Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Petersburger Dialog 2015, Potsdam Vortrag von Botschafter Wolfgang Ischinger bei der Eröffnungssitzung am 22. Oktober 2015

Ich möchte den Organisatoren dieses „neuen“ Petersburger Dialogs für die Einladung herzlich danken, heute hier zu sprechen. Seit Dezember 2014 sitze ich einem von der OSZE-Troika berufenen "Panel of Eminent Persons" vor, das Vorschläge zur Stärkung der europäischen Sicherheit ausarbeiten soll. Dem Schlussbericht dieser hochrangig besetzten Kommission kann ich hier nicht vorgreifen. Aber über eins waren sich  amerikanische, georgische, polnische und britische Mitglieder mit dem russischen Mitglied Sergey Karaganov einig: nämlich dass es zwischen dem Westen und Russland zur Zeit an sehr Vielem fehlt, vor allem anderen an Vertrauen und an Ehrlichkeit. Statt ehrlich über die Ursachen der Krise und über Gemeinsames und Trennendes miteinander zu diskutieren, werden – übrigens nicht nur auf russischer Seite - die alten Propagandahunde wieder von der Kette gelassen - mit verheerenden Folgen für den Umgang miteinander.

In dieser Lage kann der – neue – Petersburger Dialog nur dann eine bedeutsame Rolle spielen, wenn er eine ehrliche Auseinandersetzung über den Zerfall der europäischen Friedensordnung und seine Ursachen ermöglicht und fördert. In diesem Geiste will ich versuchen, hierzu jetzt einen pointierten Anstoß zu liefern.

Meine Damen und Herren,

Wenn wir heute Bilanz ziehen über die deutsch-russischen, die europäisch-russischen, die westlich-russischen Beziehungen, dann kann das nur eine Bilanz des Scheiterns sein. Leider. Der Versuch ist vorerst gescheitert, unseren Beziehungen im Verlauf der letzten 25 Jahre eine fundamental neue und nachhaltige Qualität zu geben.

Wir sind nicht alle gleichermaßen gescheitert. Wir sind nicht alle gleichermaßen verantwortlich für dieses Scheitern. Und wir leiden nicht alle gleichermaßen unter diesem Scheitern. Aber leiden tun beide Seiten, das Scheitern betrifft uns alle.

Das Scheitern ist zum einen militärischer Natur: nach Jahrzehnten der Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung, um vertrauensbildende Maßnahmen, um Partnerschaft haben wir es heute mit der gefährlichsten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges zu tun, ja vielleicht sogar seit der Kubakrise. Riskante Manöver im europäischen Luftraum, neuerdings auch über Syrien, mit der sehr realen Gefahr von Missverständnissen und eskalatorischen Fehlentscheidungen, angesichts bekannt kurzer Vorwarnzeiten für den Start nuklearstrategischer Systeme: ist allen bewusst, welch katastrophale Risiken hier drohen?

Meine Damen und Herren, es ist mehr als einmal von russischer Seite auf die Einsatzfähigkeit des eigenen nuklearen Waffenarsenals hingewiesen worden. Wir dürfen das nicht einfach als Kraftmeierei abtun. Völlig zurecht hat ein kürzlich erschienener Bericht der sehr angesehenen "Nuclear Threat Initiative" folgende klare Botschaft formuliert: „Das Risiko des Einsatzes von Nuklearwaffen in der Euro-Atlantischen Region steigt – und es ist höher als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt seit dem Ende des Kalten Kriegs."

Ich hatte eigentlich gehofft, dass ich solche Sätze in meinem Leben nicht mehr würde lesen – oder gar vorlesen – müssen.

Es ist aber die Situation, in der wir uns heute befinden – eine Situation, in der sich beide Seiten weit voneinander entfernt haben, in der die Kooperationsprojekte der vergangenen 25 Jahre in Scherben liegen und in der die Vision einer vertrauensvollen Partnerschaft in weite Ferne gerückt ist. Das Scheitern ist also nicht nur militärischer, sondern auch politisch-strategischer Natur.

Damit Visionen von Partnerschaft, Zusammenarbeit und Vertrauen wieder in den Bereich des realpolitisch Möglichen rücken, müssen wir deshalb zunächst eine schonungslose Bilanz ziehen.

 

Die Bilanz des Scheiterns

Erstens:

Europa ist daran gescheitert, eines seiner wichtigsten strategischen Ziele zu erreichen, so definiert in der EU- Sicherheitsstrategie von 2003 : „Wir müssen darauf hinarbeiten, dass östlich der Europäischen Union und an den Mittelmeerufern ein Ring gut regierter Staaten entsteht [a ring of well-governed states], mit denen wir enge, kooperative Beziehungen pflegen können.“

Natürlich war die Erweiterungspolitik der EU – übrigens auch die der Nato – ein wichtiges und erfolgreiches Instrument zur Erreichung dieses Ziels. Doch außerhalb der erweiterten EU sehen wir heute statt eines Rings gut regierter Staaten  instabile, zerfallende Nachbarschaften, sowohl im Osten wie im Süden. Wir dürfen nicht den Fehler machen, den Blick nach Osten nur auf die Ukraine bzw. auf die Krim zu richten. Kürzlich wurden wir z.B. durch Enthüllungen über nukleare Schwarzmärkte in Moldawien daran erinnert, wie gefährlich die leider oft vernachlässigten "frozen conflicts" sein können. Und davon gibt es zu viele, denken Sie etwa an Nagorny-Karabach oder - wieder ganz aktuell - nach Georgien. Und selbst von jenen Staaten, die vordergründig „stabil“ wirken wie Belarus, wird niemand behaupten wollen, es handele sich um „gut regierte Staaten“.

 

Ein zweites Scheitern: Gescheitert ist die Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses – eines Hauses, das auch ein Zimmer für Russland hat. Wenn wir ehrlich sind, sind wir heute weiter denn je von dem gemeinsamen europäischen Haus entfernt.

Warum eigentlich? Warum? Weil wir uns über die Grundprinzipien europäischer Sicherheit – des europäischen Status Quo  – nicht mehr – wirklich einig sind. Die Hausordnung des angestrebten gemeinsamen europäischen Hauses wurde und wird völlig unterschiedlich interpretiert.

Für EU und NATO zählen  Gewaltverbot, Unverletzlichkeit von Grenzen und freie Bündniswahl zu den zentralen Prinzipien, fest vereinbart in Helsinki 1975 und in Paris 1990. Demgegenüber hat Russland nicht aufgehört, seine eigene Sicherheit so zu definieren, dass sie fast zwangsläufig der Unsicherheit der Nachbarn Russlands bedarf.

Schonungslos gesagt, heißt das: die Frage des territorialen Status Quo in Europa, die wir seit über 2 Jahrzehnten für beantwortet hielten, ist wieder offen. Wer die Geschichte Europas kennt, weiß, dass es bei der Frage einer nachhaltigen Friedensordnung in Europa stets vor allem um den territorialen Status quo ging – und geht. Das war so in Wien vor 200 Jahren, das war so in Jalta und hier in Potsdam,  und das ist – leider – immer noch – oder wieder –  so.

Lange Zeit sind wir davon ausgegangen, dass  die Wertesysteme des Westens und Russlands sich langsam angleichen würden, dass Russland sich hinbewegen würde Richtung Westen. Jetzt müssen wir feststellen,  dass Russland sich immer stärker vom Westen abwendet.

Russland will heute vor allem  eins, nämlich Stabilität. Und definiert sich deshalb immer stärker als Garant des machtpolitischen Status Quo. Ob Ghaddafi, Assad oder Janukowitsch, Moskau unterstützt solche Regime,  haelt so am status quo  fest  und droht im VN-Sicherheitsrat mit dem Veto. Umgekehrt  beschuldigt Moskau den Westen, seinerseits unter Bruch des Völkerrechts allenthalben regime-change zu betreiben, mit den Folgen schwerer Instabilitäten und Konflikte.

Menschen- und Bürgerrechte, Responsibility to Protect, demokratischer Wandel und Zivilgesellschaft : diese und andere Begriffe aus der modernen westlichen Werteskala bleiben dabei zwangsläufig auf der Strecke. Also eine tiefe und tiefer werdende Wertekluft.

Das gilt nicht nur für die Außenpolitik, sondern wie gesagt auch für die Innenpolitik. Russlands Eliten definieren  die russische Identität heute gerne gegen ein als dekadent empfundenes Europa.

Ganz besonders haben leider auch  die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gelitten. „Ich glaube, dass die Europäer, und vor allem die Deutschen, mich verstehen werden“, sagte Präsident Putin bei seiner Rede anlässlich der Annexion der Krim am 18. März 2014. Nachdem Russland den unaufhaltsamen Wunsch der Deutschen zur Wiedervereinigung unterstützt habe, erwarte er nun, „dass die Bürger Deutschlands nun auch das Streben […] des historischen Russlands unterstützen, Einheit wiederherzustellen.“ Über 80 Prozent der Deutschen sagten wenige Monate später, dass man Russland nicht vertrauen könne. In anderen europäischen Ländern sind die Werte ähnlich hoch. Als Reaktion auf diese klare deutsche Ablehnung der Krim-Annexion als illegal argumentierten russische Politiker, dass man dann auch die Legalität der deutschen Vereinigung in Frage stellen müsse. Und außerdem sind in Russland heute zwei Drittel der Meinung, dass Deutschland in seiner Außenpolitik auf Befehl der USA handle. Auch diese Zahlen sind Ausdruck einer tiefen Vertrauenskrise, Ausdruck massiven Scheiterns.

Zu dem Komplex des gescheiterten Hauses Europa gehört auch der Umgang mit der NATO-Osterweiterung – und hier ist nicht nur Kritik an Moskau, sondern auch westliche Selbstkritik angesagt. Der grundsätzliche Ansatz war damals, vor 20 Jahren, richtig: Der Pfeiler der Osterweiterung sollte, das war der deutsche Ansatz, um einen zweiten, gleichwertigen Pfeiler ergänzt werden – eine neue Qualität vertrauensvoller Beziehungen zwischen NATO und Russland. Ergo die NATO-Russland-Grundakte, die ich selbst vor 20 Jahren  mit ausgehandelt habe. Die NATO-Erweiterung war von uns nicht als Politik gegen Russland konzipiert worden, sondern als mit Russland konzertiertes Element der Einbindung früherer Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts in eine kooperativere gesamteuropäische und von uns jetzt gemeinsam zu schaffende Ordnung.

Spätestens mit dem etwas unverfrorenen Versuch in der Ära Bush, die Ukraine und Georgien enger an die NATO zu binden und damit expressis verbis die russische Schmerzgrenze zu verletzen, war das Ende dieser Politik der zwei gleichwertigen Pfeiler besiegelt.

Dennoch sollte sich Russland fragen, warum eigentlich heute noch mehr europäische Staaten als vor der aktuellen Krise NATO-Mitglieder werden wollen. Die NATO hat sich immer nur auf Wunsch der jeweiligen Regierungen und Gesellschaften erweitert – oft erst nach langem Zögern. Neuerdings werden NATO-Beitrittsbefürworter selbst in Staaten wie Schweden und Finnland immer lauter. Ist das das Ziel russischer Strategie?

Der Versuch, eine europäische Sicherheitsordnung zu errichten, in dem sich jedes Land sicher fühlt – auch Russland, auch alle Länder, die nicht der NATO angehören – ist damit bis auf weiteres gescheitert.

 

Ein weiteres Scheitern ergibt sich aus Russlands abgebrochener Modernisierung. Das heißt nicht, dass die deutsch-russische Modernisierungspartnerschaft eine falsche Idee war. Aber ihre gutgemeinten  Ziele haben wir verfehlt.

Sie alle kennen die aktuellen russischen Wirtschaftszahlen: Für 2015 wird mit einem Rückgang des BIP von etwa 4 Prozent gerechnet. Die Reserven schmelzen. Die Kapitalflucht ist weiter dramatisch, ebenso der Exodus ausländischer Investoren. Viel schlimmer noch: Wesentliche Teile der russischen Eliten suchen ihr Heil heute im westlichen Ausland. Zitat German Gref von 2014: „Der beliebteste Antrag unter den Geschäftsleuten ist der Antrag auf Emigration.”

Die ursprüngliche Kalkulation des russischen Haushalts für 2015 basierte auf einem Ölpreis von 100 Dollar. Massiv gespart wird nun also überall – außer beim Militär. Man könnte auch sagen: Die einzige Modernisierung, die Russland konsequent vorantreibt, ist die militärische.

Seit 1. Januar 2015 haben die russischen Streitkräfte circa 4000 Militärübungen durchgeführt, mehr als 10 Mal so viele wie die NATO und ihre Verbündeten. Zwischen 2004 und 2014 hat sich der Etatposten "nationale Verteidigung" im russischen Haushalt glatt verdoppelt.

Das große Thema der Modernisierung der russischen Wirtschaft, Gesellschaft und Infrastruktur ist demgegenüber  auf der Prioritätenliste der russischen Regierung leider nach unten gerutscht.  Hier ist nicht nur ein gemeinsames Projekt gescheitert, meine Damen und Herren: hier droht Russland zu scheitern. Weil es so nicht nur Wirtschaftswachstum, sondern auch gesellschaftlichen Wandel und Demokratie blockiert. Damit erzeugt Moskau eine Scheinstabilität, die den äußeren Feind gut gebrauchen kann, um von Stagnation  im Inneren abzulenken.

Hier – und nicht etwa in Nato-Erweiterungsentscheidungen des Westens – hier liegt der eigentliche Kern unserer Beziehungskrise.

 

Was tun?

Man kann leider nicht besonders optimistisch sein, was die nähere Zukunft unserer Beziehungen angeht. Die Differenzen sind groß und grundsätzlicher Natur. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz in diesem Jahr gesagt, dass diese Krise möglicherweise lange dauern könnte. Wenn wir an bessere Zeiten anknüpfen wollen, dann heißt das, dass wir nicht nur eine Strategie, sondern  auch strategische Geduld brauchen.

Strategische Überlegungen könnten anfangen mit der Frage, ob die Idee eines gemeinsamen europäischen Hauses überhaupt noch aktuell ist. Und sie müssen die Frage mit einschließen, welche kleinen, pragmatischen Schritte wir vielleicht gemeinsam gehen können, um die hochgefährliche Krise zumindest etwas in den Griff zu bekommen. Denn wir haben ja durchaus handfeste gemeinsame Interessen – angefangen mit der Bekämpfung des internationalen Dschihadismus und dem beiderseitigen Interesse an einer vernünftigen Handels-und Wirtschaftspartnerschaft. Und dass Sicherheit in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland dauerhaft erreicht werden kann, wird wegen der Krise ja nicht etwa falsch: im Gegenteil.

Vor allem sollten wir uns jetzt nicht abgewöhnen, die Ziele – manche würden sagen: die Visionen – zu definieren, die wir trotz allem gemeinsam erreichen wollen. Ich wünsche mir ein prosperierendes, starkes Russland, das als Partner Europas agiert, das von Europa profitiert und von dem auch Europa profitieren kann – ein Russland, das selbstverständlicher Teil Europas ist, das sich in einer euroatlantischen Sicherheitsgemeinschaft zuhause fühlt und vor dem kein Nachbar Angst haben muss. Ich wünsche mir, dass unsere Kinder und Enkel tatsächlich in einem gemeinsamen europäischen Haus leben, in dem das Reisen von Russland nach Deutschland und andersherum so selbstverständlich ist wie heute das Reisen von Deutschland nach Italien oder Polen. Ich wünsche mir ein Europa mit Russland – ein Gesamteuropa des Rechts, der Menschenrechte und des Friedens.

Mit Gegenentwürfen zu einem solchen Europa haben wir im vergangenen Jahrhundert bereits genug schreckliche Erfahrungen gemacht. Auch deswegen sind die Prinzipien von Helsinki und Paris so wertvoll. Sie müssen wieder mit Leben erfüllt werden.

Im Folgenden möchte ich sechs Pfeiler einer  Strategie mit kurz-, mittel- und langfristigen Elementen skizzieren, die diese langfristige Vision im Blick behält:

 

Erstens:

Am unmittelbarsten und dringendsten notwendig, und ohne Gesichtsverlust für beide Seiten erreichbar, sind Maßnahmen zur Reduzierung der Gefahr unbeabsichtigter militärischer Eskalationsschritte: Selbst wenn wir zu dem Schluss kommen sollten, dass das gemeinsame europäische Haus im Moment nicht realisierbar ist, verlangt schon der gesunde Menschenverstand nach de-eskalatorischen Maßnahmen und pragmatischer Kooperation. Es ist völlig unverantwortlich, dass wir –  selbst noch nach dem MH 17-Abschuss – - mehrere Male nur haarscharf an militärischen Zwischenfällen vorbeigeschrammt sind.

NATO und Russland sollten sich, das ist Punkt 1, dringend auf neue Regeln gegenseitiger militärischer Zurückhaltung und Transparenz einigen – und diese dann auch einhalten. Wenn Moskau und Washington imstande sind, sich auf solche Regeln im syrischen Luftraum zu verständigen, dann kann es doch wohl nicht zu viel verlangt sein, frühere Vereinbarungen für den euro-atlantischen Raum zu bekräftigen oder sich auf neue Regeln zu einigen. Es gibt für die Sicherheit in Europa nichts, was dringender wäre.

Dazu gehört natürlich und notwendigerweise auch die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rats. Ich habe die Logik der Bündnisentscheidung nie verstanden, und kritisiere sie hiermit ausdrücklich noch einmal: wie kann man nur ein als konstitutives Element europäischer Krisenprävention geschaffenes Instrument genau dann auf Eis legen, wenn die Krise ausbricht. Der NATO-Russland Rat war nie als Schönwettergremium gedacht, dazu braucht man ihn nicht. Man braucht ihn, wenn überhaupt, in der Krise. Nur da kann er sich bewähren. Er sollte nicht nur regelmäßig tagen, sondern auch immer wieder auf hoher politischer Ebene zusammentreten. Zumindest sollte das Bündnis dies Moskau anbieten. Wir wissen alle: it takes two to tango.

 

Zweitens:

Ob sich unsere Beziehungen mittelfristig wieder verbessern können, wird entscheidend von einer Überwindung der Ukrainekrise abhängen. Sollte es das Ziel Moskaus sein, die Ukraine dauerhaft instabil zu halten, werden die europäisch-russischen Beziehungen weiter belastet bleiben. Wenn die Parameter von Minsk aber in den kommenden Wochen und Monaten zu einer Lösung führen, mit der alle leben können, - und es gibt ja positive Entwicklungen -, dann werden sich viele Kooperationsperspektiven wieder öffnen. Der Vollzug von Minsk kann so zum Beginn, und nicht zum Ende einer Phase werden, in die eine Friedenslösung für die Ukraine einschließlich Krim  eingebettet werden kann. Dazu wäre es sinnvoll, das sogenannte Normandie-Format mit den Signatarstaaten des Budapester Memorandum zusammenzuführen: wir hätten dann eine über die aktuelle Ukrainekrise hinausweisende Kontaktgruppe, neben der Ukraine mit Russland, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA als Kernmitgliedern. Das war übrigens schon im Bosnienkrieg vor 20 Jahren ein Erfolgsrezept.

Eine Alternative zu dieser Formel könnte die in den Iran-Nuklearverhandlungen bewährte  EU3 -Plus - 3 Kontaktgruppe sein: aber leider hat London sich bisher einem weitergehenden Einsatz dieser Gruppe entgegengestellt.

In jedem Fall könnte eine solche größere Kontaktgruppe den Ausfall des G8-Formats elegant kompensieren, das ja leider zur Zeit nicht zur Verfügung steht.

 

Drittens:

Die NATO hat angesichts der russischen Entscheidungen, in der Ukraine unter Verletzung des Völkerrechts und unter Einsatz militärischer Mittel eigene Interessen durchzusetzen, sorgfältig überlegte Maßnahmen zur Absicherung des Bündnisgebiets und zur Rückversicherung der östlichen Bündnispartner getroffen – übrigens ohne Verletzung der NATO-Russland Grundakte, worauf insbesondere die Bundesregierung zurecht geachtet hat.

Damit wird nämlich signalisiert, dass der Westen prinzipiell daran interessiert bleibt, den mit Russland erreichten Acquis nicht infrage zu stellen. Das gilt auch für den gesamten Bereich der Sanktionspolitik, die zwischen EU und USA intensiv abgestimmt wurde.

Wir sollten deshalb immer wieder betonen, dass unsere Strategie nicht etwa eine gegen Russland gerichtete Bestrafungsstrategie ist. Diese wäre ohnehin zum Scheitern verurteilt. Sondern dass unsere Strategie eine Doppelstrategie ist, eine Variante der vor Jahrzehnten aus dem Harmel-Bericht erwachsenen Doppelstrategie: einerseits die robuste Verteidigung des Bündnisgebiets und des Völkerrechts bzw. des Helsinki-Acquis. Andererseits aber das Offenhalten der Tür: wann immer Moskau entscheiden sollte, dass eine stärkere Wiederzuwendung nach Westen erfolgversprechender sein wird als der Versuch, sich auf eine Achse mit Peking zu stützen, wird unsere Tür dafür offen sein.

Gerade hier könnte unsere Wirtschaft  eine zentrale Brückenfunktion einnehmen, nachdem sie – zum Teil vielleicht mit Zähneknirschen – den Primat der Politik in der Krise respektiert und die Politik auf diese Weise mitgetragen hat. Der Ostausschuss wird wie kaum ein anderes Gremium bereit und in der Lage sein, die vielfältigen Kontakte nach Russland, aber auch in die Ukraine und zu anderen Partnern in der Region, zur Wiederbelebung der Gesamtbeziehungen einzusetzen, wenn und sobald die politischen Rahmenbedingungen dafür vorliegen.

Ähnliches gilt für die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich trotz mannigfaltiger Schwierigkeiten so intensiv um unsere Beziehungen bemuehen!

Wir können dieses Angebot nicht oft genug wiederholen. Auch hier gilt freilich: it takes two to tango.

 

Viertens:

Meine Damen und Herren,

Vor über vierzig Jahren lud die finnische Regierung zu einer Konferenz ein, um über die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur zu sprechen. Notabene: unter Bedingungen des Kalten Kriegs. Das Ergebnis war, viele Monate später, die Schlussakte von Helsinki.

Wir brauchen heute einen neuen, robusten diplomatischen Prozess, um die aktuelle Sicherheitskrise zu beenden. Ein solcher Prozess könnte scheitern. Aber wir müssen herausfinden, ob wir – ob wir alle gemeinsam – in der Lage sind, die Grundprinzipien europäischer Sicherheit, die Dokumente von Helsinki 1975 und Paris 1990, zu bekräftigen und gegebenenfalls zu ergänzen.

Dabei kann es natürlich nicht um eine Aufweichung dieser Prinzipien gehen. Prinzipien der staatlichen Souveränität, des Gewaltverzichts, der Unverletzlichkeit von Grenzen sind nicht verhandelbar. Aber einige strategische Herausforderungen von heute waren damals noch nicht am Horizont sichtbar: man denke an Cyber, an Terrorismus, an die Konvulsionen und Kriege im Nahen und Mittleren Osten, von Afghanistan bis Syrien. Die Einbeziehung solcher neuen Themen in die gesamteuropäische Sicherheitsagenda könnte gemeinsame künftige Schritte vielleicht erleichtern. Von den aktuellen Unstimmigkeiten mit Russland in der Syrienpolitik sollten wir uns jedenfalls nicht abschrecken lassen. Ganz im Gegenteil: mittel-und langfristig werden gerade auch hier gemeinsame Interessen - insbesondere die Bekämpfung des  dschihadistischen Terrors von IS/ISIL - überwiegen. Deshalb first things first: die taktische Frage der  Zukunft von Assad darf nicht alle strategischen Überlegungen blockieren!

Deutschland übernimmt ab dem 1. Januar 2016 den Vorsitz in der OSZE. Der von mir hier vorgeschlagene neue diplomatische Prozess sollte von Berlin initiiert werden, aehnlich wie von Finnland vor 40 Jahren. Unterstützt werden sollte diese Einladung von der OSZE-Troika, und hoffentlich auch von Russland. Die oben vorgeschlagene erweiterte Kontaktgruppe könnte den Prozess tragen und steuern. Weil die Krise so ernst ist, sollte dieser Prozess von höchster Ebene, von den Staats- und Regierungschefs, unterstützt und begleitet werden. Idealerweise stünde dann am Ende des Prozesses ein Gipfel, auf dem die Prinzipien europäischer Sicherheit gemeinsam affirmiert werden. Eine Art zweites Helsinki – ein halbes Jahrhundert nach der Schlussakte. Wäre Russland bereit, an diesem Projekt mitzuwirken?

 

Fünftens:

Meine Damen und Herren, Russland und Deutschland werden in diesem Prozess, wenn er denn zustande kommt, eine Schlüsselrolle zu spielen haben. Wegen der geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, wegen der großen Tradition der Ostpolitik, und wegen des besonderen deutschen Engagements in der aktuellen Ukrainediplomatie. Und weil die deutsch-russischen Beziehungen trotz aktueller Rückschläge tiefer sind als andere bilaterale Beziehungen zu Russland. Niemand hat ein größeres Interesse an einem stabilen, prosperierenden Russland als wir Deutschen.

Dabei müssen wir aber auch Generationen mitnehmen, für die weder der Zweite Weltkrieg noch die Berliner Mauer Teil eigener Kenntnis und Erinnerung sind. Alle, denen eine gemeinsame deutsch-russische bzw. europäisch-russische Zukunft am Herzen liegt, sollten deshalb massiv in die jüngeren Generationen investieren. Tun wir genug, um gerade jetzt den Austausch zwischen jungen Russen und Deutschen zu fördern? Was ist mit Visumsfreiheit, jetzt für die Ukraine, und dann auch für Russland? Gibt es genug Kooperation zwischen unseren Universitäten? Und last but not least: was kann getan werden, um die giftige anti-westliche Propaganda in Russland durch eine zukunftsgerichtete und auf Nachbarschaft und Partnerschaft fokussierte Medienarbeit zu ersetzen, oder zumindest zu ergänzen? Können wir dazu auf unserer Seite Beiträge leisten?

 

Sechstens:

Meine Damen und Herren,

Gerade die letzten Punkte zeigen: hier kommen auf den Petersburger Dialog große neue Aufgaben zu. Wer sonst soll sich um diese Punkte pro-aktiv kümmern? Damit ich nicht missverstanden werde: ich spreche nicht von Aufgaben der Beschwichtigung oder des Gesundbetens einer zur Zeit schwer belasteten Beziehung. Sondern von Aufgaben strategischer Zukunftsorientierung.

Man soll sich eigentlich nicht selbst zitieren, aber erlauben Sie mir eine Ausnahme. 1999, damals war ich Staatssekretär des AA, sagte ich bei einer dem Thema Russland gewidmeten Tagung in Tutzing: „Russlands Größe bemisst sich nicht an der Zahl seiner Nuklearsprengköpfe oder seiner Soldaten. Größe resultiert im 21. Jahrhundert viel mehr aus Wirtschaftskraft, Humankapital, einer dynamischen Gesellschaftsordnung, einem international attraktiven Bildungssystem. Großmacht sein kann nicht gleichbedeutend sein mit einem Freibrief für mangelnde Rücksichtnahme auf Kleinere. Größe bemisst sich also heute nicht so sehr an Macht, sondern an der Kraft zu gestalten: Es ist wichtiger zu überzeugen als zu drohen, es ist wichtiger einzubinden als zu beherrschen, es ist wichtiger Partner zu gewinnen als Gegner in Schach zu halten. Das sind die Gebote des 21. Jahrhunderts.“

Und das ist auch heute – heute vielleicht sogar noch stärker als vor 16 Jahren – mein Rat an unsere russischen Freunde: Die Zukunft gehört nicht den Mächten, die Erreichtes nur bewahren oder Vergangenes wieder aufleben lassen möchten. Sie gehört den dynamischen Gesellschaften, die vor strukturellen Herausforderungen nicht zurückschrecken, sondern sie in Angriff nehmen. Die den Kräften des Wandels sich nicht entgegenstellen, sondern den Wandel aktiv gestalten.

Der neue Petersburger Dialog, dieser heutige und morgige Neustart, bietet einen einzigartigen Anknüpfungspunkt, um die enormen weltpolitischen Wandlungsprozesse und großen Instabilitätsrisiken langfristig wieder gemeinsam zu beraten und gemeinsam anzupacken. Denn eine friedliche Zukunft werden wir beide, Russen wie Deutsche, nur gemeinsam haben. Auf diese friedliche und gemeinsame Zukunft würde ich gerne mit Ihnen mein Glas erheben!

 

Botschafter Ischinger war Staatssekretär des AA und ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Er lehrt an der Hertie School of Governance in Berlin.

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