Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Bitte weiterleiten: Ein offener Brief aus Odessa

Während die einen im vermeintlichen Einlenken und mäßigenden Tonfall Putins eine Entspannung des Ukraine-Konflikts erkennen wollen, sieht die Realität im Osten des Landes ganz anders aus. Über die durchlässige Grenze sickern immer mehr Kämpfer und Waffen aus Russland in die Ukraine ein. Ukrainischen Stellen zufolge geht es mindestens um 4.500 Personen. Der Spiegel berichtet über das „Batallion der Bärtigen“, Söldnern aus Tschetschenien, die inzwischen in der Ostukraine kämpfen und schwer bewaffnet sind. Der ehemalige ukrainische Innenminister spricht von fast 20.000 prorussischen Milizionären in den Gebieten um Donezk und Luhansk. Der frisch gewählte Präsident Poroschenko spricht von „Krieg“. Die Situation für die Menschen vor Ort wird immer unerträglicher: Menschenrechtsorganisationen melden die Verschleppung von zahlreichen Personen - es soll inzwischen 200 Verschwundene geben - und noch immer werden OSZE-Beobachter gefangen gehalten. Ukrainische Regierungsmitglieder erwägen inzwischen den Ausnahmezustand.

Auch im Süden des Landes bleibt die Situation angespannt. Ende Mai habe ich mich in Odessa mit Journalisten, Politikerinnen, Geistlichen, Intellektuellen und Vertretern der lebendigen Zivilgesellschaft getroffen. Was ich aus meinen Gesprächen mitgenommen habe, ist, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die aktuelle Situation als sehr kritisch empfindet. Auch mit manchen Entscheidungen der neuen Regierung in Kiew sind viele in Odessa nicht einverstanden. Aber die deutliche Mehrzahl der Menschen ist für die Einheit des Landes. Und es gibt viele, die nicht verstehen, warum es im Ausland so wenig Empathie für die Ukraine gibt, wo doch der Wunsch nach einer inneren Demokratisierung und das Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa so groß ist.

Besonders eindringlich formuliert das eine Gruppe von Vertretern aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft in Odessa in einem offenen Brief an die deutsche Öffentlichkeit: Und genau in diesem Moment fühlen wir uns leider vom mächtigen Deutschland – dem Motor und Ideengeber der Europäischen Union – im Stich gelassen. Anstatt eindeutiger Unterstützung des Landes, das zu den Idealen der Demokratie strebt, beobachten wir mit Enttäuschung und Unverständnis äußerst widersprüchliche Signale Ihrer Regierung und intellektuellen Elite.“ Den Aufruf, in dem sie ihre Sicht auf die Krise in ihrem Land formulieren, habe ich dieser Mail angefügt.

Liebe Leserinnen und Leser meiner Homepage - wir werden Sie auch weiterhin über die Entwicklungen in der Ukraine und in Russland informieren. Da mein Verteiler und meine Kontakte jedoch begrenzt sind, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn dieser Offene Brief aus Odessa weitergeleitet, verlinkt, kopiert - wie auch immer in weitere Kanäle und soziale Netzwerke gestreut würde. Dafür bitte ich Sie um Unterstützung.

Es gibt übrigens die Möglichkeit - auch ohne ein eigenes Profil bei Facebook zu haben - weitere Hintergrundinformationen sowie meine Kommentare zu lesen unter www.facebook.com/marieluise.beck

 

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Offener Brief der Intelligenzija von Odessa

 

An die deutsche Öffentlichkeit!

Wir wenden uns heute an Sie als Vertreter der Initiativgruppe des Forums der odessitischen Intelligenz. Unsere Stadt wird in diesem September 220 Jahre alt. Vom ersten Tag ihrer Existenz an war sie eine wahre europäische Stadt. Nach einem Erlass der aufgeklärten russischen Kaiserin Katharina die II., die bekanntlich im Briefwechsel mit Voltaire stand, wurde Odessa als eine Stadt des Handels, der Wissenschaft und der Kunst gegründet und von Beginn an von Europäern besiedelt. Neben Russen, Ukrainern und Juden lebten dort Franzosen, Italiener, Deutsche, Griechen, Polen und Vertreter anderer zivilisierter Nationen, und trugen gemeinsam zu ihrer Blüte bei. Spricht man über die Rolle der Deutschen in der Geschichte unserer Stadt, so trägt einer der Stadtbezirke, in dem die deutschen Siedler wohnten, nach wie vor den Namen „Lustdorf“. Eine der Straßen Odessas wird von einer prächtigen, frisch restaurierten deutschen Kirche geschmückt.

Nun zu unserem eigentlichen Anliegen. Wir, Vertreter der Kultur, der Wissenschaft und der Wirtschaft, sind geeint in dem Wunsch, in Europa und der Welt gehört zu werden. Innig teilen wir die Ideen des Kiewer Euromaidans und träumen davon, dass unser Land frei und demokratisch ist und prosperiert. Aufrichtig möchten wir uns deshalb an Sie wenden. Wie Sie wissen, haben Ende des letzten und Anfang dieses Jahres auf dem Maidan in Kiew dutzende Menschen ihr Leben und hunderte weitere ihre Gesundheit im Kampf gegen das durch und durch korrumpierte und kriminelle Regime Janukowitsch und für die Idee von Europa als eine Gemeinschaft der Gerechtigkeit und des Gesetzes gelassen. Und als wir Ukrainer, nach so vielen Opfern, unseren Wunsch geäußert haben, zur europäischen Familie zu gehören, versetzte uns Putin einen unerwarteten Schlag. Die Existenz der Ukraine als solche ist bedroht. Wir sind nur einen Schritt von einem Krieg auf dem europäischen Kontinent entfernt.

Und genau in diesem Moment fühlen wir uns leider vom mächtigen Deutschland – dem Motor und Ideengeber der Europäischen Union – im Stich gelassen. Anstatt eindeutiger Unterstützung des Landes, das mit Blut und Schmerz zu den Idealen der Demokratie strebt, beobachten wir mit Enttäuschung und Unverständnis äußerst widersprüchliche Signale Ihrer Regierung und intellektuellen Elite. Diese können oft als explizite oder implizite Unterstützung des Aggressors, des Putin-Regimes interpretiert werden.

Der putinschen Propaganda zufolge sind alle Ukrainer, die die Ideale des Euromaidan vertreten, Faschisten und Antisemiten. Aber sagen Sie, sieht unser Forum, zu dem Intellektuelle, Künstler, Musiker, Dichter und Geschäftsleute gehören, wirklich wie ein Haufen Faschisten aus? Fast die Hälfte von uns sind Juden. Wie können wir da Antisemiten sein?

Einige deutsche Intellektuelle vertreten eine scheinbar „neutrale, ausgewogene Position“, die beide Seiten des Konflikts kritisiert. Unter näherer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass diese Position bei weitem nicht neutral ist.

Besonders fragwürdig erscheint uns die Behauptung mancher Vertreter Ihrer Elite, die derzeitige Krise sei das Ergebnis einer jahrelangen politischen „Erniedrigung“ Russlands durch den Westen und einer fehlenden Bereitschaft, Russland als Teil Europas zu sehen.

Aber wenn wir den aktuellen Konflikt betrachten, so hat gerade die Ukraine mit ihrem Euromaidan, der unter zahlreichen Opfern in der Revolution für die europäischen Werte mündete, ihr aufrichtiges Streben nach Europa bewiesen. Die unverhohlene und beispiellose Aggression Russlands ist Ausdruck einer überheblichen Haltung, dem ukrainischen Volk seinen Traum, in die große europäische Familie aufgenommen zu werden, zu verwehren. Russland hat sich hingegen als ein Staat erwiesen, der seit der näheren Vergangenheit die Ablehnung europäischer Werte zum Prinzip erhoben hat. Im natürlichen Streben der Ukraine nach Europa sieht es eine Bedrohung für sein totalitäres, praktisch bereits diktatorisches Regime. Diese ideologische „Bedrohung“ ist anscheinend so mächtig und für Russland so gefährlich, dass es offensichtlich bereit ist, unser Land in seinem eigenen Blut zu ertränken und damit diese freie Entscheidung des ukrainischen Volkes zu verhindern.

Die Behauptung, der Westen habe Russland in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht geholfen, ist zumindest unfair. Zu Beginn der 1990er Jahre hat die umfangreiche finanzielle Unterstützung des Westens den Bankrott Russlands verhindert. Russland wurde in die G8 und die WTO aufgenommen und hat in all diesen Jahren eng mit der Weltbank, dem IWF und der NATO zusammengearbeitet. Mit dem Budapester Memorandum hat sich die Ukraine zur Abgabe ihres Nuklearwaffenarsenals (des drittgrößten der Welt!) verpflichtet. Als Gegenleistung erhielt sie ausschließlich die Zusicherung ihrer territorialen Integrität. Wie sich nun herausstellt, hat diese Geste des guten Willens der Ukraine keine Sicherheit, die durch die Vertragsstaaten garantiert werde sollte, gebracht. Russland hingegen hat strategisch und militärisch aufgerüstet.

Einige deutsche Politiker vertreten die Meinung, dass die Ost-Erweiterung der NATO bis zur Grenze Russlands es in die Lage trieb, sich verteidigen zu müssen. Gegen wen sollte sich Russland verteidigen? Gegen das friedliche und demokratische Europa, das Krieg als Mittel zur Konfliktlösung ausschließt?

Nach der Annexion der Krim hat Russland im Osten der Ukraine einen Krieg mittels Geheimoperationen und Sabotageaktionen angezettelt, wobei täglich Menschen ihr Leben verlieren. Unter der Parole „Anschluss an Russland“ werden die Regionen Donbass und Lugansk, in denen sieben Millionen Menschen leben, in Chaos und totale Anarchie gestürzt. Präsident Putin erklärt öffentlich, dass er es nicht für richtig halte, dass der Süden und Osten unseres Landes zur Ukraine gehören. Praktisch handelt es sich dabei aber um die Hälfte des Landes! Das schrecklichste aber ist, dass sich Präsident Putin, wie Sie wissen, vom russischen Parlament die Erlaubnis für militärische Interventionen im kompletten Staatsgebiet der Ukraine erbeten und sie unverzüglich erhalten hat.

Käme es zu einer solchen Invasion, wäre das zugleich ein Krieg gegen europäische und demokratische Werte sowie gegen die Existenz der Ukraine als ein souveräner Staat.

Es gibt zahlreiche unumstößliche Beweise dafür, dass sich in den Gebieten Donezk und Lugansk das Krim-Szenario wiederholt. Anfänglich wurden Verwaltungsgebäude von bewaffneten Personen aus Russland oder unter Führung russischer Militärs besetzt und kurz darauf überstürzte Referenden durchgeführt, deren Ziel die schleichende Einverleibung ukrainischen Staatsgebiets durch Russland ist. Der einzige Unterschied zwischen den Entwicklungen auf der Krim und denen in der Ostukraine besteht darin, dass die Ukraine im Fall der Krim eine beispiellose Zurückhaltung bewiesen hat, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Als die Ukraine sich aber damit konfrontiert sah, dass sich die Aggression im Osten des Landes fortsetzt, hat sie begonnen, sich entsprechend zu verteidigen, so, wie es JEDER ANDERE Staat der Welt auch getan hätte. Die ukrainische Armee kämpft im Osten des Landes nicht gegen die eigene russischsprachige Bevölkerung, sondern gegen bestens ausgerüstete subversive Einheiten unter der Führung russischer Geheimdienste, die die friedliche russischsprachige Bevölkerung von Donbass und Lugansk terrorisieren.

Die Einteilung der ukrainischen Gesellschaft in ein ukrainisch- und ein russischsprachiges Lager, die sich entsprechend jeweils nach Europa, respektive nach Russland orientieren würden, ist oberflächlich und falsch. Die oppositionellen Aktivisten auf dem Maidan sprachen beide Sprachen. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in den russischsprachigen südöstlichen Gebieten der Ukraine – den Regionen Odessa, Nikolajew, Cherson, Saporischschja, Charkiw und Dnepropetrowsk – ist ausdrücklich gegen eine russische Besetzung oder eine Abspaltung unseres Staatsgebiets von der Ukraine.

Das ukrainische Volk hat in junger Vergangenheit durch Hungersnot und den Einfall Nazideutschlands millionenfache Opfer erlitten. Heute wenden wir uns an Sie mit der Bitte um Hilfe. Stellen Sie die historische Gerechtigkeit wieder her! Es lässt sich nicht leugnen, dass die furchtbare Tragödie, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über uns hereingebrochen ist, von Deutschland ausging. Es wäre schön, wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts Unterstützung von dort erführen. Es steht in Ihrer Macht, Einfluss auf das Putin-Regime zu nehmen und eine weitere schreckliche Tragödie von dem ukrainischen Volk abzuwenden. Lassen Sie nicht zu, dass die Ukraine als unabhängiger Staat von der Landkarte verschwindet.

Odessa, 27. Mai 2014

Die Koordinatoren des Forums:

Alexei Botvinov, Pianist und Regisseur Alexandr Roitburd, Künstler

Jewgeni Demenok, Mäzen und Schriftsteller

Mitglieder der Initiativgruppe des Forums:

Igor Gusjew, Künstler

Alexandr Dobrojer, Soziologe und Journalist

Oksana Dowgopolowa, Philosophin, Professorin der Universität Odessa Witali Oplatschko, Geschäftsmann

Walerij Chait, Schriftsteller

Boris Chersonski, Dichter

Michail Reva, Bildhauer

(Der Text stellt eine Arbeitsübersetzung aus dem Russischen dar.)

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