Marieluise Beck

ehem. Mitglied des Deutschen Bundestags

Juri Andruchowytsch

Am vergangenen Freitag wurde Juri Andruchowytsch der diesjährige Hannah-Arendt-Preis im Bremer Rathaus verliehen. Seine anschließende Rede ist bestürzend und anrührend zugleich - sie beschreibt, was mir verzweifelte Menschenrechtsgruppen aus dem Donbass schildern. Lesen Sie hier:

 

„HAGEL“, „TORNADO“, „HURRIKAN“. DER CHIMÄRISCHE KRIEG

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte diesen zweifellos festlichen und für mich freudigen Anlass nutzen, um Ihnen etwas mehr über gewisse Aspekte jenes Konfliktes zu erzählen, der hier meistens „Krise in der Ukraine“ genannt wird. Mir scheint, dass es sowohl im Umfeld dieses Konfliktes, als auch in seinem Inneren furchtbar viele Dinge gibt, von denen Sie kaum etwas wissen, weil Medien und Politiker Sie nach ein und denselben Schemata und Schablonen informieren: Geopolitik; Einfluss- und Interessenszonen; russisch-amerikanisches Tauziehen; die Ukraine als hoffnungslos geteiltes, unzurechnungsfähiges Land; wirtschaftliche Gründe für das „Putinverstehen“; sichere Gasversorgung.

Aber die Ukraine ist mehr als ein Territorium für den Gastransit zwischen Russland und Europa. Sie ist ein Land mit einer eigenen, extrem schwierigen und tragischen Geschichte und einer neu gefundenen Identität. Sie ist also viel komplizierter, als es scheint, und sie verdient Ihre Aufmerksamkeit. In der Ukraine wird heute ein Re-Make des historischen Dramas aufgeführt, in dem Zentraleuropa als Territorium fungiert, wo die autokratischen Werte zum wiederholten Male einen Angriff gegen die liberalen starten. Außerdem vollzieht sich in der Ukraine vor unseren Augen das Werden einer neuen europäischen Gesellschaft.

Diesem Werden wird harter, grausamer Widerstand entgegen gesetzt – sowohl von außen, als auch im Innern des Landes. Aber letztlich sind sowohl die im Innern als auch die von außen Elemente ein und derselben zerstörerischen Spezialoperation.

Darum ist es ein schmerzhaftes Werden. Um es zu stoppen, schreckt unser Nachbarstaat nicht einmal vor militärischer Einmischung zurück. Sein Präsident hat sich in diesem Konflikt, den er selbst mehr als zehn Jahre lang vorbereitet und geschürt hat, die Rolle des strengen, aber gerechten Schiedsrichters auf den Leib geschrieben. Aber diese Rolle gelingt ihm nicht oder nur äußerst schlecht – so schlecht, dass ihm offenbar nur noch die Herren Schröder, Berlusconi, Gorbatschow und andere, heute schon legendäre Helden der Realpolitik glauben können.

Ein Interview des russischen Präsidenten, das dieser vor kurzem erst, Mitte November, einem deutschen Fernsehsender gegeben hat, ist das perfekte Beispiel für seine ebenso scham- wie hilflose Verdrehung der Tatsachen. Putin benimmt sich vor dem deutschen Fernsehpublikum genau so wie vor dem heimischen russischen, das ja bekanntlich sogar zu glauben bereit ist, das die malaysische Boeing 777 schon vor dem Abflug nicht mit lebendigen Passagieren, sondern mit menschlichen Leichen beladen war. Aber zurück zum Interview für das deutsche Fernsehpublikum, in dem der russische Präsident unter anderem folgendes sagte: „Im Osten der Ukraine finden Kämpfe statt. Die ukrainische Zentralmacht hat die Armee dorthin entsandt, sogar ballistische Raketen kommen zum Einsatz. Und wird darüber etwas gesprochen?“ – Er macht eine Pause und setzt theatralisch den Punkt. „Kein Wort.“

In Wirklichkeit wurde schon im Sommer von den ballistischen Raketen gesprochen, zum Beispiel auf CNN. Die Information wurde von der ukrainischen Regierung sofort dementiert, die erklärte, dass „die letzte Rakete, die gemäß internationaler Klassifizierung als ballistisch gelten kann und eine Reichweite zwischen 500 und 1000 km hat, in der Ukraine am 1. Juli 1996 zerstört wurde, und zwar im Rahmen eines von den USA finanzierten Abrüstungsprogramms. In der Ukraine gibt es solche ballistischen Raketen nicht.“

In Wirklichkeit – und dieser Ausdruck muss sehr häufig gebraucht werden, wenn man den russischen Präsidenten kommentiert – kämpfen in der Ukraine seine, Putins, regulären Militäreinheiten – und sie kämpfen nicht nur mit Raketenwerfersystemen mit so sprechenden und fast biblischen Namen wie „Hagel“, „Tornado“ und „Hurrikan „, sondern auch mit nagelneuen T-90-Panzern. Aber davon kommt dem russischen Präsidenten wirklich „kein Wort“ über die Lippen.

Warum reagiert Putin so aggressiv auf die Ukraine? Warum konzentriert Russland heute seine gesamte Außenpolitik auf den Krieg gegen uns und darauf, den Rest der Welt in großem Stile bezüglich dieses Krieges hinters Licht zu führen?

Es gibt Lügen. Es gibt große Lügen. Es gibt schamlose und schamlos große Lügen. Und es gibt die Lüge in Reinform – die russische Propagandamaschine.

Da haben Sie, grob gesagt, die gesamte Außenpolitik.

In Wirklichkeit (wieder dieser Ausdruck!) geht es Putin vor allem um etwas, das er mehr als alles fürchtet. Ich zitiere aus den Nachrichten: „Der russische Präsident bezeichnet die „Farbrevolutionen“, die in einer Reihe von Ländern stattgefunden haben, als Lehre und Warnung für Russland und verspricht, alles Notwendige zu tun, damit in Russland nichts dergleichen passiert.“

So tut er zum Beispiel im Osten der Ukraine „alles Notwendige“. Unter anderem mit Hilfe von Mehrfachraketenwerfern „Hagel“, „Tornado“ und „Hurrikan “.

Die zitierte Erklärung über „Lehre und Warnschuss“ für Russland hat Putin nicht irgendwo abgegeben, sondern auf einer Sitzung des russischen Sicherheitsrats. Weiter sprach er davon, dass der Extremismus in der heutigen Welt als „Instrument der Geopolitik und der Verschiebung von Einflusszonen“ benutzt wird. Natürlich – was sonst sollte einen gewissenhaften Schüler des geopolitischen Genius aller Zeiten und Völker, Professor Alexander Dugin, beschäftigen! Geopolitik und Einflusszonen – das ist es, was dem russischen Präsidenten keine Ruhe lässt. „Wir sehen“, fährt er fort, „zu welchen tragischen Folgen die Welle so genannter Farbrevolutionen geführt hat, welche Erschütterungen die Völker jener Länder durchlebten und weiter durchleben, ausgelöst von verantwortungslosen Experimenten, von versteckter, manchmal auch brutaler, tumber Einmischung in ihr Leben.“

Alles ist haargenau umgekehrt. In mein persönliches Leben, wie auch in das Leben vieler Millionen anderer Menschen, hat er, Wladimir Wladimirowitsch Putin, sich tumb und brutal eingemischt, er, dessen Reagieren auf unsere „Farbrevolution“ mehr als krankhaft ausfiel.

Eine äußerst präzise Bewertung hat kürzlich Herta Müller in einem Interview für die dänische Zeitung «Dagens Nyheter» vorgenommen: «Putins Sozialisation im KGB ist in den letzten Jahren immer mehr zum einzigen Maßstab seines politischen Handelns geworden. Er sieht überall im In- und Ausland Feinde, weil er die Welt nicht anders begreifen kann. Und er braucht Feinde, die man anlügen und austricksen muss, um die sogenannten russischen Interessen durchzusetzen. Und damit inszeniert er sich als Retter der slawischen Werte, die von der dekadenten westlichen Kultur – also von uns – bedroht werden». Und etwas weiter unten im Interview: «Putins einziger und größter Gegner ist die westliche pluralistische Gesellschaft, die Freiheit des Individuums und die Unabhängigkeit der Justiz – also die Demokratie, in der wir gerne leben. Und in der auch die Menschen in der Ukraine gerne leben würden. Transparenz und Geheimdienst – einen größeren Widerspruch kann es kaum geben».

Als absoluter Geheimdienstler handelt Putin im Regime von Spezialoperationen. Darum trägt sein Krieg gegen die Ukraine einen so chimärischen Charakter. Hybride Kriegsführung, wie man jetzt zu sagen pflegt.

Aber bei aller Geheimhaltung dieses Spezialkrieges – die Soldaten und Panzer, die er in den Osten der Ukraine schickt, lassen sich nicht verbergen. Sogar der OSZE-Mission fallen sie inzwischen auf. Und die Britische Botschaft in Kiew hat eine Instruktion veröffentlicht, die, so die Diplomaten, „dem Kreml helfen soll, seine Panzer in der Ukraine zu finden“. David Liddington, britischer Europaminister, erklärt folgendes: „Der Kreml hat hunderte Soldaten in die Ukraine geschickt, tausende an ihren Grenzen versammelt und versorgt seine Marionetten im Osten mit Waffen und Panzern in unbegrenzter Zahl. Das ist keine Annahme, sondern eine Tatsache. Wir verfügen über Satellitenaufnahmen, Fotografien von Menschen vor Ort, Berichte der OSZE-Mission und Berichte von Augenzeugen. Die russische Versuche, dies zu leugnen, sind unglaubhaft.“

Panzer sind Panzer, sie lassen sich nicht verbergen. Aber die Soldaten, die Gefallenen, müssen doch begraben werden. Unabhängige Quellen russischer

Menschenrechtsverteidiger sprechen schon von an die tausend Gefallenen unter den russischen Soldaten des „Donbass-Feldzugs “. Also offiziell kämpft Russland bei uns nicht, die russische Armee ist nicht da, aber die Leichen russischer Soldaten sind es. Wohin mit ihnen? Am besten sie in Stollen stapeln, in anonymen Gräbern verscharren. Ein Soldat – verschwunden. Vielleicht hat es ihn nie gegeben. Den Verwandten kann man, unter absoluter Geheimhaltung, mitteilen, dass ihr Sohn, Mann, Bruder einen Herzschlag erlitten hat oder überhaupt im Urlaub an der Hitze gestorben ist. Wie sagte einst der legendäre russische Marschall Schukow, als er weitere Kompanien, Bataillone und Heere der Roten Armee in den sicheren Tod schickte: „Russland ist groß, die Weiber werden neue Soldaten gebären.“

Wenn der russische Präsident nicht nur grundlegende Rechte, sondern sogar das Leben seiner eigenen Bürger so missachtet, was ist dann von ihm zu erwarten, wenn es um ukrainische Bürger geht?

Nach neuesten Erkenntnissen sind derzeit nicht weniger als 700 dieser ukrainischen Bürger Geiseln oder Gefangene der Terroristen. Sie werden gefoltert und erniedrigt. Die Erzählungen derjenigen, die befreit werden konnten, hinterlassen den furchtbaren Eindruck eines zügellosen Remakes des entsetzlichsten Mittelalters. Im Sommer füllte man mit ihnen die erstickenden Keller der Verwaltungsgebäude, wo sie sich Wochen und Monate quälten, geschlagen und gebrochen, ohne Licht und Luft, oft ohne Wasser und Essen und meist ohne jede medizinische Versorgung. Jetzt naht der Winter, und es ist noch schrecklicher, sich all das vorzustellen. Unter ihnen sind Frauen und Minderjährige. Es wird berichtet, dass Frauen mit Maschinengewehren vergewaltigt wurden. Das ist keine Metapher.

Um die Atmosphäre der Angst in den besetzten Gebieten aufrecht zu erhalten, haben die Separatisten die Todesstrafe eingeführt. Das geschieht auf dem Territorium eines Landes, das Mitglied des Europarats ist und dessen Verfassung die Todesstrafe verbietet. Wie die Führer der Separatisten vor einigen Tagen in ihren Fernsehsendern verkündeten, werden die Entscheidungen über Todesurteile von nun an von „besonderen Trios“ (Stalin lässt grüßen) aus – Obacht! – „Feld-Militär-Richtern“ gefällt. Niemand kann sagen, wie viele Todesurteile schon vollstreckt wurden. Aber es kommt genug Material für einen langen und an entsetzlichen Fakten überreichen Prozess in Den Haag zusammen.

Im siebten Bericht des UN Hochkommissars für Menschenrechte heißt es, die „bewaffneten Gruppierungen fahren fort, Menschen unrechtmäßig gefangen zu halten, Hinrichtungen ohne Urteil zu vollstrecken, zu Zwangsarbeit zu zwingen, sexuelle Gewalt anzuwenden und persönlichen Besitz zu vernichten oder zu konfiszieren. Tausende Menschen gelten als vermisst, dauernd werden neue, anonyme Gräber gefunden, aus denen die Leichen zur Identifizierung exhumiert werden“.

Ein weiterer Aspekt dieses Hybridkrieges besteht darin, dass nicht weniger als zwei Dutzend ukrainische Bürger, die auf dem Gebiet ihres Landes gefangen genommen oder entführt wurden, inzwischen rechtswidrig in russischen Gefängnissen festgehalten werden. Es versteht sich, dass sie genauso rechtswidrig dorthin verbracht wurden – meist aus den von den Separatisten kontrollierten Gebieten. Die russischen Anwälte dieser Gefangenen berichten, dass einige von ihnen gefoltert werden – vor allem, um sie zu zwingen, von „Verbrechen des ukrainischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung des Donbass“ zu erzählen. Am längsten wird der stellvertretende Vorsitzende der Partei UNA-UNSO, Mykola Karpjuk, in Russland festgehalten. Ihn hat man schon im März im weit vom Donbass entfernten Tschernigower Oblast entführt. Im April wurden auf der Krim vier weitere Ukrainer rechtswidrig festgenommen: der Filmregisseur Oleg Senzow, der Geschichtslehrer Oleksij Tschyrnij, der Fotograf Gennadij Afanasjew und der Aktivist Oleksandr Koltschenko. Notieren Sie diese Namen, merken Sie sie sich – nicht ausgeschlossen, dass gerade jetzt, in dieser Minute, einer von ihnen in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis unaussprechliche Folterqualen erleiden muss. Die bekannteste Gefangene ist eine Frau, die Militärpilotin Nadija Sawtschenko, die seit 18. Juni in Gefangenschaft ist. Die Separatisten haben sie im Gebiet Luhansk entführt und den russischen Geheimdiensten übergeben. Organisiert und persönlich geleitet wurde die Operation vom derzeitigen „Oberhaupt der Luhansker Volksrepublik“.

Braucht es noch weitere Beweise, dass die Donbasser Separatisten direkt und absolut vom Kreml gesteuert werden? Was heißt hier „Volksrepubliken“, „Aufständische“, „Rebellen“? Es sind Verbrecher und banale Marionetten!

Ein weiterer Aspekt, den ich hier nennen muss, ist die Lage auf der Krim insgesamt und die ihres indigenen Volkes im Besonderen. Flüchtlinge von der Krim und Menschenrechtsaktivisten haben eine interaktive Karte angefertigt, auf der alle Fälle von Menschenrechtsverletzungen auf der Halbinsel eingetragen sind. Seit dem 24. Februar (dem Beginn der russischen Intervention) bis heute wurden 103 Verletzungen von bürgerlichen und politischen Rechten festgestellt, 70 Verletzungen der Recht der indigenen Völker und nationalen Minderheiten, 65 Verletzungen kultureller und religiöser Rechte und 139 Verletzungen sozial-ökonomischer Rechte. Wenn im Frühling, zu Beginn der Okkupation der Krim, überwiegend pro-ukrainische Aktivisten verfolgt wurden, so verstärkt sich in letzter Zeit vor allem der Druck auf die Krimtataren. Sie wissen, dass dieses Volk schon einmal auf Befehl Stalins aus seiner Heimat deportiert wurde. Heute bemüht sich die Okkupationsmacht, für sie solche Lebensbedingungen zu schaffen, dass sie die Halbinsel auch ohne jede Deportation von oben freiwillig massenhaft verlassen.

Seit Beginn der Okkupation wurden 21 Vertreter des Volkes der Krimtataren entführt, einige wurden später tot und mit Folterspuren aufgefunden. Die verbreitetste Art der – verzeihen Sie – Beute bei dieser Safari sind Kinder, Teenager und junge Männer krimtatarischer Nationalität.

Ich lese all diese offiziellen Erkenntnisse und versuche, nicht verrückt zu werden. Wo und mit wem geschieht all dies? Geschieht es wirklich bei uns, in meinem Land, in Mittelosteuropa? Oder hat der große geopolitische Schürer dieses Konfliktes genau das erreicht – uns für immer aus Europa zu drängen und in einen ganz anderen „Erdteil“ zu treiben, irgendwo bei Afghanistan, Irak und Syrien? Im Bewusstsein vieler Europäer sind wir schon dort. Sie glauben, bei uns herrscht ewige Krise. „Die Krise in der Ukraine“.

Zurück zu den Entführungen mit darauf folgenden Folterungen und Morden. Diese sind charakteristische Elementen einer gewissen und klar erkennbaren Handschrift. Und sind gleichzeitig eines der verbreitetsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das das Regime Janukowytsch so aktiv gegen uns auf dem Maidan anwendete, wobei es gewissenhaft die Instruktionen der Moskauer Führung befolgte. Die Menschen des Maidan verschwanden von Anfang an. Um den Maidan herum kreisten immer sog. „Kerle sportlichen Typs“ und andere „Schleicher“. Unter meinen Freunden gab es niemanden, der nicht Anzeichen dafür bemerkte, dass er verfolgt und sein Telefon abgehört wurde. Es war äußerst gefährlich, sich in der Stadt einzeln oder in zu kleineren Gruppen zu bewegen – Leute mit Maidan-Symbolik konnten auf Schritt und Tritt angegriffen und von unbekannten „Hooligans“ oder „Besoffenen“ schwer zusammengeschlagen werden. Nur mitten auf dem Maidan konnte man sich mehr oder weniger sicher fühlen, hinter den Barrikaden, umgeben von Zehntausenden Gleichgesinnten. Manchmal aber musste man einfach nach draußen – heim, zu Verwandten und Freunden, Dinge erledigen. „Sie“ beobachteten unsere Bewegungen genau. Auf diese Art wurde am 25. Dezember die bekannte Journalistin Tetjana Tschornowol angegriffen und auf brutale Art bewusstlos geprügelt (geplant war, sie zu Tode zu prügeln, aber sie hatte Glück). In der zweiten Januarhälfte geschahen einige der aufsehenerregendsten Entführungen. Das Regime und die ihm nahe stehenden kriminellen Elemente machten ihre Beutezüge auch in Krankenhäusern, wo sich Maidan-Demonstranten wegen ihrer Verletzungen behandeln ließen, die sie sich bei den Auseinandersetzungen mit den Sondereinheiten der Polizei auf der Hruschewskyj-Straße zugezogen hatten. Aus dem Krankenhaus wurden der Aktivist Ihor Luzenko und der LembergerGelehrte und Reisende Juri Werbyckyj entführt. Mehrere Tage lang wurden sie in einem unbekannten Versteck im Wald bei Kiew gefoltert. Der von der Folter halb bewusstlose Luzenko wurde danach lebend aus einem Auto auf den Waldweg gestoßen und überlebte wie durch ein Wunder. Die entstellte Leiche Werbyckyjs wurde einige Tage später in eben jenem Wald aufgefunden.

Es wurde immer gefährlicher, in Kiew ein Krankenhaus aufzusuchen.  Dort lauerten Polizei und Banditen auf solche wie uns. In jenen Tag schrieb mir die hier schon einmal erwähnte Herta Müller: „Mich erinnert die Ermordung von Verletzten in den Kliniken an das Ende der Ceausescu -Diktatur. In Temeswar wurden auch viele Oppositionelle im Krankenhaus erschossen. Offensichtlich hat sich diese russisch-sowjetische Praxis auch in der Ukraine gehalten.“ In meiner Antwort bemerkte ich, dass sich alles erhalten hat, und dass wir unseren Präsidenten schon seit geraumer Zeit nur noch „Januschescu“ nennen.

Ja, es war eine entsetzliche repressive Maschinerie, deren Motor in Moskau saß. Es ist traurig und schrecklich, aber unmöglich zu verschweigen – 29 Teilnehmer des EuroMaidan sind bis heute verschollen. Ohne Zweifel sind sie nicht mehr am Leben. Wo aber befinden sich ihre Leichen – verscharrt, verbrannt, irgendwie anders vernichtet? Was bleibt ist der Glaube, dass alles Geheime einmal ans Licht kommt und keine Untat ungesühnt bleibt.

In Zusammenhang mit der soeben beschriebenen Atmosphäre konsequenter Einschüchterung, Verfolgung und praktisch pausenloser Eskalation durch die damalige Staatsmacht sticht ein weiterer Aspekt hervor – das Problem der Rechten. Es gibt sie tatsächlich. Während der revolutionären Ereignisse auf dem Maidan wurde der „Rechte Sektor“ immer häufiger erwähnt. Er war Realität, kein Fake. Fake ist jedoch sein antisemitischer oder neofaschistischer Charakter. Als die Spezialkräfte der Polizei, denen die Straflosigkeit zu Kopf gestiegen war, im Januar des Jahres massenhaft zu foltern und zu erniedrigen begannen, als sie gezielt auf Frauen, Ärzte und Journalisten schossen, als die Auseinandersetzungen auf der Hruschewskyj-Straße wirklich bitter wurden vom Feuer und Rauch der brennenden Reifen, reichten die Kiewer Juden, wie alle anderen Kiewer, dem „Rechten Sektor“ Molotow-Cocktails und Pflastersteine. Die Kiewer Rechten verteidigten die Kiewer Juden vor den Verbrechern in Polizeiuniform – was soll daran verwunderlich sein? Meiner Ansicht nach gar nichts, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, dass der Maidan so verschiedene gesellschaftliche Schichten, ethnische Gemeinschaften, sprachliche und weltanschauliche Gruppen vereinte, dass er die gesamte Ukraine abbildete in ihrer heutigen Kompliziertheit und Widersprüchlichkeit. Keine einzelnen Regionen, nicht etwa irgend welche „Nationalisten“, sondern die ganze komplizierte und dramatisch zerschnittene soziale Struktur des Landes mit seinen Studenten, Bauern, Intellektuellen, Ultras, Anarchisten, mit seiner noch existierenden Arbeiterklasse, seinen Unternehmern, Afghanistan-Veteranen und Ex-Zachal-Offizieren, mit seinen fantastisch mutigen Frauen und allen anderen, den Ukrainisch- und den Russischsprachigen. Sogar die Krishna-Anhänger – diesen Anblick werde ich nie vergessen – kamen mit Baseball-Schlägern zu uns auf den Maidan, um ihre Nächsten zu verteidigen, wie es Krishna Ardshuna gelehrt hatte.

Meine ausländischen Bekannten zweifeln. Zweifeln ist ein völlig positiver Charakterzug des echten Europäers. Als echte Europäer zweifeln also auch meine Bekannten. Sie fragen, ob es denn überhaupt möglich sei, dass das Gute nur auf einer Seite sei und das Böse auf der anderen. Ob nicht die Wahrheit irgendwo dazwischen liege?

Ich verstehe: Sie wollen nicht nur dem Kreml, sondern auch seinen Marionetten-„Separatisten“ die Chance geben, nicht das absolut Böse zu sein. Das postmoderne Bewusstsein fordert den Konflikt auszublenden und negiert alles Schwarz-Weiße. „Militär-Feld-Richter“, Todesstrafe und Folter sind meinen Bekannten zu wenig. Sie suchen Schuldige auf beiden Seiten des Konflikts. Genau für solche Fälle existiert das wunderbare deutsche Wort „Ausgewogenheit“.

Putin kennt die Europäer, und er kennt diese Besonderheiten des europäischen ausgewogenen Denkens. Darum die schon erwähnte Schiedsrichter-Rolle. Ich erlaube mir noch einmal, aus seinem Interview fürs deutsche Fernsehen zu zitieren: „Ich sage Ihnen ganz offen, es ist kein Geheimnis, die Menschen, die gegen die ukrainische Armee kämpfen, sagen: „Das sind unsere Dörfer, wir stammen von hier. Hier wohnen unsere Familien, unsere Freunde und Verwandten. Wenn wir abziehen, kommen die nationalistischen Bataillone und bringen alle um. Wir ziehen nicht ab, da müsstet schon ihr selbst uns umbringen“. Und weiter, wie es einem gerechten Schiedsrichter gebührt: „Natürlich versuchen wir, sie zu überzeugen, wir reden mit ihnen, aber wenn sie solche Dinge sagen, dann, verstehen sie, gehen uns die Argumente aus“.

Aber was weiß Putin wirklich über diese Menschen und diese Dörfer? Mit wem spricht er eigentlich, und auf wen, außer Professor Dugin, hört er?

Das ist kein Bürgerkrieg, kein Krieg eines Teils der Ukrainer gegen einen anderen, noch weniger ist es ein Krieg des „russisch-sprachigen Ostens“ gegen den „ukrainisch-sprachigen Westen“. Das Recht auf Muttersprache, wenn es gefährdet ist, verteidigt man mit dem Intellekt, nicht mit dem Gewehr. Sogar in der angeblichen „Hochburg der Separatisten“, Donezk, kamen noch im April zu proukrainischen Demonstrationen mehr Leute zusammen als zu „separatistischen“. Heute allerdings sind die meisten dieser Menschen nicht mehr in Donezk – sie wurden gezwungen wegzufahren, zu verschwinden, umzukommen. Einige von ihnen wurden unter den zu Tode Gefolterten identifiziert. Andere werden noch identifiziert werden.

Das ist kein Bürgerkrieg. Es ist der nicht erklärte Krieg des Staates Russland gegen seinen Nachbarn, die souveräne Ukraine. Und weil er noch nicht erklärt ist, wird er bisher mit begrenzten Kräften geführt. Also bombardiert die russische Luftwaffe unsere Städte noch nicht, und von den „Mistral“, die Russland demnächst Frankreich abpressen und ins Schwarze Meer schicken wird, steigen noch keine Kampfhubschrauber auf. Es ist ein Krieg im Spezialoperations-Format, ein Krieg von Saboteuren und Sturmtruppen, paramilitärischen „Rekonstrukteuren“ und Banditen, aber auch banalen Söldnern und einer wenig zahlreichen, aber gut bewaffneten fünften Kolonne. Es ist ihr Krieg gegen alles Demokratische, Liberale, Europäische, Westliche. Die postrevolutionäre Ukraine wurde zum ersten Opfer dieser Aggression, aber auch – unerwartet für den Aggressor – zum ersten ernsthaften Hindernis auf seinem Weg. Nicht nur, dass sie ihre Verteidigungslinie hält -  sie wäre auch längst mit diesem „Bürgerkrieg“ fertig geworden, wenn der Präsident des Nachbarlandes nur endlich aufhören wollte, die von ihm abhängigen „Aufständischen der Volksrepubliken“ mit Panzern, „Tornados“ und „Hurrikans“ zu versorgen, sowie mit regulären Armeeeinheiten.

Wie kann er gezwungen werden, damit aufzuhören?

Diese Frage, genauer: die gemeinsame Suche nach einer Antwort sollte heute Ukrainer und Europäer einen. Unterstützen Sie die Ukraine – nicht nur sie ist heute in Gefahr. Und nicht nur die Baltischen Staaten, Polen oder Rumänien. Wir haben einen außergewöhnlich kleinen und, ehrlich gesagt, außergewöhnlich brüchigen und sensiblen Kontinent. Er glaubte, so wunderbar für seine Sicherheit gesorgt zu haben, in diesem Bereich so viel erreicht zu haben. Aber es genügt eine einzige Person im Kreml und alles erzittert und erbebt.

In der Ukraine hat Europa gewonnen. Aber es wird vielleicht in Europa selbst verlieren – wenn Europa sich von sich selbst lossagt und sich durch eine Mauer von Unverständnis und Gleichgültigkeit von der Ukraine abschottet. Unser Land sollte vom Westen gerade jetzt als ein Teil Mitteleuropa betrachtet werden, als ein Vorposten des Westens, der heute nicht nur die eigene Freiheit und seine europäische Zukunft verteidigt, sondern auch die westlichen liberalen Werte überhaupt.

Meinen Dank dafür, Laureat eines so bedeutenden Preises zu sein, verbinde ich mit der Hoffnung, dass wir – trotz allem - Verbündete sind, dass wir uns mit der Zeit immer besser verstehen, uns annähern werden und auf diese Weise, um eines der Vorbilder meiner Jugend zu zitieren, dem Frieden eine Chance geben.

 

 

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