahren ihr Unwesen treiben. Der Bundesvorstand der Partei hat am 13. Mai beschlossen, dass sich ein unabhängiges Forschungsinstitut mit der Frage befassen soll, welche Rolle pädophile Forderungen in der Gründerzeit der Partei spielten. Seit vergangenem Freitag steht nun fest, dass sich das Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen, das von dem Parteienforscher Prof. Franz Walter geleitet wird, mit der Aufarbeitung dieser Frage auseinandersetzen wird. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur fordert Marieluise Beck dazu auf, bei der aktuellen Debatte zu beachten, «in welcher Zeit sich die Turbulenzen ereignet haben».

Warum redet jetzt alle Welt über Pädophile und Grüne?

Beck: «Tatsächlich ist ganz vieles zu dem Thema seit Jahren
öffentlich einsehbar und auch bereits diskutiert. Der Anlass nun war,
dass Bundesverfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle seine
Festrede zur Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Daniel
Cohn-Bendit abgesagt hat wegen der Sätze aus dessen Buch von 1975 zur
Sexualität von Kindern und Erwachsenen. Diese Debatte hat einen
ernstzunehmenden Kern. Aber es liegt natürlich auch parteipolitische
Musik in ihr - und die wird genutzt.»

Haben die Grünen keinen Anlass zur Selbstkritik?

Beck: «Es gab bei den Grünen der frühen 80-er Jahre Debatten, die wir
heute für irre halten. Was Dany Cohn-Bendit angeht, habe ich keinen
Grund, an seinen Aussagen zu zweifeln, dass er mit den in der Tat
unerträglichen Sätzen damals provozieren wollte. Man bedenke die
Zeit. Das war 1975. Im Bemühen der antiautoritären Bewegung und dann
auch bei den Grünen, die jahrzehntelange sexuelle Prüderie der
Nachkriegszeit zu überwinden, gab es Unschärfen.»

Welche Unschärfen?

Beck: «In den Anfangsjahren der Grünen konnten zu lange die "Stadtindianer" ihr Unwesen treiben, die die Freigabe der
Sexualbeziehungen zwischen Erwachsenen und Minderjährigen forderten.
Das gab es auch in einer Arbeitsgemeinschaft der Grünen, bei der es
scheinbar um die Befreiung von der Diskriminierung von Homosexualität
ging, in die sich aber auch Pädophile eingeschlichen hatten. Da wurde
erst 1987 eine klare Grenze gezogen. Aber Forderungen dieser
Minderheiten setzten sich bei den Grünen nie durch. Es gibt keinen
Tatort "Grün".»

Geschieht den Grünen Unrecht, wenn breit über Pädophile in ihren
Reihen geredet wird?

Beck: «An manchen Beiträgen heute zu den 70er und 80er Jahre stört
mich, dass ausgeblendet wird, in welcher Zeit sich die Turbulenzen
ereignet haben. Es ging um die schwierige Befreiung von der
bleischweren Sexualmoral der Nachkriegszeit. Das rechtfertigt keine
Pädophilie. Aber es gab andere Grenzen, die neu zu diskutieren
waren.»

Was meinen Sie?

Beck: «In meinem Elternhaus zum Beispiel war schon das Wort
"schwanger" tabu. Man "erwartete" bestenfalls ein Kind. Eine
"Zeugung" hatte nie stattgefunden und mit Lust schon gar nicht. Ich
komme aus einer Familie mit sechs Schwestern und alle haben in der
einen oder anderen Weise Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen
gemacht. Bei der einen war es der Pfarrer, bei der anderen der
väterliche Lehrer, bei mir der Vater meiner Austauschfamilie. Jede
von uns hat das mit sich ausgemacht, sich geschämt und sich schuldig
gefühlt. Das gäbe es bei den jungen Frauen heute so nicht mehr.»

Was hat das mit Pädophilie zu tun?

Beck: «Damals war bei weitem nicht so klar wie heute, was erlaubt ist
und was nicht. Dass sich Eltern Kindern nackt zeigen, war zum
Beispiel undenkbar, als ich klein war. Wer die Spießigkeit der Eltern
überwinden wollte, war nicht immer trittsicher in seinen Maßstäben.
Dazu gehörten auch Turbulenzen. Ich sage nur Fritz Teufel und die
Kommune 1.»

Waren also frühere Tabus Schuld, dass es dann zu zügellos zuging?

Beck: «Einerseits: In der Nachkriegszeit dienten Tabus auch als
Deckmantel für Missbrauch. So kam ein Kinderarzt in jener Zeit nicht
auf den Gedanken, dass er es mit sexuellem Missbrauch zu tun hatte,
wenn ein kleiner Patient mit Analverletzungen in seine Praxis kam.
Andererseits: Auch fehlende Tabus wie die vermeintliche sexuelle
Freiheit der "Stadtindianer" wurden zum Deckmantel für Missbrauch.
Ich glaube, wir können heute diese Grenzen sicherer ziehen.»

Interview: Basil Wegener, dpa, 20. Mai 2013

Weitere Interviews mit Marieluise Beck zu diesem Thema finden Sie unter folgenden Links auf der Website der Wochenzeitung DIE ZEIT sowie auf der Homepage des Deutschlandfunks .