Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Plenarrede zur Ukraine

Am 13. März 2014 debattierte der Bundestag binnen weniger Tage zum zweiten Mal die dramatische Lage in der Ukraine. Russland hatte mit der Besetzung der ukrainsichen Halbinsel Krim eine der schwersten Sicherheitskrisen in Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs ausgelöst. Die Abgeordneten im Bundestag diskutierten über die Regierungserklärung der Kanzlerin, die die Position der Bundesregierung in der Krim-Krise darlegte.

In Ihrer Rede forderte Marieluise Beck für die grüne Bundestagsfraktion als ersten Schritt Reisefreiheit für jungen Menschen aus Osteuropa, um die europäische Bewegung in der Ukraine zu unterstützen.

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Lesen Sie hier die Redetext nach:

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun die Kollegin Marieluise Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über die Ukraine sprechen, sprechen wir auch über die Zukunft Europas. Der große Traum von Michail Gorbatschow, das gemeinsame europäische Haus, war nie so bedroht wie heute. Selbst wenn es so sein mag, dass wir 10 oder 20 Jahre zurückgeworfen werden, und wenn das Vertrauen aktuell tief erschüttert ist: Russland muss um seiner Bürger und Bürgerinnen willen Teil dieses gemeinsamen europäischen Hauses bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Es ist die jetzige russische Führung, die auf Gegenkurs zu Europa gegangen ist. Wir alle aber wollen die Tür für Russland offen lassen. Ich glaube, das kann ich für das ganze Haus feststellen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Die Krise um die Ukraine ist zugleich ein Prüfstein für die internationale Politik. Die Ukraine ist ein Land mit ehemals der drittstärksten atomaren Bewaffnung und war freiwillig bereit, diese einseitig abzugeben. Im Gegenzug wurde ihr mit dem Budapester Memorandum die Integrität der Grenzen zugesichert, und zwar durch die USA, Großbritannien und Russland. Nun muss die Ukraine erleben, dass das Papier, auf dem dieser Vertrag steht, nichts wert ist. Dieser Vertrauensbruch wird uns in unserem Bemühen, atomar abzurüsten, weit zurückwerfen. Denn wer wird sich in Zukunft noch auf vertragliche Zusicherungen verlassen wollen?

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Niemand will eine militärische Antwort auf die Aggression Russlands. Wer aber der neuen Regierung in Kiew abverlangt, stillzuhalten und die Annexion eines Landesteiles zunächst zu erdulden, ohne zu den Waffen zu greifen, der muss dieser Regierung ernsthafte Zusicherungen machen. Es muss klar sein, dass der Kreml für dieses Vorgehen einen hohen politischen und wirtschaftlichen Preis zahlen muss, auch als Abschreckung vor einer möglichen weiteren Intervention in der Ostukraine. Die Ukrainer sagen uns: Es geht nicht nur um die Krim, es geht vielleicht sogar nicht nur um die Ostukraine, sondern es geht um Kiew im Zusammenhang mit der geplanten Eurasischen Union. Denn eine Eurasische Union wäre ohne die Ukraine nichts wert.

Der Dreistufenplan ist richtig, um dem zu begegnen. Ich möchte Ihnen, Herr Gysi, sagen: Ja, es gibt rechte Kräfte in der Ukraine, aber sie werden umso stärker werden, je aggressiver Putin vorgeht.

(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE))

Dann werden im Sinne einer Selffulfilling Prophecy die Rechten in der Ukraine auf der Straße und in der Regierung sein. Das ist das Szenario, das Realität wird, wenn das Völkerrecht nicht auch durch unser entschiedenes Handeln durchgesetzt wird.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Heike Hänsel (DIE LINKE): Ja, ja! So wie im Kosovo!)

Die Marionettenregierung auf der Krim stellt die Bevölkerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus. - Herr Präsident.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Der Kollege Beck würde sich gern mit einer Zwischenfrage oder -bemerkung in die Debatte einschalten.

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Frau Kollegin, Sie haben gerade das Problem angesprochen, das uns alle besorgt macht: die Auseinandersetzung auch mit rechten Kräften in der ukrainischen Regierung. Die Situation der Juden in der Ukraine macht uns alle besorgt. Dazu gibt es eine sehr unterschiedliche Informationslage. Könnten Sie dem Hohen Hause dazu vielleicht etwas sagen? Ich weiß, dass Sie diese Sorgen teilen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Schönen Dank. - Ich bin, nachdem die ersten Alarmrufe bei uns im Deutschen Bundestag angekommen sind, in der Ukraine mehrmals mit unterschiedlichen jüdischen Organisationen zusammengetroffen und habe mich dort informiert. Ich habe Ihnen die Informationen zusammengestellt; alle Kollegen des Hauses können diese von mir erhalten. Vor allen Dingen der Vorsitzende des Vereins Jüdischer Gemeinden und Organisationen in der Ukraine, der gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des World Jewish Congress ist, Herr Zissels - er wird übrigens nächste Woche hier in Berlin sein -, hat ganz klar dargelegt, dass hier mit einem Stereotyp, dem vermeintlichen ukrainischen Antisemitismus, gearbeitet wird, was sehr stark auf russische Propaganda zurückzuführen ist, und dass der Antisemitismus zu einem Kampfinstrument in der Desinformationskampagne, die diese Auseinandersetzung begleitet, geworden ist.

Diese jüdischen Organisationen haben dargelegt, dass es - das sollten wir in Deutschland uns wirklich genau anschauen - im Jahre 2013 in der Ukraine drei antisemitische Übergriffe mit vier verletzten Personen gegeben hat. Ich wünschte mir, wir hätten in Deutschland solche geringen Zahlen. Außerdem haben sie sehr deutlich dargelegt, dass die zwei Überfälle auf zwei Synagogenbesucher, die es in den vergangenen Wochen gegeben hat, vermutlich von Provokateuren der Berkut-Kräfte verübt wurden.

(Heike Hänsel (DIE LINKE): Ach so!)

Schauen Sie sich im Internet an - man kann darin ja dankenswerterweise alles finden -, wie die Facebook-Seiten der Berkut-Kräfte ausgesehen haben! Mit faschistischen und Nazisymbolen sind dort Julija Timoschenko, Klitschko, überhaupt der gesamte Maidan versehen worden. Ich glaube, dass wir gerade hier sehr genau hinschauen sollten, dass wir nicht dem Missbrauch des Antisemitismus in diesem Desinformationskrieg folgen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin damit gleich beim Thema: Die Marionettenregierung auf der Krim stellt mit ihren Plakaten die Bevölkerung vor die Wahl: Russland oder Faschismus? Das soll die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg hervorrufen. Aber sie steht heute nicht vor der Wahl: Hitler-Faschismus oder Sowjetunion. Heute geht es um den Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie in Europa. Der Maidan ist eine antiputinistische Bewegung. Dort waren auch Armenier und Belarussen, weil es auch um ihre Freiheit geht.

Wie sieht das Putin-Russland heute aus? Bürgerrechte werden abgebaut, Homosexuelle werden diskriminiert, die nationalistische Rechte wird immer stärker, der Rassismus gegenüber Minderheiten im Land nimmt zu, und im Netz verbreitet sich die Botschaft: Die Krim war nur der Anfang. - Putin spielt mit dem Geist des großrussischen Nationalismus, und man muss befürchten, dass er selbst Gefangener dieser Rhetorik wird.

Es erreichen uns von der Krim Hilferufe, etwa aus Synagogen. Tatsache ist aber auch, dass tatarische Häuser mit Kreuzen gezeichnet werden. 20 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens - ich weiß wirklich, wovon ich spreche - wird wieder die ethnische Karte gespielt, um territoriale Herrschaftsansprüche militärisch durchzusetzen. Dafür werden Menschen gegeneinander aufgehetzt. Ich wünsche mir, dass die Ukrainer stark genug sind, dagegenzuhalten. Dabei müssen wir sie unterstützen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eines möchte ich noch sagen: Es gibt eine junge Generation in Europa, die sich vernetzt, die sich kulturell nah ist, die Demokratie, Rechtsstaat und offene Gesellschaften möchte. Sie will ein Europa ohne Grenzen. Wir schulden dieser jungen Generation, dass wir keine Mauern aufbauen. Ich bitte das Haus, ich bitte die Bundesregierung und die Europäische Union: Machen Sie für diese jungen Menschen die Türen auf! Ein erster machbarer Schritt wäre: Lassen Sie endlich dieses kleinliche Visaregime fallen! Lassen Sie die jungen Leute reisen! Die Menschen auf dem Maidan sagen: Wir wollen nach Europa. - Wir müssen ihnen sagen: Ihr seid Europa. Seid willkommen!

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

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