Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Odessa – Reise in eine bedrohte Stadt

 

Es ist ein unsichtbarer Krieg. Er wird geführt mit Sonderoperationen und Desinformationskampagnen.

Soja Kasanschi, Vize-Gouverneurin der Region Odessa

 

 

 

Mai 2014

Odessa war vor der Shoa die jüdische Stadt am Schwarzen Meer. Heute ist die jüdische Gemeinde in der Millionenstadt auf 35.000 Menschen geschrumpft und die große Synagoge dient nicht mehr als Gotteshaus, sondern beherbergt das Staatsarchiv.

Auf dieser Reise begleitet mich meine russische Mitarbeiterin Mascha Sannikova-Franck. Unser erster Weg führt uns in ein kleines "Zimmermuseum". Hier wird das wenige gezeigt, was die Pogrome des 19. Jahrhunderts und das Wüten von SS, Wehrmacht und den verbündeten rumänischen Schergen überlebt hat: ein Grammophon aus besseren Zeiten, eine Spieluhr, Fotos eines eleganten Kaffeehauses, Schulzeugnisse in russischer und jiddischer Sprache. Oft sind es nur Bruchstücke, manches Mal noch ein fotografischer Familienstammbaum mit Untertiteln wie diese: "Deportiert nach Rumänien und dort elendiglich verhungert." - "Ermordet 1941 in Babij Jar." - "Gefallen als Soldat der sowjetischen Armee."

Hier gibt es keine von Historikern choreographierte Erinnerung. Und dann - inmitten all der anrührenden, so zufällig zusammengetragenen Dinge - eine Karikatur aus dem Jahre 2004, die uns in das Heute hineinkatapultiert.

Die Botschaft ist auch uns im Westen nicht fremd: Zuerst rollt der Dollar der amerikanischen Kapitalisten, hinter ihm der "gierige Jude" und mit der orangenen Revolution (dem Weg in den Westen) Sodom und Gomorrha als Zeichen westlicher Dekadenz.

Wir besuchen das anrührend liebevoll gestaltete Kinderzentrum in einer Hinterhofwohnung, anschließend das Gemeindezentrum und die Synagoge. Zunächst will man nicht offen sprechen. Nicht über Politik – wer weiß, wer die nächsten Herren sein werden.

Und dann blitzt er doch durch: der Zorn darüber, dass der Frieden, den man in den letzten Jahren gefunden hat, und die Sehnsucht nach Freiheit schon wieder bedroht sind.

Noch am selben Abend treffen wir eine junge Anwältin und ihren Kollegen. Sie schildern uns den Tag der Tragödie, den 2. Mai, der die Gewalt in die Stadt getragen hat. Schon seit Wochen hatten prorussische Aktivisten in Zelten campiert, den Anschluss an Russland gefordert und öffentlich die ukrainische Fahne verbrannt. Aber niemand hatte sie angerührt. Woher kam nun diese plötzliche Explosion der Gewalt? Wir werden noch viele Schilderungen hören in den kommenden Tagen. Eines ist allen gemeinsam: Unsere Gesprächspartner können nicht glauben, dass es ihre Gewalt ist - man habe doch friedlich zusammengelebt. Und sie haben die Absenz jeglicher polizeilich ordnender Macht erlebt: Während die Hooligans aufeinander losgingen, stand die Miliz rauchend beiseite und schaute weg.

Das, so scheint es, kennzeichnet das von Korruption geplagte Land in allen Orten: Die Miliz, sprich die Polizei, hat sich im Wegelagerdasein gut eingerichtet. Sie dient nur sich selbst oder dem, der am besten zahlt. Inzwischen ist die Ukraine ein Land fast ohne Polizei. Und das in Zeiten zunehmender Spannungen und Gewalt.

Die junge Vizegouverneurin Soja Kasanschi, die wir am nächsten Tag treffen werden, wird uns eindringlich bitten zu helfen, dass unabhängige Dritte - wie die OSZE oder der Europarat - schnell mit der Aufklärung beginnen. Der Politik traue hier niemand mehr, wird sie uns sagen. Sie ist eine geachtete junge Journalistin, die nun qua Ernennung aus Kiew in die Politik hineingespült worden ist. Sie stellt sich der ihr auferlegten Aufgabe, um die Stadt vor weiterer innerer wie äußerer Zerstörung zu retten. Sie ist die erste, die ohne Leibwächter erscheint; keine Zeit zu essen oder zu trinken. Sie ist beunruhigt: "Wir reden, reden, reden – mit allen. Wir wollen einen runden Tisch. Und hoffentlich läuft uns die Zeit nicht davon, denn sie sind schon in der Stadt, die für einen Anschluss an Russland organisierten Kämpfer. Wir wissen nur nicht wo und wer."

Sie seien schon im Krieg, wird sie sagen. Doch dies sei kein Krieg, den man auf den ersten Blick erkennt, mit sichtbaren Fronten. Dies sei ein Krieg der Sonderoperationen und der Desinformationskampagnen.

Ja, die Lage ist verfahren. Doch sie wird mit System verfahren gemacht. Die Intention des Kremls ist, das Land von außen zu zerlegen. Das ist die eigentliche Destabilisierung.

Wir treffen den deutschen Pfarrer Andreas Hamburg und er führt uns durch das sonnendurchflutete lutherische Gotteshaus, das - wie bei Pfarrer Ralf Haska der evangelischen Kirche in Kiew - zum Zufluchtsort für viele Menschen in Odessa  geworden ist. Er braucht Unterstützung. Die Gemeinde hat eine hotline eingerichtet, aber die Angst und der Schock sitzen so tief, dass sie mit der Begleitung der Menschen überfordert ist. Die Menschen suchen Orientierung und Informationen im Internet, kleben an den Rechnern und saugen jede neue Nachricht und jedes Gerücht auf. Pfarrer Hamburg wird an dem runden Tisch in der Stadt teilnehmen. Wir versprechen, zu dem Balkan Mediationsinstitut von Christian Schwarz-Schilling Kontakt aufzunehmen, mit dem wir seit vielen Jahren arbeiten, und die Verbindung nach Odessa herzustellen.

Nachmittags sind wir in ein start-up "Konsortium" eingeladen. Viele junge Menschen in einer Großraumetage - das könnte auch ein Existenzgründungscenter in Berlin-Kreuzberg sein. Wir sprechen mit dieser zehnköpfigen Gruppe von Intellektuellen, Kulturschaffenden und Managern mehr über Deutschland als über die Ukraine. Sie können nicht verstehen, dass sich Deutschland so schwer tut, sich an ihre Seite zu stellen, wo sie doch nur eine offene Zukunft und gutes Regieren wollen, die Befreiung von den korrupten Eliten und das Ende der Willkür. Sie verstehen nicht, weshalb es so wenig Empathie im Ausland gibt, wo doch ihr Land genug gelitten hat, sowohl unter dem Terror der Wehrmacht als auch unter dem Terror von Stalin. Und wenn ich von der großen Schuld Deutschlands gegenüber dem russischen Volk spreche, so weisen sie mich darauf hin, dass es die ukrainischen Soldaten waren, die im "großen vaterländischen Krieg" die größten Opfer brachten.

Dass deutsche Politiker aus Berlin nach Moskau reisen, ohne auch nur einen Fuß auf ukrainischen Boden zu setzen, um dort über ihr Schicksal zu verhandeln, das verschlägt ihnen die Sprache.

Unser letzter Besuch gilt Altbürgermeister Eduard Gurwitz von UDAR (Klitschkopartei). Er ist stolz darauf, dass er nie in der kommunistischen Partei war und als jüdischer Geschäftsmann seine Freiheit bewahrt hat. In seinem Büro hängt ein gezeichnetes Portrait des russischen Menschenrechtlers Andrei Sacharow. Er hatte es damals selbst in Auftrag gegeben.

Er ist bedächtig, unaufgeregt - so als halte die Welt nichts mehr für ihn bereit, was er für unmöglich halte. Vor Jahren wurde er um seinen Wahlsieg mit 77.000 Stimmen durch die Timoshenko-Partei betrogen. Nun hält er sich bereit, noch einmal Verantwortung zu übernehmen, wenn - ja wenn - es am kommenden Sonntag in Odessa überhaupt noch Wahlen geben wird.

Sowohl die UN als auch die OSZE bestätigen inzwischen, was wir schon lange wissen: Mit den erstaunlich gut organisierten und schwer bewaffneten Gegnern der Regierung in Kiew ziehen Terror, Folter und Verschleppung in die Städte ein.

Gurwitz wirkt ein wenig müde aber gleichzeitig gefasst, so als wisse er als leidgeprüfter Jude aus Odessa, dass man dem Schicksal nicht entrinnen kann, wenn es Böses bereithält. 

Ein wenig beklommen verlassen Mascha und ich die Stadt. Die Lokale sind leer. Die Taxis werden nicht gebraucht. Die Touristen bleiben aus. Wird es im Sommer noch ein ukrainisches Odessa geben? Niemand weiß es.

Für den kommenden Wahlsonntag werde ich für den Europarat als Wahlbeobachterin in der Ukraine unterwegs sein. Ich habe mich für Odessa gemeldet. Ich hoffe, dass ich all diese wunderbaren Menschen wohlbehalten wiedersehen kann.

 

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