Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Von Krisen und Wahlen

Grünes Russlandforum am 4. November 2009 in Moskau -

Das Grüne Russlandforum ist ein jährliches Treffen, das gemeinsam von der Heinrich-Böll-Stiftung, der Gesellschaft "Memorial" und der Bundestagsfraktion getragen wird. Es findet abwechselnd in Berlin und Moskau statt. An ihm nehmen auf deutscher Seite Abgeordnete aus Bundestags- und Europafraktion teil, Russland-Fachleute und VertreterInnen von gesellschaftlichen Gruppen, die sich mit Russland befassen. Auf russischer Seite sind neben AktivistInnen von "Memorial", VertreterInnen von grünen und demokratischen Parteien sowie Fachleute aus russischen Think Tanks beteiligt. Die Vielfalt und Breite der russischen Zivilgesellschaft widerzuspiegeln ist dabei ein Anspruch, der schon aus praktischen Gründen nur eingeschränkt eingelöst werden kann. So waren diesmal zum Beispiel das "Sacharow-Zentrum" und die älteste Umweltorganisation Russlands, die "Sozial-Ökologische Union" vertreten, weiter die Partei "Jabloko" und ihre innerparteiliche grüne Fraktion sowie das "Lewada Zentrum", ein unabhängiges Demokskopie-Institut.

Anders als bisher fand das Treffen in den Räumen des "Sacharow-Zentrums" statt, einer Stiftung, die ähnlich "Memorial" den Menschenrechten und der Geschichte ihrer Verteidigung in Russland gewidmet ist. Eine beeindruckende Ausstellung über die Geschichte der sowjetischen Dissidenten, ihres Kampfes und ihrer Leiden bildete den unübersehbaren Rahmen der Veranstaltung.

Drei Schwerpunktthemen wurden bei dem eintägigen Treffen diskutiert: Die Veränderungen in Deutschland und der EU nach den Wahlen, die Folgen der Wirtschaftskrise in Russland und die zunehmend bedrohliche Lage im Nordkaukasus.

Die Wahlen in Bund und Ländern zeigen, dass sich die Symmetrie des deutschen Parteiensystems nachhaltig verändert. Durch das Erstarken der Linken und die Erosion der Volksparteien wird das politische Farbenspiel neu gemischt. Die Grünen kommen zunehmend in die Situation, das Zünglein an der Waage zu sein.

Sowohl bei der Bundestagswahl als auch bei der vorangegangenen Wahl zum Europäischen Parlament haben die europäischen Grünen gewonnen und ihre bisher besten Ergebnisse erzielt.

Politische Identität als Partei der Ökologie und der Menschenrechte bleibt die wichtigste strategische Inhaltsbestimmung. Darin waren sich die deutschen TeilnehmerInnen des Forums einig. Eine von außen aufgezwungene Verortung in einem der traditionellen politischen Lager wäre falsch und unproduktiv. Denn die einfache Einteilung in "Linke" und "Rechte" hat sich längst als nicht mehr zeitgemäß erwiesen.

Die Wirtschaftskrise verändert Deutschland und Russland. Damit verändert sich neben der Politik in beiden Ländern auch das Verhältnis zueinander. In Russland wurde der politischen Elite inzwischen klar, auf wie öligem Sand der vermeintliche russische Wiederaufstieg zur Großmacht gebaut ist. Aus der als Stabilität gefeierten Stagnation ist eine unübersichtliche Ungewissheit geworden.

Die Krise legt die Schwächen des von Putin geschaffenen politischen Systems frei. Die Überzeugung, aus der Krise schnell und dem Westen gegenüber relativ gestärkt heraus zu kommen, ist der Erkenntnis gewichen, dass sich die russische Wirtschaft wohl erst nachhaltig erholen wird, sobald die Öl- und Rohstoffpreise aufgrund einer weltweiten Wirtschaftserholung wieder anziehen. Die Töne im Inneren und nach außen wurden seither insgesamt etwas freundlicher. Im September begann sogar so etwas wie eine liberale Offensive des Kremls. Die meisten russischen Teilnehmer bleiben jedoch skeptisch. Sie sehen hier eher eine erneute Scheinblüte, der bald wieder die politische Ernüchterung folgen wird. Gesellschaftliche Träger einer ernstzunehmenden ökonomischen Modernisierung sind nicht zu sehen, und die große Mehrheit der Gesellschaft bleibt gleichgültig und passiv. Die traditionelle Allmacht des Staates wird als unverrückbar angesehen. Auch wenn Korruption und Willkür als bedrückend erlebt werden, meinen nur wenige etwas dagegen tun zu können. Dazu gehört, dass auch das westliche Modell als gleichermaßen korrumpiert angenommen wird.

Eine unserer gemeinsamen Aufgaben wird sein, die Inhalte scheinbar gleicher Begriffe aus dem politischen Wortschatz beider Seiten zu hinterfragen und zu vergleichen. Sind Parteien gleich Parteien? Sind Wahlen gleich Wahlen? Ist die Zivilgesellschaft nur ein schmückendes Beiwerk eigentlich autoritärer Systeme?

Die Beschreibung der russischen Experten über die zunehmende Gewalt im Nordkaukasus und ihre Auswirkungen auf die Arbeit auch von Menschenrechtsgruppen und unabhängigen Beobachtern hinterließ bei den deutschen Teilnehmern ein Gefühl von Hilfloskgikeit. Die Ermordung von Natalja Estemirowa und Sarema Sajdulajewa hat das auch einer breiteren Öffentlichkeit erneut bewusst gemacht. Neben Tschetschenien wird auch aus Dagestan, aus Inguschetien und Karbadino-Balkarien fast täglich von Anschlägen, Morden und dem Verschwinden von Menschen berichtet. Memorial musste nach der Ermordung Natalja Estemirowas seine Büros in der Region schließen. Das Menschenrechtsmonitoring ist dadurch nur noch sehr eingeschränkt möglich. Der Kreml scheint weder Willens noch in der Lage zu sein, die weitere Destabilisierung des Nordkaukasus aufzuhalten. Die Einflussmöglichkeiten und der Einflusswillen des Westens sind ebenfalls beschränkt. Resignation jedoch wäre falsch. Auch weiterhin muss die Entwicklung im Westen beobachtet und stärker ins öffentliche Bewußtsein gerückt werden. Auch weiterhin müssen wir die russischen Menschenrechtsgruppen und JournalistInnen unterstützen, die sich dieser Aufgabe widmen.

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