Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Russland: „Nach der Wahl ist vor der Wahl“. Bericht über das Fachgespräch der Grünen Bundestagsfraktion am 7. Februar 2012

In der Zeit zwischen den Parlaments- und den Präsidentschaftswahlen in Russland hatte die grüne Bundestagsfraktion russische Fachleute aus Zivilgesellschaft und Wissenschaft zu einem Fachgespräch eingeladen. Über 120 Interessierte kamen am 7. Februar in den Deutschen Bundestag, um mit den russischen Gästen und den bündnisgrünen Abgeordneten über die Proteste in Russland, ihre Bedeutung für die kommenden Präsidentschaftswahlen und Konsequenzen für die deutsche und europäische Außenpolitik zu diskutieren.

Aufstand gegen Korruption, Willkür und Respektlosigkeit

In ihrer Einleitung schilderte Marieluise Beck, Sprecherin für Osteuropapolitik der Grünen Bundestagsfraktion, die unerwarteten Entwicklungen in Russland nach den Parlamentswahlen im Dezember 2011. Der Urnengang selbst, der durch massive Wahlmanipulationen gekennzeichnet war, verlief wenig überraschend. Unerwartet war dagegen die Reaktion der Gesellschaft. Anders als bisher zeigten sich die Bürgerinnen und Bürger Russlands nicht bereit, die Wahlfälschungen hinzunehmen. Hunderttausende gingen auf die Straße, um faire Wahlen zu fordern. Offensichtlich habe auch die Arbeit der zivilgesellschaftlichen Gruppen, die teilweise an den Rand der Gesellschaft gedrängt scheinen, Früchte getragen. Diese Gruppen blieben dennoch einem starken Druck ausgesetzt, wie zum Beispiel das Vorgehen der Behörden gegenüber der Wahlbeobachtungsorganisation „Golos“ zeige.

„Wer sind die Menschen, die in Moskau und anderen russischen Großstädten auf die Straße gehen?“ fragte Marieluise Beck die Expertenrunde. Juri Dschibladse, Leiter des Zentrums zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten in Moskau, berichtete, die meisten Demonstrierenden seien zum ersten Mal in ihrem Leben auf die Straße gegangen. Sie seien nicht in politischen Parteien oder zivilgesellschaftlichen Gruppen organisiert. Unter ihnen seien viele Studierende, Geschäftsleute und Kreative. Sie stellten den internetaffinen und europäisch orientierten Teil der russischen Gesellschaft. „Alle diese Leute vereinigt das Gefühl, dass die nächste Präsidentschaft Putins eine verlorene Zeit für sie und ihr Land sein wird. Denn für diese Menschen bedeutet sie weitere sechs oder gar zwölf Jahre Korruption, Willkür und Demütigung durch den Staat, sowie die Unmöglichkeit, sich im beruflichen Leben zu verwirklichen“, so der Menschenrechtler.   

Vertreterinnen und Vertreter neuer sozialen Bewegungen, etablierter NGOs und oppositioneller Gruppen unterstützten die Protestaktionen. Aber auch ultralinke und ultranationalistische Gruppen seien dabei. Hier stelle sich für den liberalen Teil der Protestbewegung die Frage, wie weit man mit den Ultranationalisten zusammenarbeiten kann. Bisher gelte die Vereinbarung, dass keine der politischen Kräfte während der Aktionen die eigene Agenda vorantreibt, sondern alle sich auf die für alle Protestierenden gemeinsamen Forderungen konzentrieren. Diese schließen u.a. folgende Punkte ein: die  sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen, die Annullierung der gefälschten Wahlergebnisse, die Ermittlung aller Verstöße und Manipulationen, Registrierung der oppositionellen Parteien und die Liberalisierung der Wahl- und Parteiengesetzgebung sowie vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.

Können die kommenden Wahlen fair und frei sein?

Die Reaktion der russischen Führung auf den Aufbruch analysierte Maria Lipman, Chefredakteurin der Zeitschrift „Pro et Contra“ des Moskauer Carnegie-Zentrums. Während die erste Großkundgebung am 10. Dezember hauptsächlich unter dem Motto ‚Gegen Wahlfälschungen und für faire Wahlen‘ gestanden habe, hätten die zwei folgenden Kundgebungen einen deutlichen Anti-Putin-Charakter erhalten. „Russland ohne Putin“ und „Putin geh weg“ seien die häufigsten Parolen gewesen. Putin reagiere auf die gesellschaftliche Entwicklung mit Ignoranz. Er zeige sich weiterhin als Herrscher ohne Konkurrenz und Rechenschaftspflicht. Die Protestierenden betrachte er nicht als relevante politische Kraft und biete ihnen keinen Dialog an. Die russische Führung kündige zwar mögliche Schritte hin zu einer Liberalisierung des politischen Systems an, diese würden aber nicht als Konzession gegenüber den Demonstrierenden, sondern als Akt der Gnade von Putin präsentiert.

Putin und sein Machtapparat stünden vor der Aufgabe, bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März einen Sieg im ersten Wahlgang zu erreichen. Aktuellen Meinungsumfragen zufolge wäre dies mit einem knappen Ergebnis möglich. Das große Problem bestehe aber darin, dass ein wesentlicher Teil der Bevölkerung die kommenden Wahlen bereits jetzt - vor Abstimmung und Stimmenauszählung - als illegitim ansieht. Ein Grund dafür sei die Tatsache, dass Grigorij Jawlinskij nicht  zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen wurde. Obwohl man sich dabei eines juristischen Vorwandes bediene, bezweifle niemand, dass in Wahrheit politische Motive hinter dem Ausschluss des liberalen Herausforderers stehen. Im Rennen um die russische Präsidentschaft seien damit nur die Kandidaten geblieben, die Wladimir Putin selbst gebilligt habe.

Darüber hinaus seien die Protestierenden und ihre Sympathisanten sicher, dass Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen vorprogrammiert sind. „Die Verantwortlichen für die Organisation der Wahlen auf allen Ebenen sehen ihre Aufgabe darin, die von der Führung erwarteten Wahlergebnisse sicherzustellen. Mehrmals, zuletzt nach den Parlamentswahlen am 4. Dezember, mussten Gouverneure der Regionen, in denen der Urnengang zu niedrige Ergebnisse für den Präsidenten oder die Kreml-Partei „Geeintes Russland“ erbrachte, ihre Posten verlassen. Deswegen sind die Administrationen bestrebt, bei den Wahlen nicht schlechter als die Nachbarn dazustehen. Die Angst „Was geschieht, wenn Putin in meinem Wahlkreis, in meiner Stadt oder in meiner Region zu wenige Stimmen bekommt?“, erzeugt Druck auf die Verantwortlichen aller Ebenen und zwingt sie faktisch zu Wahlmanipulationen, obwohl Putin sie für einen Sieg derzeit nicht braucht“, erklärte Lipman.

Russland in einem Modernisierungsstau

Über die wirtschaftlichen Hintergründe der jüngsten Entwicklungen sprach Alexander Ausan, Leiter des Instituts „Gesellschaftsvertrag“ in Moskau. Lange Zeit habe es fundamentale Gründe dafür gegeben, dass das politische Regime in Russland unangefochten und stabil erschien. Seit Anfang 2000 seien Wladimir Putin und sein Team zu einer Art inoffiziellen Übereinkunft mit der Bevölkerung Russlands gekommen. Dessen Formel lautete: Die Regierung sorgt für eine gewisse wirtschaftliche Stabilität, dafür mischen sich die Bürgerinnen und Bürger nicht in die Politik ein. Die Beschneidung demokratischer Rechte - wie 2004 mit der Abschaffung der direkten Gouverneurswahlen geschehen – machte zwar viele Menschen unzufrieden, aber die Reallöhne seien damals um 11-12% pro Jahr gestiegen. Die Finanzkrise habe das Wirtschaftswachstum auf überschaubare Zeit gestoppt. Die Regierung Putins habe mit einem umfassenden Anti-Krisen-Paket zur Ankurbelung der Binnennachfrage reagiert. Dieses habe eine wesentliche Erhöhung der Renten und der Löhne für die Angestellten im öffentlichen Dienst vorgesehen. Dadurch sei in Russland ein unsicheres soziales Sicherungssystem entstanden, denn die russische Wirtschaft sei nicht in der Lage, diese finanziellen Lasten dauerhaft zu tragen. Versuche, die Staatskassen durch höhere Steuerbelastung der Unternehmen zu füllen, treibe sie entweder in die Illegalität oder ins Ausland. Soziologische Umfragen aus den Jahren 2010-2011 zeigten, dass die Menschen, die Unterstützung vom Staat erhielten, nicht an ihre Stabilität glaubten. Die Beteuerungen der russischen Führung, dass alles gut würde, genügten ihnen nicht mehr. Sie bräuchten institutionelle Garantien.

Auf die sozioökonomischen Gründe für die jüngsten Entwicklungen ging der Fraktionsvorsitzende Jürgen Trittin in seinem Grußwort an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Fachgesprächs ein: Russland habe ein ökonomisches wie politisches Modernisierungsproblem. Für sein Bruttosozialprodukt sei das Land nach wie vor überwiegend auf Rohstoff- und Energieexport angewiesen. Die Gewinne aus diesen Exporten seien in keiner Weise hinreichend in die Diversifizierung der russischen Ökonomie und den nachhaltigen Aufbau der russischen Gesellschaft investiert worden. Der oligarchische Staatskapitalismus basiere eben gerade auf dem Monopol der Rohstoffindustrien. Und so bedingten politische und ökonomische Stagnation einander. Dies wiederum sei der Grund dafür, dass die Ankündigungen des Duos Medwedew/Putin, Russland modernisieren zu wollen und für eine Herrschaft des Rechts zu sorgen, erfolglos blieben.

„Die Zehntausenden, die nach wie vor auf den Straßen Russlands die Abwahl von Putin am 4. März herbeiführen wollen, verdienen unseren Respekt. Sie sind mutig und wir stehen an ihrer Seite. Es keimt Hoffnung auf, dass es mittel- oder langfristig gesehen doch zu einer Modernisierung in Russland kommen wird – politisch wie ökonomisch. Aber nicht von oben gesteuert, sondern von unten“, so der Fraktionsvorsitzende.

Verstärkter Dialog mit der Zivilgesellschaft und eine Modernisierungsoffensive

Nach Meinung von Dr. Frithjof Schmidt, dem stellvertretenden Vorsitzenden der grünen Bundestagsfraktion, bestätigen die jüngsten Entwicklungen in Russland, dass eine Außenpolitik, die auf Stabilität um den Preis der Unterstützung autoritärer Regime setzt, gescheitert ist. Dabei unterstrich Schmidt, dass die Entwicklung in Russland grundsätzlich in den Händen der russischen Demokratiebewegung liegt, Deutschland und die EU diese aber unterstützen können. In diesem Zusammenhang plädierte er für einen Dreiklang aus intensivem Dialog mit der Zivilgesellschaft, einer Offensive im Modernisierungs- und wirtschaftlichen Bereich und neuen Initiativen im Sicherheitsbereich.

Es sei eine politische Aufgabe, sich mit den neuen Akteuren, die sich während der Proteste gezeigt hätten, auseinanderzusetzen und Partnerinnen und Partner zu identifizieren, mit denen man verstärkt zusammenarbeiten kann. „Der Austausch zwischen den Gesellschaften ist eine zentrale Frage. Dieser funktioniert über Reisen. Es muss über Visaerleichterungen und vielleicht sogar Visafreiheit nachgedacht werden, um die Zusammenarbeit zwischen Europa und der sich dynamisch entwickelnden Zivilgesellschaft in Russland voranzubringen“, erklärte Schmidt.   

Weiterhin könnte eine revitalisierte Modernisierungspartnerschaft zwischen der EU und Russland ein wichtiges Element der Russlandpolitik sein. Eine intensive Förderung von mittleren und kleinen Unternehmen als Teil dieser Politik würde  auch gesellschaftliche Auswirkungen haben. „Wenn es richtig ist, dass die zentralen Träger der jüngsten politischen Prozesse die neu entstandene Mittelklasse ist, mit einem bestimmten Verständnis von politischer Würde, die sich in Empörung über den Wahlbetrug manifestiert, dann heißt das, dass die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen die gesellschaftliche Basis für diese Entwicklung verbreitert". Auch ein Dialog über die Werte gehöre dazu. Russland sei freiwillig Mitglied des Europarats geworden, es seien also seine eigenen und nicht von außen oktroyierte Werte, über die man sprechen müsse. Eine Schnittstelle zwischen der Wirtschafts- und Menschenrechtspolitik würden dabei die Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit bilden. Ein Fall wie Chodorkowski sei hier ein Symbol dafür, dass es in Russland keine Rechtssicherheit gibt.

Im Bereich Sicherheitspolitik trat Frithjof Schmidt für Initiativen ein, die jeglicher Legendenbildung, dass Russland isoliert oder eingekreist werden solle, entgegenwirken. Diese Legenden seien innenpolitisch instrumentalisierbar und würden von den rechten Populisten in Russland bereits instrumentalisiert. Als konkretes Beispiel nannte er eine notwendige ernsthafte Debatte des russischen Vorschlags für eine neue europäische Sicherheitsarchitektur.