Bei einer Lesung und Diskussion mit der Historikerin Irina Scherbakowa und Marieluise Beck ging es um Geschichten von russischen Jugendlichen, die vergessenen Lebensgeschichten nachgingen:
Totalitäre Systeme hinterlassen tiefe Spuren in einer Gesellschaft. Die Vergangenheit aufzuarbeiten ist ein schwieriger Prozess, der ein starkes gesellschaftliches Engagement erfordert. Das Beispiel Deutschlands hat gezeigt, wie schwer sich eine Gesellschaft tut, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Russland trägt das schwere Erbe des Stalinismus, des zweiten totalitären Systems des letzten Jahrhunderts. Solang die Sowjetunion noch existierte, war eine Aufarbeitung des Stalinismus nicht möglich. Erst mit der Perestroika entstanden Freiräume für eine Auseinandersetzung mit der stalinistischen Vergangenheit. Doch seit einigen Jahren werden in Russland gesellschaftliche Freiräume immer enger. Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte ist unerwünscht. Symptomatisch für diese Entwicklung ist der neue Unterrichtsleitfaden für Geschichtslehrer, der 2007 im Auftrag des Kremls ausgearbeitet wurde. Er besagt, dass die dunklen Kapitel der jüngsten russischen Geschichte im Schulunterricht nur am Rande behandelt werden sollen. Der Blick auf diese dunklen Seiten, so die offizielle Begründung, verhindere, dass junge Russinnen und Russen Stolz entwickelten auf ihr Land und seine Errungenschaften.
Marieluise Beck und Irina Scherbakowa
Die Internationale Gesellschaft MEMORIAL setzt diesem Trend etwas entgegen. Die Gesellschaft entstand als Bürgerrechtsbewegung während der Perestrojka-Zeit in der ehemaligen Sowjetunion. Ihr Ziel ist es, die Erinnerung an den stalinistischen Terror, der Millionen von Menschen das Leben kostete, im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern und die Erinnerung an seine Opfer zu bewahren. Dank der Arbeit von MEMORIAL wurden Tausende Opfer des Gulags rehabilitiert, heimliche Massengräber entdeckt, wichtige Zeitzeugnisse veröffentlicht. MEMORIAL ist sich auch des Konfliktpotentials von Geschichtsdeutungen aus Perspektive unterschiedlicher Länder bewusst und hat jüngst einen Aufruf für ein internationales Diskussionsforum über nationale Geschichtsbilder gestartet.
Dr. Irina Scherbakowa, Historikerin und Mitarbeiterin bei MEMORIAL, begleitet schon seit 10 Jahren einen russischen Geschichtswettbewerb, der zum Ziel hat, dass Jugendliche sich mit der jüngeren Vergangenheit ihres Landes beschäftigen. Mehrere Tausend Schüler aus allen Teilen Russlands machen sich jährlich auf die Suche nach den Lebensgeschichten ihrer Nachbarn und Verwandten. Herausgekommen sind eindrucksvolle Sammelbände, aus denen Irina Scherbakowa auf Einladung von Marieluise Beck am 24.06. in der Bremer Buchhandlung Geist vorlas. Die bewegenden Geschichten mit Titeln wie Eine Schuldige ohne Schuld, Es bleiben Namen und Gräber und Zwei Tage, die Nowotscherkassk erschütterten illustrieren, wie Menschen in einem totalitären System zerrieben werden. Eine Schuldige ohne Schuld erzählt die Geschichte einer Zwangsarbeiterin, der nach ihrer Rückkehr aus dem deutschen Arbeitslager in der Sowjetunion offenes Misstrauen und Verachtung entgegenschlug. Die Frage, wie es dazu kam, dass Opfer als Verräter diffamiert wurden, beschäftigte das Publikum in der anschließenden Diskussion, die eine bewegende Lesung abrundete.
Lektüre:
Irina Scherbakowa (Hrsg.) Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten und Unruhige Zeiten. Lebensgeschichten aus Russland und Deutschland.