Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Reisebericht: Charkiw, Regionen Luhansk und Donezk

Vom 4. bis 7. September 2014 besuchte ich zum ersten Mal seit dem Ausbruch des Krieges die Ostukraine. Auf dieser Reise, die nach Charkiw, sowie in die Regionen Luhansk und Donezk führte, wurde ich von Aktivisten des Zivilgesellschaftsforums in Charkiw und vom Kiewer Büro der Heinrich-Böll Stiftung begleitet. Ihnen gilt mein herzlicher Dank.

 

Charkiw

Treffen mit dem Zivilgesellschaftsforum: Geschäftsleute, Anwälte, Energiewirte - sie sind sehr enttäuscht, dass Europa die Aggression Putins ihrer Meinung nach herunterspielt. Das Bürgerforum hat das Gefühl, dass die Menschen der Ukraine in Stellvertretung für Europa eine Auseinandersetzung mit Russland führen und die fühlen sich dabei sehr alleine gelassen.

Viele Mitglieder des Zivilgesellschaftsforums haben informelle Kanäle in die besetzten Gebiete. Häufig sind es Verwandte, mit denen noch telefoniert werden kann. Die Herrschaft der Separatisten sei gewalttätig. Flüchtlinge berichten von Willkür, so zum Beispiel von einem Todesurteil für einen Bauern, der die ukrainische Armee mit Brot versorgt hatte. Es gibt Fotos von massiven Zerstörungen, deren Verursacher gemäß den Gesetzen der Ballistik nur die Separatisten hatten sein können. 

Der selbsternannte "Premierminister" von Donezk heißt Alexander Sachartschenko und ist in Charkiw wohl bekannt. Er war Vorsitzender des Sportvereins "Oplot" in Charkiw - einer Schlägertruppe des alten Bürgermeisters.

Eine Kellnerin in Charkow berichtet mir von Erfahrungen ihrer Familie aus Ilowajsk: Die Zivilbevölkerung habe durch den errichteten Korridor den Ort verlassen wollen und geriet unter vollen Beschuss der Separatisten. Ihre Großmutter und Mutter seien in dem Konvoi gewesen. Heute wisse niemand, wer in der Stadt die Macht habe. Die Stadt sei sehr zerstört.

Ewgenij Sacharow von der Menschenrechtsgruppe in Charkiw und Memorial sieht die Auseinandersetzung zwischen Russland und der Ukraine wie ein Spiel zwischen Katze und Maus. Der große Kater könnte die Maus töten, spiele aber stattdessen mit ihr. Die Maus könne gerettet werden, würde der Hund die Katze vertreiben. Aber der Hund - die Hilfe durch die EU - komme nicht. 

Die ukrainische Gesellschaft, so Ewgenij Sacharow, verändere sich: Mit dem künstlich erzeugten Konflikt von außen steige der Patriotismus, ein Nato-Beitritt werde immer populärer, gleichzeitig nehme allerdings auch der Hass zu. Es gebe nicht nur dramatische Menschenrechtsverletzungen auf Seiten der Separatisten, sondern inzwischen durchaus auch bei einigen Freiwilligen. 

Das Verteidigungsministerium sei leider nicht optimal besetzt. Poroschenko ernenne loyale Leute, aber Loyalität ersetze keine Kompetenz. Es sei damit zu rechnen, dass es Präsident Poroschenko im Herbst bei den Wahlen sehr schwer haben werde. Die Gesellschaft radikalisiere sich, Julia Timoschenko arbeite an einem radikalen Block.

In Russland würde dieser Krieg im Donbass immer weniger populär: nur 6 Prozent der russischen Bevölkerung unterstütze ihn. Während es noch 90 Prozent waren, die für die Übernahme der Krim waren.Die Ukraine sei groß genug, um zu kämpfen und es gebe viele Menschen, denen die eigene Freiheit wichtiger sei als das eigene Leben.

 

Region Luhansk

Wir treffen am späten Abend auf einer Militärstation ein, in der junge Freiwillige auf ihren Einsatz warten. Ihre Ausstattung ist jämmerlich. Die Vorgesetzten sind tief deprimiert. Sie waren Teil eines Kessels, aus dem von 1.200 Soldaten 200 Soldaten der Ausbruch gelungen sei. Sie sehen sich in einem vollkommen ungleichen Kampf. Ihre Ausrüstung sei 30 Jahre alt, beschränke sich im Wesentlichen auf Gewehre und die andere Seite habe hochmoderne Waffen mit großer Reichweite und Präzision. Die ukrainische Armee, also sie als Soldaten, würden von russischem Territorium beschossen und dürften nicht einmal antworten, weil der Kriegszustand nicht ausgerufen worden sei.

In der Nacht treffen wir Dmitri Lugin, Vertreter der Gebietsverwaltung von Luhansk im ‚Exil‘ zuständig für Sicherheitsfragen. Die Stadt sei voll von russischem Militär. Einen Tag nach dem Minsker Abkommen sei eine russische Ingenieurbrigade in die Stadt eingezogen und baue neue Strukturen (Elektrizitätsleitungen etc.) nach Russland auf. Die ukrainische Kirche und die Moschee seien geschlossen worden. Der ukrainisch-orthodoxe Priester habe fliehen müssen. Die Schule habe wieder begonnen. Unterrichtet werde mit russischen Schulbüchern. Vertreter der Separatisten, die nicht aus Lugansk und nicht aus der Ukraine stammten, gingen von Haus zu Haus, verteilten Lebensmittelpakete und 1000 russische Rubel für jeden Erwachsenen sowie 500 für jedes Kind. Es würden russische Pässe ausgegeben.

Inzwischen deuteten Indizien darauf hin, dass die Pläne zur Invasion der Ukraine bereits aus dem Jahre 2013 stammten. Russland habe allerdings auf das Jahr 2015 orientiert, denn es sei mit dem Machtverlust von Janukowitsch bei den Wahlen gerechnet worden. Die Pläne hätten fünf Oblasten umfasst, darunter auch Odessa. Für die Invasion habe es gemeinsame Übungen ukrainischer und russischer Kosaken in Rostow am Don gegeben. Der Euromaidan und die Flucht von Janukowitsch seien allerdings unerwartet gekommen.
 

Region Donezk

Gespräch mit dem Kommandeur der 93. Brigade - ich nenne ihn "Oleg": Während wir auf der improvisierten Kommandostelle im Wald stehen, kommt ein Untergebener zu dem Kommandeur und flüstert ihm zu, dass der Donezker Flughafen unter Beschuss stehe. Separatisten hätten mit Granatwerfern aus dem Wohngebiet Spartak gefeuert. Der Kommandeur gibt Anweisung, das Feuer nicht zu erwidern, die Provokation solle unbeantwortet bleiben, um die Waffenruhe nicht zu gefährden.

Auch der Kommandeur ist gedrückt. Die russische Seite sei hoffnungslos überlegen, weil sie Präzisionswaffen mit einer Reichweite von 120 km hätten. Die Ukrainer hingegen hätten nur uraltes Kriegsgerät. Ihre einzige Stärke sei allein die Tatsache, dass die Bevölkerung weder die Separatisten noch die russischen Militärs wolle.

Oleg und seine Leute sind schon zweimal eingekesselt gewesen. Ihnen sei von den Separatisten angeboten worden, durch einen Korridor den Kessel zu verlassen. Dann jedoch sei auf die abziehenden Soldaten geschossen worden. Die Beschossenen hätten keine Chance gehabt.

Oleg erklärt, Europa sei nicht klar, dass die Ukrainer zum zweiten Mal für den Kontinent gegen den Faschismus kämpften. Wenn man ihn nicht aufhielte, würde Putin noch weiter gehen. (Davon sind hier übrigens fast alle überzeugt.)

Wenn die russischen Militärs nach dem 20. August nicht so massiv interveniert hätten, wären Lugansk und Donezk schon frei. Die Ukrainer dürften die Menschen dort nicht aufgeben. Der Terror gegenüber der Bevölkerung dürfe ihnen nicht zugemutet werden. Wie sollten die Menschen in dieser Region über den Winter kommen, wie heizen, wie sich versorgen? Über all das dächten die Separatisten nicht nach.

In einem der umliegenden Dörfer hätten Bürger das Elektrizitätsnetz nach den Kämpfen instand gesetzt. Russische Einheiten hätten gesagt: „Wenn Ihr als Ukrainer leben wollt, bleibt Ihr ohne Strom. Wenn Ihr als Russen leben wollt, bekommt Ihr Strom.“

Slowjansk: Wir treffen im Dunkeln in Slowjansk ein. Es gab ein Stadtfest, noch immer ist der Platz voll. Unsere Gespräche auf dem Platz zeigen deutlich, wie verängstigt und gespalten diese Stadt ist.

Nach der Rückeroberung der Stadt durch die ukrainische Armee ist die Situation angespannt. Einigen ist es egal, unter welchen Herren sie leben. Andere haben einfach nur Angst. 

Wir treffen Freiwillige, die dem Innenministerium unterstellt sind. Ihre Ausrüstung sei miserabel, der Kampf gegen das hochmoderne russische Militär sei mit ihren alten Kalaschnikows aussichtslos. Sie meinen, dass sowohl Kiew als auch die EU sie nicht wirklich unterstützen wollten. Eines Tages könnten sie nach Kiew zurückmarschieren und einen zweiten Euro-Maidan herbeiführen. Die Erbitterung und Radikalität dieser Freiwilligen muss beunruhigen.

 

* * *

1. Unbestreitbar unterliegt die Ukraine einer Aggression, die von außen geschürt wird. Es handelt sich nicht um einen Bürgerkrieg.

2. Die Region Luhansk und Donezk stehen vermutlich vor einem faktischen Anschluss an Russland. Putin wird klug genug sein, anders als bei der Krim keine Annexion vorzunehmen. 

3. Nach den Erfahrungen mit den zwischen Sarkozy und Putin getroffenen Vereinbarungen zu Südossetien und Abchasien, die nie umgesetzt werden konnten, ist Zweifel angebracht, dass die Minsker Vereinbarungen Realität werden. Es droht der Anschluss des Donbass an Russland.

4. Die Enttäuschung und Verbitterung in der Ukraine ist groß, die Haltung zu dem Minsker Abkommen sehr gespalten. Wenn Präsident Poroschenko nicht zumindest mit einer entschiedenen Haltung des Westens durch deutlichen Druck auf Putin unterstützt wird, droht er am 26. Oktober in den Parlamentswahlen zu unterliegen. 

 

 

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