Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Erich Rathfelder: "Schnittpunkt Sarajevo"

Bosnien und Herzegowina zehn Jahre nach Dayton: Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Juden bauen einen gemeinsamen Staat. Mit einem Nachwort von Marieluise Beck.

›Schnittpunkt Sarajevo‹ schaut mit den Augen eines überaus kenntnisreichen Journalisten fast liebevoll auf das kleine Land Bosnien und Herzegowina, diese Republik des zerfallenden Jugoslawiens, die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Schauplatz eines Krieges wurde, den so in Europa kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Vertreibung, Vernichtung und sogar Konzentrationslager im Europa des ausgehenden Jahrhunderts, das hatten wir uns alle nicht vorstellen können, die das Inferno des zweiten Weltkrieges und Auschwitz als das Ende aller möglichen Gewalt in Europa gesehen hatten.

Und so brauchte Europa, brauchte die UNO, brauchte auch die europäische Linke lange, bis sie endlich begriff, dass mitten in Europa ein kleines Volk vernichtet wurde, europäische Muslime zumal, die sich gegen die imperialen Großmachtinteressen eines serbischen Regimes wehrten, das geradewegs aus der alten kommunistischen Nomenklatura hervorgegangen war und sich zu aggressiven Nationalisten gewendet hatte.

Und wo Europa viel zu lange nicht verstand, welche Tragödie sich im Sarajevo der Winterolympiade 1984 abspielte, konnten auch die Bosniaken kaum erfassen, weshalb in ihrem Land, in dem nach Religion oder »Ethnie« nie gefragt worden war, über Nacht eine barbarische Gewalt tobte.

Ein schwaches und uneiniges Europa ließ den Krieg so lange toben, bis das Land durch Vertreibung und Mord faktisch geteilt war. Ein Lord Owen hatte mit dem Vorschlag der Kantonisierung die Idee des »ethnic engeneering« auf dem diplomatischen Parkett hoffähig gemacht, mit Banditen wie Mate Boban in Grude wurde verhandelt, der Klein- oder besser Großkriminelle Fikret Abdic handelte mit allen Seiten, Waffen für die serbischen Freischärler kamen aus dem Irak, während den unbewaffneten Bosniaken mit einem Waffenembargo sogar das Recht auf Selbstverteidigung verwehrt wurde.

Es musste erst zu der Selektion und dem Mord der männlichen Flüchtlinge und Bewohner der UN-Schutzzone Srebrenica kommen, die General Mladic aus den Händen der UNO in Potocari faktisch übergeben wurden, bis endlich dem Grauen ein Ende gemacht wurde. Französische Flugzeuge hatten am Morgen des 11. Juli Srebrenica bereits erreicht. Sie kehrten wieder um.

Der selbsternannte Präsident Karadzic läuft noch frei herum, so auch der Schlächter Mladic. Milosevic kam dem Urteilsspruch des Haager Tribunals durch seinen Tod zuvor. Aber das ist fast unerheblich: die historischen Fakten sind unwiderlegbar, die Tatsachen klar; das serbische Volk wird gut daran tun, sich der historischen Schuld dieses Krieges zu stellen.

Viele äußerliche Wunden sind verheilt. Obwohl der Vertrag von Dayton den Wiederaufbau des Landes unendlich schwer gemacht hat, sind Häuser wieder aufgebaut, Brücken neu geschlagen, die Wirtschaft beginnt sich zu beleben.

Ganz langsam kommt es zu Rücksiedlungen, ethnisch gereinigte Kommunen öffnen sich hier und dort den Vertriebenen – nicht immer freiwillig – aber manches wächst vorsichtig wieder zusammen.

Und dennoch: Ein Drittel der nach Deutschland geflohenen Bosnier wanderte nicht zurück auf den Balkan sondern nach Kanada, in die USA, nach Australien und Neuseeland. Das bedeutet Abschied von der Heimat, vermutlich für immer, das bedeutet oft lebenslanges Heimweh für die erste Generation. Die Traumata liegen im Verborgenen – wie viele junge Männer haben Unfaßbares in den Wäldern gesehen, in denen der Krieg sich abspielte, wie viele Frauen wurden ihrer Unversehrtheit beraubt, die sich nicht mehr zurückholen lässt. Mütter haben ihre Söhne verloren, Eltern ihre Kinder.

Der Autor dieses Buches hat mit aller Entschiedenheit zu einem sehr frühen Zeitpunkt für ein Eingreifen des Westens zum Schutze der Menschen in Bosnien gestritten. Bis es dazu kam, war schon unendlich viel Leid geschehen.

Und doch gibt es auch den Blick nach vorn. Vielleicht gehört es zum Wesen des Menschen, trotz unermesslichen Leides wieder aufzustehen und neu anzufangen. Dabei braucht Bosnien nicht nur unsere Empathie.

Bosnien ist ein Teil Europas – dessen sollte die Europäische Union sich bewusst sein und ihre Türen öffnen für ein Volk, das auf unseren Schutz viel zu lange hat warten müssen.