Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Der Pazifismus entlässt seine Kinder

Marieluise Beck

Der Pazifismus entlässt seine Kinder

Das Massaker von Srebrenica steht für den Wendepunkt der europäischen appeasement Politik gegenüber den serbischen und kroatischen Extremisten. Zugleich zwang die atemberaubende Kaltblütigkeit des General Mladic und seinen Tchetniks, der unter den Augen der UNO und der holländischen Schutztruppen 7000 bis 8000 Männer, Jugendliche und männliche Kinder ermordete, viele Nachgeborene des Nazideutschland zu einer Revision lang aufrecht erhaltener Gewissheiten. Das „Nie wieder Krieg“, das die Kinder der Täter aus den monströsen Verbrechen des Nazideutschlands zu ihrer Grundüberzeugung hatte werden lassen, hatte offensichtlich eines nicht bedacht: Wie stellen wir uns zu  den Opfern, die vor den bestialischen Tätern nur mit Waffengewalt geschützt werden können?

Es war nicht erst der Schrecken von Srebrenica, der diese Frage auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Schon seit dem Überfall serbischer Extremisten auf das kroatische Vukovar, der Vertreibung und Ermordung der Muslime aus Pristina, seit den Überfällen der gefürchteten Arkan-Paramilitärs in den ostbosnischen Städten und mit der täglich im Fernsehen für jeden sichtbar werdenden Aushungerung der Menschen in Sarajevo hätte es kein Wegducken mehr geben dürfen vor der bitteren Wahrheit, dass die Versorgung mit Lebensmitteln keine Antwort auf die Frage war, wie Menschenleben zu retten sind vor denen, die keine zivilen Gesetze, keine Menschenrechte, keine Moral und keine Ethik mehr kennen.

Die ausgemergelten Menschen mit kahl geschorenen Köpfen, die in Omarska hinter Stacheldraht zu sehen waren, enthüllten die bittere Wahrheit, dass es im Europa des ausgehenden Jahrhunderts wieder Konzentrationslager gab. Diese Bilder bewegten zwar die Öffentlichkeit, aber der Weg zu einer entschiedenen Haltung war dennoch für viele sehr weit.

Zunächst war es die lange aufrecht erhaltene Meinung, dass ein konsequentes Embargo den effektivsten und schonendsten Weg zur  Eindämmung der Gewalt bedeute. Manche heikle Frage wurde dabei ausgespart, so z.B., ob ein konsequentes Embargo, das in der Regel die Zivilbevölkerung trifft – und damit oft die Schwächsten und am wenigsten Beteiligten der Gesellschaft – tatsächlich gerecht sein kann. Und auch die Frage, mit welchem Einsatz von Mitteln ein Embargo durchzusetzen sei, wenn es Mächte gäbe, die dieses Embargo nicht einzuhalten bereit wären, wie bei Russland, dem Irak und Griechenland erkennbar der Fall.

Die Wogen schlugen hoch in den links-grün-sozialdemokratischen Milieus, wenn es um die Frage ging, wie den Aggressoren auf dem Balkan Einhalt geboten werden solle. Wobei selbst die Frage, wer Täter und Opfer war, sich vielen scheinbar kaum entscheidbar darstellte, offensichtlich u.a. auch, um dem harten Faktum auszuweichen, dass es darum ging, sich klar und ohne Einschränkungen auf die Seite der Opfer zu stellen.

Dem Architekten der Ostpolitik Egon Bahr schien es keine Alternative zum „Ausblutenlassen“ dieses Konflikts im Europa des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts zu geben. Peter Glotz bemühte die Einzigartigkeit von Auschwitz, um den mahnenden Stimmen wie etwa Marek Edelmann entgegenzutreten, der als Überlebender des Warschauer Ghettos die moralische Verpflichtung des Eingreifens postulierte.

Schier unmöglich war es, das fast Unaussprechliche auszusprechen, nämlich, dass man die Stellungen der Tchetniks auf den Bergen rund um Sarajevo würde bombardieren müssen, um die Eingesperrten in der Stadt zu befreien. Dass man die UN-Versorgungskonvois mit Waffengewalt zu den Hungernden würde durchbringen müssen, wenn sich kleine Trupps von Bewaffneten den Lastwagen entgegenstellten oder dass man, falls die internationale Staatengemeinschaft das eigene Risiko, nämlich die Opferung eigener Soldaten scheute, den Bosniaken das Recht auf Selbstverteidigung würde geben müssen und damit den Zugang zu Waffen.

Nicht selten bestimmte die Auseinandersetzung um die Frage nach der gebotenen Intervention die Erinnerung an das selbst erfahrene Leid während der Bombardierung der deutschen Städt. Und so bekam die Frage von Peter Schneider, warum die Kinder der Täter aus der Aggression ihrer Väter meinten die Conclusio der Gewaltfreiheit  ziehen zu müssen, ihre  beunruhigende Berechtigung: Waren es nicht die Polen, die sich mit Waffengewalt vor den deutschen Angreifern hatten schützen müssen , war es nicht Russland, das unter undenkbaren Opfern die deutsche Wehrmacht zurückschlug, hätten nicht die Gleise von Auschwitz bombardiert werden müssen, um vielleicht den ungarischen Juden eine kleine Chance auf ein Überleben zu geben? War nicht der Einsatz von Gegengewalt ein legitimes, mehr noch ein moralisches gebotenes Mittel, um dem Unrecht Einhalt zu gebieten?

Es war nicht erst der unvorstellbare Mord in Srebrenica, der all diese Fragen an uns stellte. Die Fragen waren früher da. Wir brauchten lange, um einen neuen Blick auf manche politische Gewissheit zu werfen, die uns durch viele Jahre des Nachkriegsdeutschlands begleitet hatte.

Es war der 30.Juni 1995, als der deutsche Bundestag über die Teilnahme an einer Intervention in dem Krieg gegen die Bosnier abstimmte. Dass war zehn Tage vor dem Fall von Srebrenica.

Ich stimmte dem Antrag der Bundesregierung unter Kohl/Genscher zu einer militärischen  Antwort auf  Mord und Vertreibung mit dem Gefühl zu, dass ihre Lehren aus der Geschichte andere sein müssten als der Pazifismus.

(Veröffentlicht in: SREBRENICA - Erinnerung für die Zukunft , Hrsg.: Heinrich-Böll-Stiftung, Seiten: 189, 1. Ausgabe, Mai, 2005, ISBN: 9958-9887-9-8)

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