Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Anders ist gefährlich!

Was den in Moskau demonstrierenden Schwulen- und Lesben-AktivistInnen, darunter der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck, am vergangenen Samstag in Moskau widerfuhr, passierte leider nicht unerwartet.

Ökoaktivisten oder Menschenrechtlern sind schon ähnlich attackiert worden. Alle, denen das vermeintliche Anderssein schon von außen anzusehen ist, ob sie nun russische StaatsbürgerInnen sind oder nicht, kommen, wie ausländische Studenten im Januar in Woronesch nach der Ermordung eines peruanischen Kommilitonen, heute nur noch aus purer Not darauf, es könne eine gute Idee sein, in Russland für seine Rechte auf die Straße zu gehen. Anders zu leben, anders zu denken und, noch schlimmer, anders auszusehen, sich anders zu bewegen und zu sprechen, ist in Russland wieder gefährlich. Wer zudem noch, wie Schwule und Lesben, mit seinem Sosein tiefsitzende Ängste und Phobien bei „echten Männern“ weckt, ruft besondere Agressivität hervor. Hier ist Russland nicht anders.

Das Land sucht 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion – und damit endgültig des russischen Imperiums – nach sich selbst. Es ist eines der wichtigsten Projekte Putins, herauszufinden, „wer wir sind“. Identitätssuchen sind immer prekär, umso mehr, wenn es um kollektive Identitäten geht. Immer mehr Menschen sehen im Ausschluss von allem als fremd und anders Erfahrene den richtigen Weg zu einer russischen nationalen Identität. Die in jüngster Zeit national und international mit parvenuehaftem Selbstbewusstsein auftretende politische Elite muss sich sehr wohl nach ihrem Anteil daran fragen lassen. 

Die Moskauer Stadtverwaltung begründete ihr Verbot der Gay-Parade damit, Leib und Leben der Demonstranten gegen Angriffe ihrer erklärten Gegner nicht schützen zu können. Das ist zwar rechtlich unhaltbar, inhaltlich aber nicht ganz falsch. Seit Wochen riefen radikale orthodoxe Gläubige, Nationalisten und Neonazis auf ihren Websites dazu auf, die Gay-Parade gewaltsam zu verhindern. Aber auch distinguierteren Damen und vor allem Herren als dem rasenden Mob der Straße gefällt es nicht, das die „Sodomisten“, wie Schwule in Russland gern abfällig genannt werden, ihren Neigungen nicht still und am besten heimlich und unsichtbar nachgehen. Es reicht doch schon aus, wenn man aus Rücksicht auf westliche Grillen wie die Menschenrechte diese Unzucht überhaupt dulden muss.

Dem Moskauer Bürgermeister muss es bei seinen regelmäßigen Treffen mit seinen offen schwulen Berliner und Pariser Kollegen mulmig zumute sein. Er unterstützte das Verbot und nannte eine Gay-Parade in Moskau „bei uns aus ethisch-moralischen Erwägungen unzulässig“ und forderte, Homosexuelle sollten „ihre Abweichung im Gebiet von Lebensorganisation und Sex nicht zu öffentlich zur Schau stellen.“ Das könnte man, zwar mit Schwierigkeiten, aber doch immerhin noch als einen wenn auch gequälten Versuch von political correctness halten. Vertreter der wichtigsten russischen Religionsgemeinschaften äußerten sich unverblümter: Ein Sprecher des Moskauer Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche verglich die Gay-Parade mit einer Demonstration von Drogensüchtigen und Drogendealern. Der Leiter des kirchlichen Außenamtes Metropolit Kyrill entwickelte gleich eine ganz neue Theorie der Menschenrechte, in der Wert und Würde eines Menschen getrennt betrachtet werden. Alle Menschen seien gleich viel wert, so Kyrill, aber Würde hätten einge mehr als andere. Homosexuellen spricht der Metropolit die Würde ab. Einer der wichtigsten russischen  Muftis machte es sich einfacher. Er rief alle gläubigen Muslims auf, Schwule, derer sie habhaft würden, gut durchzuprügeln. Der Oberrabbiner bekundete sein „Mitleid“ mit den armen, vom rechten Weg Abgeirrten.

In der russischen Schwulen- und Lesben-Community wurde vor der Demonstration kontrovers diskutiert, ob öffentliche Aktionen angesichts der schnell zunehmenden Intoleranz in der russischen Gesellschaft sinnvoll, ja gar notwendig seien oder ob sie eher schadeten und die feindselige Stimmung Schwulen gegenüber verstärken würden. Angriffe agressiver Gläubiger auf einen Moskauer Schwulenklub Anfang Mai und die Sprengung einer Vorlesung in der staatlichen allrussischen Bibliothek für Fremdsprachen im Rahmen des Moskauer Gay-Festivals vorige Woche zeigten, wie aktuell und wichtig diese Diskussion ist. Ein Teil der Homosexuellen und ihrer nicht sehr zahlreichen UnterstützerInnen entschied sich für den Gang in die Öffentlichkeit. Bewusst wurde aber keine bunte Gay-Parade nach New Yorker oder Berliner Vorbild mit viel nackter Haut und frivolen Kostümen angemeldet, sondern eine einfache Demonstration „zum Schutz der Rechte von Schwulen und Lesben“.

Dass die Demonstration trotzdem verboten wurde, war vorauszusehen. Das lag nicht allein und wohl nicht einmal in erster Linie daran, dass dort Schwule und Lesben auf die Straße gehen wollten. Schon seit einigen Jahren wird das Demonstrationsrecht in Russland staatlicherseits systematisch ausgehölt. Obwohl es selbst nach  dem vor zwei Jahren verschärften neuen Demonstrationsgesetz lediglich notwendig ist, die zuständigen Lokalbehörden über eine geplante Demonstration, eine Kundgebung oder eine Mahnwache fristgerecht zu informieren, werden nicht genehme Aufzüge oft unter meist fadenscheinigen Vorwänden untersagt. Moskau ist dank dieser klar rechtswidrigen Praxis praktisch schon zu einer oppositionsfreien Zone geworden. Das Zusammenspiel von Politik, Verwaltung und Gerichten funktioniert einwandfrei. Ein in seiner Lächerlichkeit schönes Beispiel ist das Verbot einer Kundgebung gegen den Bau der Ölpipeline aus Ostsibirien am Baikalsee entlang des Pazifischen Ozeans, die für Ende April von Ökogruppen im Moskauer Stadtzentrum geplant war. Auf den Hinweis der Ordnungsbehörden, die Kundgebung so nahe am Kreml werde unter keinen Umständen zugelassen, ließen sich die Initiatoren darauf ein, den Demonstrationsort auf die Sperlingsberge zu verlegen. Doch der Ablehnungsbeschied kam auch hier prompt: Der Hügel, auf dem das riesige Stalin-Gebäude der Moskauer Staatsuniversität steht, drohe, so die Begründung der zuständigen Präfektur, aufgrund des langanhaltenden Frühjahrregens unter dem Gewicht der Demonstranten in die sich darunter Richtung Kreml windende Moskwa zu rutschen. Klagen gegen derartige Verwaltungsentscheidungen werden von den Gerichten eleganterweise meist erst nach dem Demonstrationstermin verhandelt oder, wie bei der Gay-Parade vom vorigem Samstag, vom Gericht abgewiesen.

Der einzige Vorwurf, der den Organisatoren der Demonstration gemacht werden könnte, ist, in einer aufgeheizten Situation die möglichen Folgen nicht ausreichend bedacht zu haben: Die Schläge und Tritte gegen Volker Beck waren vorhersagbar. Auch das oft gar nicht so stille Einverständis von Polizei und politischer Führung mit den Schlägern ist bekannt. Ob Volker Beck Russland nun so gut kennt, um das vorher gewusst zu haben oder nicht: Seine Anwesenheit auf der Demonstration war mutig. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Russlandbeauftragte der Bundesregierung Andreas Schockenhoff hat Unrecht, wenn er ihm „Profilierung“ und Missachtung der „politischen Ordnung des Gastlands“ unterstellt. Rechtsbrecher am vergangenen Samstag in Moskau waren nicht die Demonstranten, die ihr in der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention verbrieftes Grundrecht wahrnahmen, sondern die Moskauer Stadtverwaltung, die die Demonstration rechtswidrig verbot, die Moskauer Polizei, die die Demonstranten nicht schützten wollte und die politisch Verantwortlichen, die dazu schwiegen.