Gemeinsam mit dem südost Europa Kultur e.V. veranstaltete die Heinrich Böll Stiftung am 17. November 2011 eine Podiumsdiskussion zu sexualisierter Gewalt in Kriegsgebieten. Schätzungen gehen von ca. 50.000 Opfer allein im Bosnienkrieg aus. Bislang konnte nur ein Dutzend der Täter für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Im Folgenden finden Sie Zeugnisse von Frauen, die im Bosnienkrieg schreckliches Leid erleben mussten. Der Verein südost Europa Kultur hat diese Texte aus seiner therapeutischen Arbeit mit bosnischen Frauen zusammengetragen und zu Beginn der Veranstaltung in der Heinrich Böll Stiftung verlesen lassen. Mit freundlicher Genehmigung des Vereins veröffentlichen wir hier diese Texte:
Sanela lebt seit 1995 in Berlin. Sie wurde in Berlin eine gute Schülerin in einer Realschule. Als aber im Sommer 1997 ihre Mutter und der minderjährige Bruder von den Polizeibeamten um fünf Uhr morgens aus der Wohnung abgeholt, inhaftiert und dann nach Bosnien und Herzegowina abgeschoben, wohin der Vater schon freiwillig zurückgekehrt war, traten bei ihr im ganzen Körper Schmerzen auf, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Eine Lehrerin brachte sie wegen ihrer unerklärlichen Krankheit zur Psychiaterin im südost Europa Kultur e.V.. Bei der schmerzlichen und langwierigen Therapie erzählte folgendes:
Es begann mit dem Schmerz in der Schulter, verursacht durch den Großvater, der sie eines Tages im Frühjahr 1992 plötzlich an der Schulter packte und vom Fenster zu Boden riss. Warum wollte er nicht, dass sie einem Mann zuwinkt, der auf dem sanften, von blühenden Apfelbäumen übersäten Hügel auf der anderen Seite der seicht fließenden Drina stand? Als die Fensterscheiben zersprangen, fiel ihr ein, dass der Mann eine Waffe trug. Einige Tage später spielte sie doch wieder am Wasser. Als sie nach Hause kam, waren alle weg, niemand da: die Eltern, der Großvater, die Nachbarn... Den Weg versperrten ihr acht große, starke Männer. Alle in bunten Uniformen, bewaffnet. Sie nahmen sie mit, brachen ein Haus nach dem andere auf und suchten Geld und Gold. Die Beute war mager. In einem Haus hielten zwei Männer sie fest, die anderen rissen ihr die Kleider vom Körper, warfen sie auf ein Bett... Nach den Schlägen schrie sie nicht mehr.
Sie war damals dreizehn Jahre alt war, zart und dünn. Tagelang konnte sie weder sprachen noch aufstehen. Als sie dann das erste Mal an den Fluss ging, sah sie aufgeschwemmte menschliche Körper auf dem Wasser treiben. Sanela kann das Wasser in einem See oder einem Fluss nicht berühren, die Toten aus dem Wasser greifen nach ihr, um sie nach unten zu ziehen.
Eines Tages konnte niemand mehr in den Wald fliehen. Die Uniformierten nahmen alle Männer mit und sperrten sie ein. Tag und Nacht hörte man Schreie von dort. Die Frauen konnten den Gefangenen manchmal an den Zaun etwas Essen bringen. Sie sahen das Blut, Tote... Sanela ging mit und sah ihren geliebter Onkel - ohne seine großen Ohren, er hatte sie aufessen müssen. Sanela isst kein Fleisch mehr.
Sanela hat den Rat der Therapeutin befolgt und den großen, schweren Bauernschrank des Großvaters geöffnet. Es wurde ihr zwar berichtet, dass der Schrank und das Haus abgebrannt sind. Da sie es aber nicht gesehen hat, sind sie in ihrer Erinnerung heil geblieben. In den Schrank sperrt sie die Schrecken ein. Sie lebt immer noch in Berlin, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Amra wurde nachts von den bewaffneten Männern aus ihrer Wohnung in Brčko
in einen LKW gezwungen und in eine Halle des Sägewerks gebracht. Ihre 12-jährige Nichte nahmen sie auch mit und sperrten sie zusammen mit weiteren sechzehn Frauen ein. Einige Frauen stöhnten vor Schmerzen, sie lagen auf dem Boden und überlegten mit Amra, wie sie das Mädchen schützen könnten. Sie bauten ihm aus den herumliegenden Brettern ein Versteck. Und das Kind wurde in den nächsten sechs Monaten nie entdeckt. Aus ihrem Versteck hörte es die fluchenden, schreienden Männer, die sich für die an der Front verlorenen Kameraden an Frauchen rächen wollten. Es roch den Alkohol der Männer und das Blut der Frauen. Und wenn sie weg waren hörte es die Frauen, die sich häufig den Tod wünschten. Einige wurden schwanger, zwei Frauen starben und lagen einige Tage auf dem Boden. Als das Rote Kreuz die Tante herausholte, hat sie in Kroatien einen Arzt aufgesucht und abgetrieben.
Amra häkelt Tischdeckchen und schweigt. Das Mädchen ist Arzthelferin geworden. Sie lacht selten und wenn sie es tut, wird sie ganz blass.
Raza hat die Belagerung und das Massaker von Srebrenica überlebt. "Wir waren in Potocari zusammengetrieben, wünschten uns Vögel zu sein und zu entkommen. Aber entkommen konnte niemand. Die schönen Mädchen und junge Frauen wurden aus der Menge herausgeholt, sie verschwanden und kamen nie wieder, wie die Männer. Einige Frauen haben die Gesichter ihrer Mädchen mit der Erde beschmiert und ihnen Kopftücher umgehängt. Dennoch wurden aus den LKW, mit denen die Frauen abtransportiert wurden, an den zahlreichen Kontrollstellen mehrere Mädchen und Frauen herunter gezehrt. Auch sie kamen nie wieder. Und alle wissen, warum diese bärtigen, bewaffneten Männer die Frauen mitgenommen hatten..."
Djula hat nicht in der Therapiegruppe, sondern – wie die meisten Frauen – erst in der Einzelltherapie über die Vergewaltigungen im Lager gesprochen, über die toten Frauen und Kinder, über die Messer, das Blut, Gerüche, die nicht vergehen...
Ihre Ehe drohte zu zerbrechen, als sie es ihrem Mann, der in einem anderen Lager eingesperrt war, erzählte. Mit der therapeutischen Unterstützung für beide konnten sie lernen, sich wieder zu umarmen, zu lächeln, zu leben...
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