21 Jahre nach Srebrenica muss die Politik für die Region grundlegend neu überdacht werden. Ein Krisenpanorama.
GASTBEITRAG
Von Marieluise Beck
Vor 25 Jahren begannen die Zerfalls-
kriege in Jugoslawien. Internationale Bemühungen, die Teilrepubliken in eine Struktur der Gleichberechtigung zu überführen, scheiterten am Widerstand Serbiens. Der traurige Höhepunkt der Gewalt war der Völkermord in Srebrenica, der sich an diesem Montag zum 21.-mal jährt.
Seither gab es intensive Bemühungen der UNO, der EU und unzähliger gesellschaftlicher Initiativen, um aus den entstandenen Republiken demokratische Staaten zu formen. Das Ziel bleibt die Integration in die EU. Der überwiegende Teil der Nachfolgestaaten allerdings ist weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Die Fragilität vieler Nachfolgerepubliken ist nach wie vor hoch.
25 Jahre unterschiedlicher politischer Interventionen und das enttäuschende Ergebnis verlangen eine Überprüfung der Tauglichkeit der Politikansätze und ihrer Instrumente. Im Sinne von "lessons learned“ müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten überprüfen, wie Stabilisierung, Demokratisierung und Staatsaufbau erfolgreicher angegangen werden können als bisher.
In allen Ländern des Westbalkans ist die Perspektivlosigkeit heute das größte Problem. Hochpolarisierte politische Systeme mit nur eingeschränkter Kompromisskultur blockieren die Entwicklung. Politik und Geschäftsinteressen Einzelner sind aufs Engste verknüpft. Die fehlende Privatwirtschaft geht einher mit aufgeblasenen und überbezahlten Staatsapparaten, die ein gegenseitiges Loyalitätsregime befördern. Parteien verschaffen Mitgliedern Jobs im Staatssektor, die ihrerseits aus Existenzgründen den Wahlerfolg ihrer Partei sichern. Immer wieder werden ethnische Konflikte geschürt, um von politischem Versagen abzulenken.
Die Region ist durch die schwere Krise des politischen Systems in Mazedonien wieder instabiler geworden. Seit Monaten kommt es zu Massenprotesten gegen die Regierung. Veröffentlichte Telefonmitschnitte von 20000 Betroffenen enthüllen schamlose Korruption, Wahlbetrug und Beeinflussung der Justiz. Angesetzte Neuwahlen mussten wiederholt abgesagt werden, weil ein Mindestmaß an Vorbedingungen, auf die sich Regierung und Opposition unter Vermittlung der EU verständigt hatten, nicht umgesetzt wurden. Ob die Regierung sich nunmehr an den ausgehandelten Kompromiss halten wird und wie es insgesamt weitergeht, ist völlig offen. Das Blutvergießen vor einem Jahr in Kumanovo hat Sorgen geschürt, die Instabilität könne wieder zum Ausbruch ethnischer Gewalt mit Kettenreaktionen in der gesamten Region führen.
Die "Republika Srpska“ als Teil Bosnien-Herzegowinas droht nach wie vor mit Abspaltung. Kriegsverbrecher werden verherrlicht. Die geteilte Stadt Mostar bleibt ein neuralgischer Punkt. Neue Sozialproteste könnten rasch in ethnische Gewalt umschlagen. Es gibt allein in bosnischen Haushalten eine Million Kleinwaffen.
Die Reformagenda, die einer Initiative des britischen und des deutschen Außenministers folgt, fruchtet nur wenig. Gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land. Dennoch stellte die Regierung im Februar überraschend einen Mitgliedsantrag, den die EU zähneknirschend entgegennehmen musste. Der Präsident des serbischen Landesteils stellt gleichzeitig die EU-Annäherung insgesamt infrage.
Im April ließ der serbische Regierungschef Vucic vorzeitig neu wählen, um von den guten Umfragewerten infolge der begonnenen Beitrittsverhandlungen mit der EU zu profitieren. Mit dieser Wahl kehrten antieuropäische Nationalisten gestärkt ins Parlament zurück. Sie werden Vucic bei seiner Kosovopolitik von rechts unter Druck setzen.
Der Premier arbeitet an einer Vertikale der Macht zu seinen Gunsten. Die Medien agieren weitgehend regierungstreu, weil der Staat Hauptanzeigenkunde ist. Unabhängige Journalisten und Bürgerrechtler werden scharf von regierungstreuen Medien oder Vucic persönlich angegriffen. Gleichzeitig geriert sich Vucic als Saubermann, der mit der Korruption aufräumt. Die Korruptionsbekämpfung traf jedoch bislang vorwiegend politische Gegner.
Im Kosovo erscheint die Bildung des serbischen Gemeindeverbands und damit des zentralen Teils des Abkommens über die Eingliederung der serbischen Parallelstrukturen derzeit nicht durchsetzbar. In Pristina protestierten bis zu 100000 Menschen gegen diesen Vorschlag. Die Opposition verhindert entsprechende Parlamentsabstimmungen regelmäßig durch Tränengas. Kritisiert wird, dass mit dem serbischen Gemeindeverband ein Staat im Staate entstehen könnte. Laut Vereinbarung erhalten die Serben ein dehnbares und als Vetorecht auslegbares Mitbestimmungsrecht bei Entscheidungen, "die sie angehen“. Die Vorbereitungen dieses Gemeindeverbandes haben zur Desintegration der bis dato gut eingebundenen serbischen Gemeinden im Süden des Landes geführt.
In der vergangenen Woche trafen sich Regierungschefs aus den Westbalkanstaaten und der EU zur dritten Westbalkan-Konferenz in Paris. Deren Ziel, die wirtschaftliche Dynamik in der Region durch Infrastrukturprojekte und verstärkte Kooperation untereinander anzukurbeln, ist richtig. Auch die Gründung eines Jugendwerks für den Westbalkan nach deutschfranzösischem Vorbild ist angesichts wieder zunehmender ethnischer Ressentiments in der jungen Generation ein vernünftiges Projekt. Aber all dies wird die grundlegenden Probleme nicht beheben. Eine kritische Bestandsaufnahme derWestbalkanpolitik ist überfällig.
Marieluise Beck ist Obfrau der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags und Vorsitzende der Deutsch-Bosnischen Parlamentariergruppe.
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